Book recommendations of the IDM Team

Von Odesa nach Wien

IDM Short Insights 19: Snap elections in Italy – what does it mean for CEE?

On the 25th of September Italy is heading to snap elections. Mario Draghi was forced to resign against the impossibility to pursue a common project of government with the parties of the majority. The real winner of this political diatribe is the national-conservative party, Brothers of Italy (Fratelli d’Italia) led by Giorgia Meloni, who will run at the elections together with the League of Matteo Salvini and Forza Italia of Silvio Berlusconi. What are the implications of the elections for the CEE, the EU and Europe?

The latest speculations appeared on Italian media argue that Russia might be behind the fall of the government led by the former ECB President. Regardless of the truthfulness of this information, Salvini and Berlusconi have never fully supported the line pursued by the EU when it comes to the war in Ukraine. While the electoral campaign is about to start, Brussels must be ready to face another earthquake against its democratic foundations.

Endlich frei von Ideologie werden!

Polen machte 2019 mit der Ausrufung sogenannter »LGBT-freier Zonen« internationale Schlagzeilen. MALWINA TALIK berichtet von lokalen Aktionen und Strategien gegen die homophobe Politik.

Polen wurde 2019 zum Schauplatz einer beunruhigenden Entwicklung: Viele Gemeinden, Landkreise und Woiwodschaften (polnisches Pendant der Bundesländer) erklärten sich binnen kurzer Zeit zu »LGBT-(ideologie)freien Zonen« oder schlossen ähnliche homophobe Resolutionen ab. Es ist die Folge eines langandauernden Kulturkampfes, der in Polen seit die PiS-Partei 2015 an die Macht kam, zugenommen hat. Der unmittelbare Auslöser war jedoch eine scheinbar unauffällige und an sich positive Entscheidung des progressiven Warschauer Bürgermeisters Rafał Trzaskowski. Dieser unterzeichnete eine »Erklärung zur Unterstützung von LGBT-Rechten«. Auf Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation sollten queere Themen in den Sexualunterricht (in Polen heißt dieser »Erziehung zum Familienleben«) an Warschauer Schulen aufgenommen werden. Zwar lehnten die nationalkonservativen RegierungspolitikerInnen diesen Schritt mit dem Argument der vermeintlichen »Sexualisierung von Kindern« ab, es waren aber die Behörden auf lokaler Ebene im konservativen Süden und Osten des Landes, die konkrete Maßnahmen dagegen ergriffen. Im März 2019 deklarierten sich erste Ortschaften als »LGBT-frei«. Bald befand sich rund ein Drittel Polens in den selbsternannten Zonen. Die nationalkonservative Zeitung »Gazeta Polska« gab sogar einen »LGBT-freie Zone«- Aufkleber gratis zu einer ihrer Ausgaben hinzu. Die Resolutionen hatten zwar keine rechtliche Wirkung, sie sendeten allerdings ein klares Signal: Wer nicht nach dem traditionellen Familienbild lebt oder diesen Werten folgt, hat hier nichts verloren. Für queere Menschen wurde damit eine weitere rote Linie überschritten. Seit Jahren wandern Betroffene aus Polen aus. Wer bleibt, findet unterschiedliche Wege, um der Homophobie die Stirn zu bieten.

Vorwurf der Ideologie

Um die homophoben »Zonen« sichtbar zu machen, erstellte eine Gruppe von AktivistInnen aus dem ostpolnischen Rzeszów die digitale Landkarte »Atlas des Hasses«. Sie zeigt wo entsprechende Resolutionen verabschiedet, abgelehnt oder in Betracht gezogen wurden. Die InitiatorInnen informieren ebenso darüber, welche Maßnahmen die BürgerInnen ergreifen können, falls ihre Gemeinde so eine Resolution plant. Auch der aus dem ostpolnischen Lublin stammende Aktivist Bart Staszewski machte auf das Ausmaß der »Zonen« mit einer Aktion aufmerksam. Er reiste zu den betroffenen Orten und hing selbstgemachte Schilder mit der Inschrift »LGBT-freie Zone« auf Polnisch, Englisch, Französisch und Russisch an die jeweiligen Ortstafeln. Dann machte er Fotos von Betroffenen vor dem Schild. Seine Protestaktion erhielt bald internationale Aufmerksamkeit. Das Time Magazine setzte Staszewski auf die Liste der »Emerging Leaders« und die Obama Foundation lud ihn zu ihrem Europe-LeadersProgramm ein. Dadurch machte Staszewski verstärkt auf die Homophobie in Polen aufmerksam. Die Gemeinden rechneten nicht mit dem großen Interesse und der internationalen Empörung. Manche zogen die Beschlüsse zurück, andere zeigten AktivistInnen wie Staszewski oder die AutorInnen des Atlas wegen vermeintlicher Verleumdung an. Abgeordnete beteuerten immer öfter, dass sie eigentlich nichts gegen queere Menschen hätten, sondern gegen die sogenannte »LGBT-Ideologie«. Was genau hinter diesem Begriff stecken soll, ist aber unklar. Rechtliche Unterstützung kommt von Ordo Iuris, einer ultrakonservativen Vereinigung. Sie stellte auch eine Muster-Resolution, die sogenannte »Familien-Charta« zur Verfügung, die die Ehe zwischen Mann und Frau durch queeren Sexualunterricht
an Schulen als gefährdet propagiert.

Glaube unter dem Regenbogen

Die katholische Kirche in Polen positioniert sich eindeutig gegen LGBTQIA+ und verbreitet diese Haltung während Predigten und über eigene Medien. Sie setzt sich auch für sogenannte »Konversionstherapien« ein, die Homosexualität als heilbare Krankheit verstehen. Solchen Praktiken fehlt jedoch jede wissenschaftliche Basis, die Bezeichnung Therapie ist somit irreführend. Das offenbart ihren rein ideologischen Charakter. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Kirche Einfluss auf die nationalkonservative PiS-Regierung ausübt und dadurch auf das regierungstreue öffentliche Fernsehen. Marek Jędraszewski, Erzbischof von Krakau und stellvertretender Vorsitzender der Polnischen Bischofskonferenz, bezeichnete die LGBTQIA+ Community als »neue Seuche in den Farben des Regenbogens«. Unter den Kirchenvertretern ist er mit Aussagen wie dieser nicht allein. Die Ausgrenzung betrifft insbesondere queere Gläubige. Für sie bietet seit einigen Jahren die außerkirchliche Gruppe »Glaube und Regenbogen« in sechs polnischen Großstädten Unterstützungsleistungen an. Neben lokalen Treffen berät die Gruppe auch Betroffene und Angehörige und organisiert Kampagnen, an denen sich auch liberale christliche Medien beteiligen.

Kunst für Nächstenliebe

Da die katholische Kirche als Motor der Homophobie in Polen betrachtet wird, stehen religiöse Symbole oft im Zentrum des Protests. So verpassten drei AktivistInnen der stark verehrten Madonna von Częstochowa durch digitale Bildbearbeitung einen Heiligenschein in den Farben des Regenbogens (Cover). Die Plakate klebten sie in der Nähe von Kirchen auf. Die Botschaft: Maria würde ihren Sohn, auch wenn er queer wäre, akzeptieren. Die AktivistInnen wurden 2019 wegen Beleidigung religiöser Gefühle angeklagt, eine von ihnen temporär verhaftet und vor kurzem freigesprochen. Die »Regenbogen-Madonna« wurde so auch international bekannt. Eine andere Aktion kam von dem schwulen Künstler Daniel Rycharski. Seine Werke handeln von Homosexualität und Glaube. Er kehrte nach Jahren in Krakau wieder in sein Heimatdorf Kurow zurück, um dort mithilfe von Kunst auf die Ausgrenzung der LGBTQIA+ Community aufmerksam zu machen. Unter anderem stellte er Kreuze auf, auf denen Kleidung queerer Menschen hing. Wie Vogelscheuchen würde ihre sexuelle Orientierung und Geschlechts-identität die Leute abschrecken. Seine Ausstellung »Alle unsere Ängste«, die im Museum für Moderne Kunst in Warschau präsentiert wurde, thematisiert die Frage, wie man ChristIn bleiben kann, wenn die eigene Kirche einen ablehnt. Die öffentlichkeitswirksame Ausstellung führte dazu, dass der Kulturminister eine Rechtfertigung von der Direktorin des Museums verlangte.

Druckmittel im Lokalen

LokalpolitikerInnen sind den BürgerInnen oft näher als RegierungspolitikerInnen und können auch leichter konfrontiert werden. Durch die homophoben Resolutionen fühlten sich viele Betroffene in den Gemeinden ausgegrenzt. Piotr aus Südpolen (Name geändert) erklärt, dass sich daraufhin einige outeten und die LokalpolitikerInnen mit der Frage konfrontierten, warum sie stigmatisiert werden. Dieser persönliche Kontakt bewirkte in vielen Fällen eine Änderung. Schließlich zogen viele Gemeinden die homophoben Beschlüsse zurück. In mehreren Fällen wurden die Resolutionen durch Gerichtsurteile aufgehoben, dasselbe Schicksal teilten die »LGBT-freie Zone«-Aufkleber, die verboten wurden. Sowohl direkte lokale Initiativen als auch internationales Aufsehen führten dies herbei. Die Kritik der EU-Kommission und die Aussetzung der Zusammenarbeit durch westeuropäische Partnerstädte zwangen Gemeinden, ihre Beschlüsse neu zu überdenken. Sie mussten auch mit der Streichung von Fördergeldern rechnen. Für viele regionale Abgeordnete war der Druck zu groß. »Die Politik versucht die Welt schwarz und weiß darzustellen, sie hat aber alle Farben des Regenbogens«, sagt Piotr. Wie viele andere queere Menschen wartet er darauf, dass sich Polen von der einzig schädlichen Ideologie befreit: jener des Nationalismus, der Diskriminierung und des Hasses.

LGBTQIA+ steht für Lesbisch, Schwul (gay), Bisexuell, Trans, Queer, Intersex, Asexuell. Der Begriff beschreibt sexuelle Orientierungen und Geschlechtsidentitäten. Das + soll weitere Orientierungen und Identitäten entlang des Spektrums inkludieren.

 

Autorin: Malwina Talik

 

»Die Schlacht ist noch lange nicht gewonnen«

Gemeinsam mit seinen Kollegen aus Warschau, Prag und Budapest gründete Bratislavas Bürgermeister Matúš Vallo 2019 den Pakt der Freien Städte – mit dem Ziel, sich anti-demokratischen Tendenzen in der Region entgegenzustellen. Der Ukraine-Krieg zeige, wie falsch Viktor Orbáns illiberale Politik sei, so Vallo im IDM-Interview. DANIELA APAYDIN hat mit ihm über die Veränderungskraft von Städten und ihren Allianzen gesprochen.

Mit einiger Verspätung schaltet sich Matúš Vallo zu unserem Zoom-Call hinzu. Er wirkt geschäftig, entschuldigt sich für die Wartezeit. Interviewanfragen von österreichischen Medien seien eher selten, an internationaler Aufmerksamkeit mangele es aber nicht, heißt es aus dem Pressebüro. Vallo spricht fließend Englisch. Er hat in Rom Architektur studiert, in London gearbeitet und erhielt ein Fulbright-Stipendium an der Columbia University in New York. Als politischer Quereinsteiger wurde er 2018 zum Bürgermeister von Bratislava gewählt. Im Herbst kämpft der 44-Jährige um die Wiederwahl zum Bürgermeister.

Herr Vallo, der US-amerikanische Politikberater Benjamin Barber argumentiert in seinem Buch »If Mayors Ruled the World« (2013), dass BürgermeisterInnen wirksamer auf transnationale Probleme reagieren als nationale Regierungen. Manche sprechen in diesem Zusammenhang von einer »lokalen Wende« des Regierens und Verwaltens. Leisten Städte und BürgermeisterInnen wirklich bessere Arbeit?

Ich kenne das Buch, und ich glaube an dieses Narrativ. Wir haben in den letzten Jahren erlebt, wie Regierungen den Kontakt zu ihrer Basis verloren haben. Als Bürgermeister kann ich diesen Kontakt nicht verlieren, selbst wenn ich das wollte. Alle guten BürgermeisterInnen, die ich kenne, gehen gern durch ihre Stadt und treffen Menschen. Manchmal halten sie dich an und erzählen dir von einem Problem. Als BürgermeisterIn bist du ein Teil der Gemeinschaft. Du kannst nicht nur leere Versprechungen geben. Du musst Ergebnisse vorweisen können. Städte sind auch flexibler und ergebnisorientierter als nationale Regierungen. BürgermeisterInnen sorgen für die Qualität des öffentlichen Raums. So ist zum Beispiel die Anzahl der Spielplätze in einem Bezirk sehr wichtig. Das klingt simpel, aber der öffentliche Raum ist ein Schlüsselelement dafür, wie die Menschen ihr Leben gestalten.

Sie sind einer von vier Bürgermeistern, die den Pakt der Freien Städte (englisch: Pact of free Cities) unterzeichneten. Damit positionierten Sie sich gemeinsam mit Budapest, Prag und Warschau als pro-europäisches und anti-autoritäres Städtebündnis. Mit welchen Absichten sind Sie dieser Allianz damals beigetreten und wie würden Sie deren Erfolge heute bewerten?

Der Pakt wurde als ein Bündnis der VisegradHauptstädte geschlossen, um ein Gegengewicht zu den antidemokratischen und illiberalen Kräften zu bilden. Wir sind durch unsere Werte verbunden. Wir wollen den Populismus bekämpfen, Transparenz fördern und bei gemeinsamen Themen wie der Klimakrise zusammenarbeiten. Natürlich gab es schon vorher Bündnisse zu verschiedenen Themen, aber dies ist vielleicht das erste Mal, dass diese Werte im Mittelpunkt stehen.

Der Pakt der Freien Städte wurde am 16. Dezember 2019 an der Central European University in Budapest unterzeichnet. Wenig später mussten die meisten Abteilungen der Universität aufgrund politischer Repressionen nach Österreich umziehen. Erst kürzlich wurde Viktor Orbáns nationalkonservative Fidesz-Partei wiedergewählt. Ist der von Orbán propagierte Illiberalismus wieder auf dem Vormarsch? Wie reagieren die BürgermeisterInnen des Paktes darauf und wie unterstützen Sie sich gegenseitig?

Der Illiberalismus ist auf dem Vormarsch, einige führende PolitikerInnen konnten zurückschlagen, aber die Schlacht ist noch lange nicht gewonnen. Der jüngste Sieg von Viktor Orbán ist ein Beweis dafür. Wir sehen, dass die illiberale Demokratie bestimmten Gruppen oder einzelnen BürgerInnen Vorteile verschafft. Wir sehen aber auch, dass die Situation in der Tschechischen Republik anders ist und dass in Polen bald Wahlen stattfinden werden. Warschaus Bürgermeister, Rafał Trzaskowski, ist eine große Hoffnung für uns alle. Auch in der Slowakei haben wir eine pro-europäische Regierung und ich freue mich darüber, wie sie die Dinge regelt, um der Ukraine zu helfen. Von dort, wo ich jetzt sitze, sind es nur sechs Autostunden bis zur ukrainischen Grenze. Dieser Krieg zeigt auch, dass Orbán im Unrecht ist. Seine Unterstützung für Russland bedeutet auch die Unterstützung eines Regimes, das unschuldige Menschen tötet. Wo sehen Sie die konkreten Vorteile in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zwischen BürgermeisterInnen und Städten? Da gibt es zwei Ebenen: Erstens geht es darum, miteinander zu reden. Bratislava ist die kleinste Stadt unter den Gründungsmitgliedern. Daher waren wir sehr froh, als wir in den ersten Wochen des Ukraine-Krieges die Bürgermeister von Warschau und Prag um Know-how und Ratschläge bitten konnten. Ich bin nach Warschau geflogen und habe mich mit dem Bürgermeister darüber beraten, wie sich die Stadt darauf vorbereitet. Der Pakt bietet eine sehr konkrete und direkte Möglichkeit, Wissen auszutauschen. Die zweite Ebene ist die Bildung eines Bündnisses von BürgermeisterInnen mit den gleichen Werten, die auch bereit sind, auf europäischer Ebene für diese Werte zu kämpfen. Durch die Pandemieerfahrung ist die Position der Städte noch stärker als zuvor. Ich glaube, dass in vielen Ländern die Städte und ihre BürgermeisterInnen die Situation gut meisterten. Die Menschen nehmen die Städte als ihre Partner wahr. Deshalb ist es wichtig, die Kräfte zu bündeln und mit einer klaren Stimme zu sprechen.

© patri via Unsplash

In Medienberichten wurden die Gründungsmitglieder des Pakts auch als »liberale Inseln in einem illiberalen Ozean« dargestellt. Diese Metapher birgt jedoch die Gefahr, bereits bestehende Gräben zwischen der urbanen, oft liberaler eingestellten, Bevölkerung und konservativeren BürgerInnen in ländlichen Gebieten zu vertiefen.

Ich verwende diese Metapher nie, und ich versuche auch nicht, diese Spaltung vorzunehmen. Ich bin mir über meine Werte im Klaren, aber als Bürgermeister setze ich mich für Dinge ein, die allen zugutekommen, etwa Spielplätze oder bessere öffentliche Verkehrsmittel. Das ist keine Frage von konservativen oder liberalen Werten. Wir haben Prides in Bratislava, aber wir unterstützen auch die OrganisatorInnen eines großen Treffens der christlichen Jugend. Ich arbeite mit konservativen und liberalen KollegInnen zusammen. Ich weiß, dass das schwierig sein kann, aber wir versuchen, die Menschen zu verbinden. Einige PolitikerInnen nutzen die Spaltung aus, weil sie wollen, dass sich die Menschen streiten, aber ich möchte lieber für eine gute Lebensqualität arbeiten.

Wenn Sie sich von der nationalen Regierung etwas wünschen könnten, das die Städte stärken würde, was wäre das?

Unser Verhältnis zur slowakischen Regierung ist nicht ideal. Auch nach COVID sieht man uns nicht als Partner. Wir brauchen klare Regeln und mehr Finanzmittel, denn im Vergleich zu anderen europäischen Städten sind wir sehr unterfinanziert.

 

Interview mit Daniela Apaydin und Matúš Vallo. Matúš Vallo ist ein slowakischer Politiker, Architekt, Stadtaktivist, Musiker und Bürgermeister von Bratislava. 2018 wurde er als unabhängiger Kandidat mit 36,5 Prozent der Stimmen an die Spitze der slowakischen Hauptstadt gewählt. 2021 zeichnete ihn der internationale Thinktank City Mayors mit dem World Mayor Future Award aus.

Zuerst Widerstand, dann Wahlkampf

Grünparteien hatten es in Serbien bisher schwer. Doch im ganzen Land finden sich zunehmend Protestbewegungen gegen Naturzerstörung. 13 Abgeordnete der linksgrünen Liste MORAMO bringen nun den Protest von der Straße ins Parlament. Mit einer von ihnen, BILJANA ĐORĐEVIĆ, sprach MELANIE JAINDL über Serbiens Chancen auf Veränderung.

An einem grauen Jännertag läuft ein Mann mit erhobenen Händen auf die Belgrader Stadtautobahn. In der letzten Sekunde weichen heranrasende Fahrzeuge aus. Sie werden die letzten sein, die in der kommenden Stunde vorankommen – die lauten Trillerpfeifen verraten, es folgen ihm noch Tausende. Auf ihren Schildern steht: »Serbien steht nicht zum Verkauf« und »Wir geben Jadar nicht auf« (Ne damo Jadar). Letzteres bezieht sich auf das westserbische Jadar-Tal, in dem der britisch-australische Bergbaukonzern Rio Tinto Lithium abbauen will. Nach wochenlangen Protesten zum Jahreswechsel entzog die serbische Regierung Rio Tinto die Lizenz. Schon davor entlud sich die Unzufriedenheit mit Serbiens politischer Entwicklung auf der Straße. Der skandierte Spruch »Ne damo« (Wir geben nicht auf) ist dabei immer wieder zu hören. Bereits 2014 organisierten sich DemonstrantInnen in Belgrad unter der Initiative Ne Da(vi)mo Beograd (NdB), die in den darauffolgenden Jahren zahlreiche AnhängerInnen fand. Unter dem Wortspiel »Wir lassen Belgrad nicht ertrinken/Wir geben Belgrad nicht auf« setzte sich NdB gegen die Gentrifizierung des Stadtteils Savamala und die Privatisierung des Flussufers ein – ohne Erfolg. Mittlerweile stehen die ersten Wolkenkratzer der abu-dhabischen Firma Eagle Hills am Ufer der Save. Hier entsteht ein luxuriöser neuer Bezirk, die Belgrade Waterfront. Beide Protestbewegungen – sowohl gegen Rio Tinto als auch gegen Waterfront – haben ähnliche Forderungen. Sie sind gegen ausländische Finanzspekulationen, gegen Enteignung der lokalen Bevölkerung und für Umweltschutz. Mit Biljana Đorđević haben die Demonstrierenden nun eine Stimme im serbischen Parlament.

Akademikerin, Aktivistin und bald Abgeordnete

Biljana Đorđević ist Dozentin an der Politikwissenschaftlichen Fakultät der Universität Belgrad und wurde 2022 in die parlamentarische Versammlung Serbiens gewählt. Sie war Spitzenkandidatin auf der nationalen Liste der grün-linken Oppositionskoalition MORAMO (Wir müssen), zu der neben zwei weiteren Organisationen auch NdB gehört. »Anfänglich war ich nur Sympathisantin der Initiative und ging auf Proteste«, sagt Đorđević im Interview mit Info Europa. Immer öfter besuchte sie Vernetzungstreffen der Gruppe, bis sie jeden Tag dort war. Schließlich wurde sie zur politischen Koordinatorin von NdB. »2018 kam der Entschluss, bei den Belgrader Kommunalwahlen anzutreten«, erzählt Đorđević über ihre Anfänge in der Politik. Durch den Einzug ins Stadtparlament erhoffte sich die Initiative einen besseren Zugang zu Informationen, um BewohnerInnen schon im Vorfeld über Bauvorhaben wie Waterfront informieren und dagegen mobilisieren zu können. »In einer funktionierenden Demokratie könnten wir für immer AktivistInnen bleiben, weil die Regierung auf Forderungen von Massenprotesten eingehen muss.« In Serbien geschehe das meistens nur vor Wahlen, wie der Fall Rio Tinto im Frühjahr 2022 zeige. Die NdB-AktivistInnen sahen also nur über die Kandidatur bei Wahlen einen Weg zur Veränderung.

2018 scheiterte NdB an der Fünfprozenthürde für den Einzug ins Stadtparlament. Bei den jüngsten Wahlen vom 3. April 2022 erreichte die Initiative mit ihren KoalitionspartnerInnen allerdings knapp elf Prozent. Gleichzeitig mit den Belgrader Kommunalwahlen wurden auch die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen abgehalten. »Dass alle Wahlen am gleichen Tag stattfanden, hatte das Ziel, die BelgradWahl zu überschatten«, ist Đorđević überzeugt. In der Hauptstadt hätte die Opposition die größte Chance einen Regierungswechsel herbeizuführen. Um im Wahlkampfchaos nicht unterzugehen, entschied sich MORAMO deswegen bei allen Wahlen anzutreten. Auch wenn wenig Zeit blieb, um eine nationale Liste zusammenzustellen, schaffte MORAMO mit knapp fünf Prozent der Stimmen den Einzug in die serbische Nationalversammlung (Stand:20. Juni 2022). Eine von voraussichtlich 13 MORAMO-Abgeordneten ist Biljana Đorđević. »Obwohl wir hauptsächlich als Grüne wahrgenommen wurden, ist ein wichtiger Teil unseres Programmes linke Politik. Ich will mich für gute Bildung, ArbeitnehmerInnenrechte und Geschlechtergerechtigkeit einsetzen.«

Auch Dorf kann Demo

Die Massenproteste der vergangenen Jahre konzentrierten sich in urbanen Zentren. Zu den Rio-TintoDemos kamen jedoch Menschen aus ganz Serbien, aus verschiedenen Gesellschaftsschichten und mit unterschiedlichsten politischen Einstellungen. Dabei sei es laut Đorđević um einiges schwerer, in kleinen Kommunen Opposition zu zeigen – egal ob aktivistisch oder politisch organisiert. »Die Leute fürchten Anfeindungen oder ihren Job zu verlieren.« Auch stünden weniger Ressourcen zur Verfügung. Und trotzdem finden sich immer wieder Beispiele lokalen Widerstands – sei es der Kleinbauer im südserbischen Rakita, der sich Baggern in den Weg stellte, um »seinen Fluss« vor dem Bau eines Kleinkraftwerks zu beschützen, oder die Großmutter aus Temska, die mit ihren Enkelinnen Gedichte über den Nationalpark Stara Planina vortrug. In den ländlichen Regionen gibt es einige dieser lokalen Initiativen gegen Naturzerstörung. Die BewohnerInnen fühlen sich mit ihrer Umwelt eng verbunden, die Kunst des Fischens im lokalen Fluss wird vom Großvater and den Vater weitergegeben, der es wiederum seinen Kindern beibringt. Ackerflächen werden über Generationen hinweg von derselben Familie bestellt. Laut der serbischen Statistikbehörde arbeiteten 2018 mehr als 1,3 Millionen Menschen in der Landwirtschaft, die meisten in kleinen Familienbetrieben. Gefürchtete Interventionen bedeuten nicht nur den Entzug der Lebensgrundlage, sondern auch das Aus für jahrzehntealte Lebensweisen.

Dies zeigt, Naturschutz mobilisiert die SerbInnen, auch weil entsprechende Maßnahmen bislang fehlen. Tatsächlich widmeten sich die meisten Proteste 2021 diesem Thema. Als Mitglied der grün-linken Koalition ist sich Đorđević daher auch sicher, dass sie bei den Wahlen besser abgeschnitten hätten, »hätten uns die regierungsnahen Medien nicht weitgehend ignoriert.« Auf der Weltrangliste der Pressefreiheit ist Serbien auf Platz 79 von 180 Ländern. Reporter Ohne Grenzen kritisiert vor allem die Einflussnahme der Regierung auf journalistische Berichterstattung und die damit einhergehende Hetze gegen regierungskritische Medien.

Trotz dieser Widrigkeiten kann man ein Umdenken beobachten, nicht nur in Serbien, sondern am ganzen Westbalkan. Lange hieß es, die Bevölkerung habe größere Probleme als Umweltverschmutzung: Arbeitsplatzsicherheit, Nachkriegsspannungen, Rechtsstaatlichkeit und nötige Adaptionen hinsichtlich des EU-Beitritts. Grünparteien verfügten bis vor kurzem über wenig bis keine politische Macht. Doch in Montenegro stellt die Grün-Bewegung United Reform Action (URA) seit April – in einer Minderheitsregierung – den Ministerpräsidenten. Ein grün-linker Bürgermeister regiert seit einem Jahr die kroatische Hauptstadt Zagreb. »Viele unserer Themen beziehen sich auf regionale Probleme«, erklärt Đorđević. Sie pflegt daher auch den Austausch mit ähnlichen Gruppen in den Nachbarländern.

Tatsächlich übersteigt die Luftverschmutzung in Ballungszentren am Balkan jegliche Richtwerte. Die Folgen sind tödlich. Daten des UN-Umweltprogrammes UNEP aus dem Jahr 2019 zufolge sterben jährlich 5000 Menschen aufgrund der schlechten Luft in der Region. Die dadurch dringend notwendige Abkehr von Kohlekraftwerken eröffnet jedoch andere Probleme: Denn die Länder Südosteuropas beheimaten auch die letzten freifließenden Gewässer in Europa. Für die nächsten Jahre sind auf dem Gebiet zwischen Slowenien und Griechenland rund 3000 Wasserkraftwerke geplant. UmweltschützerInnen kritisieren, dass der energetische Nutzen dieser Bauten dem ökologischen Schaden nicht gerecht werde. Sie setzten sich daher zunehmend für den Schutz des sogenannten »Blauen Herzens Europas« ein.

© Ne Da(vi)mo Beograd

Von der Peripherie ins Parlament

Umweltschäden wirken sich direkt auf die Lebensqualität der Menschen aus, weshalb grüne Politik für Đorđević auch automatisch links ist. Aus den Wahlergebnissen will sie für die Zukunft von NdB lernen. Dass sie in Belgrad vergleichsweise gut abschnitten, liege daran, dass sie dort seit Jahren BürgerInnenbeteiligung ermöglichen. »Die Probleme in Belgrad gibt es aber in allen serbischen Städten«, erklärt Đorđević. Der Plan lautet also, ein nationales Netzwerk aus lokalen Initiativen zu formieren, um somit gezielt die Probleme von Kommunen ins Parlament zu tragen. Dafür hat NdB beschlossen, eine Partei zu gründen.

Der Regierungswechsel »ist eine Bedingung, ohne die es unmöglich ist, voranzukommen und Serbien in einen gerechten Staat zu verwandeln«, heißt es in MORAMOs Wahlprogramm. Die Verfehlung dieses Ziels hinterlässt Đorđević dennoch optimistisch: »Die Regierungspartei hat viele Sitze im Parlament verloren und nun können dort wieder Debatten stattfinden.« Bei den Parlamentswahlen 2020 hatte ein Großteil der Opposition die Wahlen wegen unfairer Bedingungen boykottiert. Dadurch führte die Regierungspartei nur Selbstgespräche im Parlament, so Đorđević. Mit einem Lächeln fügt sie hinzu: »Vielleicht gelingt es uns ja beim nächsten Mal.« Bis dahin verfolgt sie weiterhin die Strategie von Protest und Parlamentarismus.

Interview mit Melanie Jaindl und Biljana Đorđević. Biljana Đorđević ist Politikwissenschafterin und unterrichtet an der Universität Belgrad. Sie ist Mitglied des Kleinen Rats der politischen Bewegung Ne Da(vi)mo Beograd und zieht nach den Wahlen 2022 als Abgeordnete in die serbische Nationalversammlung ein.