IDM Short Insights 18: Europe heaves a sigh of relief

French voters went to the ballot on 24 April 2022 and re-elected president Emmanuel Macron. Preserving international dialogue, Europe can heave a sight of relief despite the uncertainty of the upcoming parliamentary election. From France, IDM research associate Emma Hontebeyrie gives an overview of the situation.

IDM Short Insights 17: Impact of the War in Ukraine on Georgia

The ongoing War in Ukraine has had a massive spill-over effect on neighbouring parts of Europe. Among the countries affected has been Georgia. IDM Research Assistant Jack Gill, who recently spent time in Tbilisi, gives an overview of how Georgia has been affected.

 

Parliamentary Elections in Slovenia 2022

An online panel discussion organised by IDM in cooperation with the Political Academy and Karl Renner Institute

Welcome Address

Felix Ofner, International Secretary at the Political Academy of the Austrian People’s Party

 

Briefing on the current situation in Slovenia Marko Lovec, Associate Professor at the Centre of International Relations of the University of Ljubljana

 

Panel Discussion:

Primož Cirman, Journalist and Editor-in-chief at Necenzurirano.si, Ljubljana

Marko Lovec, Associate Professor at the Centre of International Relations of the University of Ljubljana

Tanja Porčnik, President of the Visio Institute, Maribor

 

Moderation:

Daniel Martínek, Research Associate at the Institute for the Danube Region and Central Europe (IDM)

Schön, wahr, streitbar?

Was heißt es für eine Gesellschaft, wenn alles an ihr nur mehr relativ erscheint? Wenn Trennlinien verschwimmen und Etabliertes in Frage steht? Der Politologe MICHAEL WIMMER kennt die österreichische Kulturlandschaft und schreibt über die Chancen und Gefahren in Zeiten des Umbruchs.

Als Heranwachsender in den 1950er und 1960er Jahren schien die Welt noch in Ordnung. Die zentralen Instanzen Familie, die Großparteien und der Staat samt seiner Vermittlungsagentur Schule, darüber hinaus die katholische Kirche und der Kulturbetrieb, gaben klare Weltbilder vor und verpflichteten zu verbindlichen Verhaltensregeln. Ich konnte damit nicht einverstanden sein und versuchte, dagegen aufzubegehren. Und doch lag über der gesamten Gesellschaft eine rigide Eindeutigkeit von richtig und falsch, gut und böse sowie schön und hässlich, der sich kaum jemand zu entziehen vermochte. Der Staat verfügte über die »richtige« Kultur, die durch Kultureinrichtungen repräsentiert wurde. AbweichlerInnen wurden mit Gesetzen sanktioniert, die dafür sorgen sollten, eine für alle verbindliche österreichische Kultur in der Bevölkerung durchzusetzen. Zu ihrer Verbreitung gab sich der Staat einen Erziehungsauftrag, der die »Kulturlosen« mit der staatlich verordneten Kultur vertraut machen sollte. Nicht zuletzt, um damit die Bemühungen zur nationalen Identitätsbildung zu unterstützen. Diese »Leitkultur« wurde erstmals in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre hinterfragt. Damals traten vor allem junge Menschen zunehmend öffentlichkeitswirksam auf den Plan, um sich dem staatlich verordneten Sog des einzig Richtigen, Wahren und Schönen entgegenzusetzen. Aus dem Geist der ausgegrenzten Subkulturen der 1960er Jahre erwuchsen nach und nach Alternativbewegungen, die Anspruch auf eine eigene Interpretation der Welt gegen jene des Establishments erhoben. So bildeten neue Kulturinitiativen den Nukleus der Infragestellung einer rückwärtsgewandten Kulturpolitik, die sich weigerte, von ihrem paternalistischen Selbstverständnis abzurücken und alles tat, um kultureller Selbstermächtigung entgegenzuwirken.

Monopole am Ende

Damit einher ging seit den 1980ern ein Diskurs, der die Künste als gemeinschaftsstiftender Faktor in Frage stellte. Beschrieb der italienische Philosoph und Schriftsteller Umberto Eco noch eine Tendenz in Richtung »offenes Kunstwerk«, so sprach der US-Amerikaner Arthur C. Danto gleich vom »Ende der Kunst«. Beide folgten der Entwicklung der Avantgarde des 20. Jahrhunderts, die in ihrem Kampf gegen die Hermetik des Kulturbetriebs die Auflösung des etablierten Kunstbegriffs immer weitertrieb. Am Ende landeten sie bei der Aussage, dass im Prinzip alles Kunst sein kann. Damit wurde eine gesicherte Trennlinie zwischen Kunst und NichtKunst eliminiert, was bei Nichteingeweihten für Ratlosigkeit sorgte. Ähnliches trifft auf den Wissenschaftsbetrieb zu. Eine der Ursachen für seine tendenzielle Entwertung liegt darin, dass – wie in den Künsten – schon lange vor der Pandemie ein Relativierungsprozess einsetzte. Wissenschaft verlor das aufklärerische Interpretationsmonopol der Welt. Verblüfft stellen wir aktuell fest, dass selbst Hochgebildete rationale Erkenntnis auf die gleiche Stufe der Weltwahrnehmung stellen wie irrationalen Glauben. Das macht deutlich, dass das Pendel der Rationalität immer mehr zur Emotionalität ausschlägt. Auch die Medien unterliegen einem Transformationsprozess. Sie verloren ihre Stellung als VermittlerInnen einer konsistenten, auf soliden Recherchen basierenden Weltsicht. Als sensationsgeile AkteurInnen am hart umkämpften Medienmarkt büßten sie viel an Glaubwürdigkeit ein. Die Repräsentation von Öffentlichkeit traten sie an die – jedenfalls vordergründig – stärker auf Mitwirkung und Interaktion angelegten Sozialen Medien ab. In ihnen geben nicht mehr Fachleute die Inhalte vor. Alle können mitreden, Informationen weitergeben, Meinungen kundtun und zu Aktivismus aufrufen. Soziale Medien sind vielleicht die überzeugendste Ausdrucksform dafür, dass der Staat und seine Agenturen das Monopol der Weltinterpretation verloren haben. An ihre Stelle treten die BürgerInnen selbst, die Wahrheit, Schönheit und Richtigkeit kreieren bzw. sich in temporären Allianzen denen anschließen, die mit ihnen auf einer Wellenlänge zu sein scheinen.

Kultur auf neuen Bahnen

In all diesen Auflösungserscheinungen samt ihren zum Teil gefährlichen, zum Teil hilflosen Gegenreaktionen, platzt aktuell die nunmehr bereits zwei Jahre währende Pandemie als die wahrscheinlich größte gesellschaftliche Herausforderung nach dem Zweiten Weltkrieg. Spätestens die Auswirkungen der Pandemie haben gezeigt, dass nicht nur in Österreich eine tiefsitzende Verunsicherung entsteht. Diese speist sich einerseits aus der wachsenden und irgendwann nicht mehr aushaltbaren Komplexität der Lebenswelten und andererseits aus dem gebrochenen Versprechen des sozialen Aufstiegs durch Leistung und dem damit verbundenen Zusammenbruch des solidarischen Zusammenhalts. Der deutsche Soziologe Armin Nassehi spricht von einer »überforderten Gesellschaft«. Ein massenhaftes Aufbegehren gegen die herrschenden Verhältnisse, aus den verschiedensten Ecken, scheint nur zu logisch. Die frustrierten SkeptikerInnen, bei denen sich ein langjähriger Hass gegen Politik, Wissenschaft, Medizin, Medien, gegen Bildungseinrichtungen und auch gegen die Arroganz des Kulturbetriebs aufgestaut hat, finden endlich ein Ventil und schließen sich zu einer, wenn auch unheiligen, Allianz zusammen. Auch wenn die Bekämpfung der Pandemie im Moment alles andere überstrahlt, so lässt sich das wachsende Heer derer, die mittlerweile fast täglich gegen die Maßnahmen der Regierung demonstrieren, in zwei Richtungen lesen. Einerseits als Rückfall in kollektiven Irrationalismus und andererseits als gesellschaftlicher Emanzipationsprozess, der sich auf die Suche nach machbaren Zukunftsszenarien macht. Geht es nach den Erwartungen vieler junger Menschen, dann stehen wir heute vor der Aufgabe, Politik neu zu denken. Das Erproben von Mitbestimmungsmodellen wie BürgerInnenbeteiligung, neue Governance-Strukturen oder BürgerInnenräten steht für diesen durchaus optimistisch machenden Trend. Voraussetzung dafür ist die Wiederherstellung von Öffentlichkeit bzw. von öffentlichen Räumen, in denen Menschen ganz unterschiedlicher Hintergründe aufeinandertreffen, sich austauschen, verhandeln und Kompromisse schließen. Dem Kulturbetrieb könnte dabei eine wichtige Aufgabe zukommen. In Zeiten der Pandemie sehen wir vor allem die Zentrifugalkräfte am Werk. Die mindestens ebenso wirksamen Zentripetalkräfte werden unterschätzt. Und doch sind sie es, die bei der Deutungshoheit für ein besseres Morgen entscheidend sein werden. Eine solche, so lernen wir aus der Geschichte des Emanzipationsprozesses der letzten 50 Jahre, will nicht mehr als sakrosankt vorgegeben werden. In einer streitbaren Zivilgesellschaft muss diese von uns allen täglich neu erkämpft werden.

 

Dr. Michael Wimmer ist Gründer und Direktor von EDUCULT, Vorstand des Österreichischen Kulturservice (ÖKS), Musikerzieher und Politikwissenschaftler. Er doziert an der Universität für angewandte Kunst Wien und arbeitet als Lehrbeauftragter am Institut für Kulturmanagement und Gender Studies der Universität für darstellende Kunst Wien sowie am Institut für Lehrer*innenBildung der Universität Wien. Seine Expertise umfasst die Zusammenarbeit von Kunst, Kultur und Bildung. Er war in der Expertenkommission zur Einführung der Neuen Mittelschule und berät den Europarat, die UNESCO und die Europäische Kommission in kultur- und bildungspolitischen Fragen.

Route neu berechnen

Was tun, wenn eine Wanderausstellung vor geschlossenen Grenzen steht? Mit den Absagen von physischen Events wuchs das Projekt Kunst am Strom über sich und die Grenzen der analogen Welt hinaus. Ein Bericht von MÁRTON MÉHES.

Alles hat so gut angefangen: »Das internationale Kunstprojekt ‚Kunst am Strom‘ führt Kunstpositionen, KünstlerInnen und KuratorInnen aus dem Donauraum zusammen (…). Ziel des Projekts ist der Dialog von verschiedenen Kunstpositionen aus den Donauländern, die in einer Wanderausstellung (…) in acht Städten der Region gezeigt werden. Darüber hinaus werden sich KünstlerInnen und KuratorInnen aus Deutschland, Österreich, der Slowakei, Ungarn, Kroatien, Serbien, Rumänien und Bulgarien im Rahmen von Symposien begegnen, sich austauschen und Netzwerke bilden.« Soweit ein Zitat aus der Projektbeschreibung, verfasst Mitte 2019. Im Nachhinein merkt man dem Text ein gewisses Selbstbewusstsein an: Wir planen etwas und setzen es dann um – was soll da schon schiefgehen? Nur wenige Monate später, im Mai 2020, schlugen wir im Einführungstext zu unserem Ausstellungskatalog bereits ganz neue Töne an: »Angesichts der aktuellen Klimakrise und der Fragen der post-epidemischen ‚Weltordnung‘ ist der Donauraum mit der Herausforderung konfrontiert, Vergangenheitsbewältigung und die Entwicklung von Zukunftskonzepten gleichzeitig voranzutreiben. Die historischen Erfahrungen aus dieser Region könnten dabei auch hilfreich werden. Wir müssen jetzt auf Innovation und Kreativität setzen.« Unser Selbstbewusstsein ist verpufft. An seine Stelle sind offene Fragen, Herausforderungen und eine ungewisse Zukunft getreten. Die Wanderausstellung Kunst am Strom, die auf viele Treffen, Grenzüberschreitungen, Eröffnungsevents und den persönlichen Austausch setzte, war in der Pandemie-Realität angekommen.

Unerwartete Blickwinkel

Von nun an kamen sich ProjektleiterInnen, KuratorInnen und KünstlerInnen wie ein Navigationsgerät vor, das die Route ständig neu berechnen muss, und dennoch nie ans Ziel kommt. Von den ursprünglich geplanten drei Ausstellungen konnten 2020 zwar immerhin noch zwei (im Museum Ulm und auf der Schallaburg) veranstaltet werden, allerdings mit erheblichen Einschränkungen. In Ulm fand sie ohne den großangelegten Kontext des Internationalen Donaufests statt, und auf der Schallaburg musste sie wegen des erneuten Lockdowns Wochen früher schließen. Ursprünglich hätte die Schau 2021 an weiteren fünf Stationen Halt gemacht – möglich war lediglich eine Veranstaltung in Košice im Herbst 2021, unter Einhaltung strengster Hygiene- und Sicherheitsregeln. Mitte des Jahres 2021 war allen Beteiligten klar, dass das Projekt verlängert werden muss, was dann von den FördergeberInnen auch genehmigt wurde. Spätestens im Sommer hätten sich also alle zurücklehnen können, nach dem Motto »Wir sehen uns nach der Krise…« Doch bald stellte sich heraus, dass der Satz aus dem Katalog von allen Beteiligten ernst gemeint war: Wir müssen jetzt auf Innovation und Kreativität setzen. Im April 2021 fand ein Online-Symposium mit den KuratorInnen statt, um gemeinsam auf innovative, aber rasch und unkompliziert umsetzbare Austauschformen im virtuellen Raum zu setzen. Das Meeting funktionierte gleichzeitig als Ventil: KuratorInnen schilderten die Lage in ihren Städten und die teils dramatische Situation der jeweiligen Kunstszene. Im Mai folgte dann Studio Talks. Die KünstlerInnen wurden im Vorfeld gebeten, ihre Arbeit, ihre Ateliers, ihre Stadt und ihr Lebensumfeld in kurzen Video-Selbstportraits festzuhalten. Diese Videos wurden dann im Laufe der Veranstaltung gezeigt und von den teilnehmenden KünstlerInnen live kommentiert. Aus diesen Videos ist ein einzigartiges Panorama künstlerischen Schaffens im Donauraum entstanden.

Unzertrennliche Welten

Durch die gewonnene Zeit hat die Projektleitung einen Audio-Guide zur Ausstellung produzieren lassen. Auch die Facebook-Seite wurde zu einer wichtigen Präsentationsplattform weiterentwickelt. Die teilnehmenden KünstlerInnen stellten sich mit einem kurzen Werdegang sowie dem Link zu ihren Studio Talks-Videos vor. Ohne diese verstärkte Online-Kommunikation hätte das Projekt nie ein so breites Publikum erreicht. Die Studio Talks und Online-Kampagnen haben unsere physische Ausstellung nicht ersetzt. KünstlerInnen und Publikum freuen sich mehr denn je auf die Veranstaltungen vor Ort. Kunst am Strom ist durch die Pandemie vielschichtiger, informativer und spannender geworden. Eine Entscheidung zwischen »nur analog« oder »nur digital« kann es nicht mehr geben: Beide Welten sind endgültig unzertrennlich geworden und ergeben nur noch gemeinsam ein ganzes Bild.

Für das von Dr. Swantje Volkmann (DZM Ulm) und Dr. Márton Méhes geleitete Projekt Kunst am Strom wählten die KuratorInnen KünstlerInnen aus Ländern und Städten entlang der Donau aus, die zwei Generationen repräsentieren. Das Projekt wird vom Museum Ulm getragen und von mehreren Kooperationspartnern mitfinanziert.

Termine 2022:
27. April–11. Mai: Zagreb
11.–24. Juni: Timișoara
8.–21. August: Novi Sad
12. Oktober–2. November: Sofia

 

Dr. Márton Méhes (*1974) ist promovierter Germanist, ehem. Direktor des Collegium Hungaricum Wien und arbeitet heute als Lehrbeauftragter der Andrássy Universität Budapest sowie als internationaler Kulturmanager in Wien. Seine Schwerpunkte sind Kulturdiplomatie, europäische Kulturhauptstädte und Kooperationsprojekte im Donauraum.

Kontrapunkte im Donauraum

Hungrig nach Musik, Leben und Inspiration kam die kroatische Komponistin MARGARETA FEREK-PETRIĆ vor 20 Jahren nach Wien. Heute leitet sie als erste Frau die Musikbiennale Zagreb. Über ihre persönliche Reise sowie die Geschichte und Gegenwart des Festivals erzählt sie in ihrem Gastbeitrag für INFO EUROPA.

Ende des Sommers 2002 packte ich meinen Koffer mit ganz wenigen Kleidern und ganz vielen CDs, einem Kroatisch-Deutsch Wörterbuch und meinem kaputten, komischen Kuschelmonster. Ich setzte mich ins Auto zu meinem Vater, der mich in ein Mädchen-Studierendenheim im dritten Bezirk nach Wien fuhr, wo wir das günstigste Doppelzimmer der Stadt fanden, das für eine undefinierbare Zeit mein Zuhause sein würde. Ich war eine Neunzehnjährige ohne wirkliche Deutschkenntnisse, die die Kompositions-Zulassungsprüfung auf der Wiener Musikuniversität geschafft hatte. Ihre Eltern wollten ihr, aus ehrlichstem Balkanstolz, Liebe und Ego heraus, diese Erfahrung nicht verweigern. Nach Abschluss des Gymnasiums und dem Besuch der Musikschule, deren System ganz anders ist als in Österreich, wollte ich so schnell wie möglich weg aus Zagreb. Der Krieg war seit einigen Jahren vorbei, die prekären Familienverhältnisse hatten sich etwas gebessert und ich wollte raus in die Welt, ich war hungrig und neugierig nach Lebenserfahrung und Begegnungen mit interessanten Menschen. Ich wollte unabhängig sein, war auf der Suche nach mir selbst – als junge Frau, potentielle Künstlerin, als Bewohnerin dieses Universums.

Gleichgewicht als Grundlage

In meinen Teenagerjahren begann ich zu komponieren. Fast jeden Tag schrieb ich Kontrapunkt und Harmonielehre-Übungen während der Mathestunden. Die sogenannte Musikwelt, mit der ich damals zu tun hatte, entsprach meinen Bedürfnissen und gab mir den nötigen Raum für Ausdruck und Kreativität, den ich sonst nur in meinem Kopf hatte. Eine unschuldige, süße Leidenschaft für das künstlerische Tun und Sein verband unsere Clique in der Musikschule: Wir spielten und sangen zusammen und ließen uns auch mal heimlich über Nacht in der Musikschule einsperren, damit wir genug Platz und Zeit für das Musizieren hatten. Humor und Spaß waren genauso wichtig wie der intellektuelle Austausch und das Träumen von Idealen. Auf eine gewisse Art und Weise waren wir extrem, während die Welt um uns herum ebenso ins Extreme zu zerfallen schien. Die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen wir in den 1990er Jahren in Kroatien aufwuchsen, waren weder einfach noch gesund oder positiv, doch ich weiß, dass mir damals die Musik und die damit verbundenen Menschen für immer ein inneres Wissen über die Wichtigkeit von Balance zwischen Hingabe, Spaß und harter Arbeit geschenkt haben.

Geburtsstunde im Kalten Krieg

Fast zwanzig Jahre später, nach einigen Kompositionspreisen und Stipendien, zahlreichen Aufführungen und einer langen Liste an Werken, fühle ich mich als Wahlwienerin, die mit Zagreb zutiefst verwurzelt blieb. Vor allem pflege ich diese Verbundenheit umso stärker, seit mich der Komponistenbund Kroatiens zur künstlerischen Leiterin der Musikbiennale Zagreb ernannte – als erste Frau in der Leitungsposition seit Gründung des Festivals. Die Musikbiennale Zagreb zählt zu den angesehensten Festivals für zeitgenössische Musik im ehemals kommunistischen Osteuropa. Milko Kelemen, der 1961 das Festival gegründet hatte, fand, dass sich Jugoslawien nach dem Zweiten Weltkrieg in Isolation, Primitivismus und Provinzialismus befand und dass sich der Zustand speziell auf die KomponistInnen und deren Bewusstsein negativ auswirkte. Nach seiner Rückkehr von Aufenthalten in Paris und München empfand er die in Jugoslawien komponierte Musik als mindestens 80 Jahre im Rückstand gegenüber jener in Westeuropa. Die Idee des Festivals wurde geboren. 1959 rief Milko Kelemen den Bürgermeister von Zagreb an und legte ihm seine Pläne vor. Dieser zeigte sich erfreut, stellte aber gleich zu Beginn klar, dass er ihm zwar ein ganzes Zimmer voll Dinaren zur Verfügung stellen könne, aber keinen einzelnen Dollar. Das war entmutigend, denn ohne Devisen konnte Kelemen damals kein einziges ausländisches Opernhaus, kein Sinfonieorchester und keinen großen Dirigenten nach Zagreb einladen. Er kam auf eine Idee, wie er die Spannungen des Kalten Krieges zu seinem Vorteil nutzen konnte: Kelemen reiste in die Sowjetunion, um die damalige Kulturministerin zu treffen, die versprach, ein Gastspiel des Bolschoi-Balletts auf der Musikbiennale Zagreb zu ermöglichen. Anschließend reiste Kelemen auf eigene Initiative nach Washington. Als er den USAmerikanerInnen mitteilte, dass KünstlerInnen aus der Sowjetunion in Zagreb gastieren würden, sagten diese prompt ihre finanzierte Teilnahme zu. Unter den gegebenen politischen Umständen war es eine Frage des Prestiges. Die weiteren Projekte kamen dann wie von selbst in Gang. Zusagen aus Westdeutschland und Frankreich folgten. Einige Wochen vor der Eröffnung der ersten Musikbiennale machten jedoch Gerüchte die Runde, wonach der Bund der Kommunisten Jugoslawiens ein Verbot des geplanten Zagreber Festivals fordere, weil dessen Ost-West-Konzept den Verfall und die Dekadenz der bürgerlichen westlichen Gesellschaft ins Land zu bringen drohte. Dem damaligen Marketingleiter, Ivo Vuljević, ist es zu verdanken, dass er die GegnerInnen der Biennale davon überzeugen konnte, das Publikum selbst entscheiden zu lassen, was ihm gefiel und was nicht. Heute scheint es selbstverständlich, dass sich viele Musikrichtungen überschneiden und eine fast utopisch kreative Freiheit herrscht. Mir ist aber klar, wie leicht die Dinge an Gewicht verlieren und wie fragil die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks ist. Umso wichtiger ist es, einen Teil der Kulturlandschaft direkt der zeitgenössischen Musik zu widmen und das Experimentelle als natürlichen Teil unserer Gesellschaft hervorzuheben. Die Lust nach Abenteuer im Klang unterstützt das Sehnen nach Freiheit und somit sind diese Lust und deren Verwirklichung auch heute wichtige Mittel, um schwierigen politischen Entwicklungen entgegenzuwirken.

Auf Vielfalt aufbauen

Auch wenn das Festival einige musikalischpolitische Skandale hinter sich hat, wird es nun doch seit 1961 in jedem ungeraden Jahr abgehalten, selbst über die harten Kriegsjahre hinweg. Die Corona-Pandemie sowie die verheerenden Folgen einer Reihe von Erdbeben in Zagreb im Jahr 2020 führten dazu, dass die 60. JubiläumsAusgabe nicht wie geplant nur im Frühjahr stattfinden konnte. Stattdessen wurde sie in vier Veranstaltungsblöcken übers Jahr verteilt unter dem Titel (Re)construction – Continuum abgehalten. Mein Team und ich durften dazu ein Programm zusammenstellen, das mit  verschiedenen MusikliebhaberInnen kommunizieren, alle Generationen ansprechen und die Stadt Zagreb bereichern sollte. Es fanden Konzerte mit etablierten InterpretInnen sowie NachwuchsmusikerInnen statt. Die Zusammenarbeit mit Studierenden spielte eine wichtige Rolle. Wir boten auch zahlreiche Workshops und Installationen sowie ein Kinderprogramm an. Ein großer Teil der Formate fand online statt, was uns eine stärkere internationale Aufmerksamkeit und Nachhaltigkeit ermöglichte. Für mich war klar, dass sich ein Festival dieses Kalibers von der Masse abheben, aktuelle, brennende Themen aufgreifen und die Vielfalt der zeitgenössischen Musik akzentuieren muss. Sowohl Teilnehmende als auch BesucherInnen können sich so für das Ungewöhnliche öffnen und ihr Umfeld selbst bereichern. Das Wichtigste dabei ist immer die höchste Qualität der Aufführungen, Gleichberechtigung als Selbstverständlichkeit, aber auch die Vernetzung mit dem Publikum aus allen Altersgruppen. Als Komponistin und künstlerische Leiterin genieße ich die Vielseitigkeit dieser Aufgabe und möchte auch weiterhin in meiner Arbeit die Vielfalt hervorheben.

Margareta Ferek-Petrić (*1982, Zagreb) ist Komponistin und künstlerische Leiterin der Musikbiennale Zagreb. Ihre Musik wird als farbenreich, humorvoll und tiefgründig beschrieben.

Ist das jetzt schon Zukunft?

Für MARTIN BOROSS bietet die Pandemie eine Gelegenheit für den »kreativen Neustart im Gehirn«. Warum zeitgenössisches Theater neben guter Technik auch regionales Bewusstsein braucht, erzählt der ungarische Theatermacher im Interview mit ANITA GÓCZA.

Welche Auswirkungen hatte die Pandemie auf Ihre Arbeit? Haben Sie eine digitale Revolution erlebt?

Wir alle mussten darüber nachdenken, ob es irgendeinen Aspekt unserer Arbeit gibt, der auf den Bildschirm übertragen werden kann. Für mich lautete die Frage: Können wir etwas auf dem Bildschirm erschaffen, können wir die Leute so sehr begeistern, dass sie ein Online-Theaterereignis statt Netflix wählen würden? Ich habe das als eine Herausforderung angenommen, die neue Qualitäten, Dramaturgien und Ästhetiken hervorbringen kann. Wenn man sein Gehirn im kreativen Prozess nicht neu starten kann, führt das nur zu Kompromissen. Anfangs dachte man, dass es sich um eine vorübergehende Phase handelt, aber jetzt denken viele, dass vieles bleiben könnte.

Ob vorübergehend oder nicht, Ihre Premiere des Stücks Addressless führten Sie Mitte Januar 2022 im Rattlestick Playwrights Theatre in New York durch, als Online-Version.

Wir haben im Januar des Vorjahres entschieden, diese Aufführung online zu zeigen. Damals dachten wir nicht, dass COVID in einem Jahr noch eine Rolle spielen würde. Das Hauptargument für die Online-Version war, dass wir so ein größeres Publikum als das in Manhattan erreichen wollten. Ein weiterer ausschlaggebender Faktor war, dass die Form der Aufführung eine immersive, interaktive Erfahrung ermöglicht, genau wie bei einem Computerspiel. Daher ist das Online-Format zu hundert Prozent dafür geeignet. Während der ersten Welle der Pandemie wurde oft gesagt, dass kleine Theaterkollektive durch die Online-Streams ihr Publikum vervielfachen können. Ist das in Ihrem Fall passiert? Ja, absolut. Letztes Jahr haben wir die Aufführung Ex Cathedra für zwei Plattformen entwickelt: Wir haben sie live im Theater gezeigt und sie auch online gestreamt. So konnten wir viel mehr Menschen erreichen. Uns war es auch wichtig, dass das Theater für Menschen, die auf dem Land leben, zugänglich wird. Aus den Statistiken ging hervor, dass viele im Ausland lebende UngarInnen die Online-Show gesehen haben. Und es gab noch einen weiteren Bonus: Die Online-Version wurde Teil einer ungarischen Theater-Streaming-Plattform, auf der man aus den Aufführungen einer Vielzahl ungarischer Theater auswählen konnte. Auf diese Weise konnten viele Menschen, die zuvor keine unabhängigen, experimentellen Aufführungen besucht hatten, daran teilhaben.

Ist so eine Streaming-Plattform auch auf internationaler Ebene vorstellbar? Etwa eine Seite, die Theatererlebnisse aus ganz Europa anbietet?

Es wäre toll, wenn wir die Möglichkeit hätten, unsere Online-Aufführungen einem europäischen Publikum zu zeigen. Um auf die ungarische Plattform zurückzukommen: Wir waren die erste Gruppe, die englische Untertitel für den Stream gemacht hat. Aber man darf nicht vergessen, dass die Erstellung von Online-Versionen einer Aufführung eine Menge Geld kostet, auch wenn es sich nur um einen Livestream handelt. Dazu braucht es viele Kameras, Schnitt, Nachbearbeitung, Untertitel. Ich würde es begrüßen, wenn verschiedene europäische FördergeberInnen dies unterstützen würden.

Also erleben wir eine Umbruchszeit im Theater?

All das ist wieder eine Frage der Bewertung der gegenwärtigen Situation: Betrachte ich sie als etwas Vorläufiges oder nicht. Es könnte eine wichtige Lektion für Europa sein, zu lernen, in Zeiten der Wirtschaftskrise in kleineren Projekten zu denken, sich aktiv auf lokale PartnerInnen zu verlassen und das Publikum als MäzenInnen zu betrachten, die sich an der Arbeit des Theaters beteiligen wollen. Wir experimentieren weiter mit dem Internet. Am Ende des letzten Sommers entwickelten wir einen ortsspezifischen performativen Doku-Spaziergang (Colony – escape stories) in einer ehemaligen Tabakfabrik in Budapest. Wenn er das nächste Mal im Frühjahr gezeigt wird, werden die Leute die Möglichkeit haben, auch ein Ticket für die Online-Version zu erwerben.

Wie kann ich mir einen Online-Spaziergang von zuhause aus vorstellen?

Ich weiß, das klingt wie ein Widerspruch in sich, aber das ist es nicht. Natürlich haben wir erhebliche Änderungen vorgenommen, die Schwerpunkte werden anders sein: Die OnlineVersion wird viel stärker von einer bestimmten Geschichte bestimmt sein. Der Hauptgrund für die Schaffung dieser Alternative war die Tatsache, dass nur 25 Personen an der eigentlichen Wanderung teilnehmen können. Es gab aber immer eine größere Nachfrage. Ich bin überzeugt, dass eine Online-Version immer das Ergebnis einer erheblichen Anpassungsarbeit ist. Je mehr man den gleichen Effekt auf dem Bildschirm erreichen will, desto mehr ist das Ergebnis zum Scheitern verurteilt. Und es gibt immer Konzepte/Genres, die sich leichter auf den Bildschirm übertragen lassen.

Welche Strategien setzen Sie ein, um die ZuschauerInnen am Bildschirm zu fesseln?

Wenn man online arbeitet, muss es entweder visuell fesselnd oder interaktiv oder sehr persönlich und charakterorientiert sein, um die Form zu legitimieren. Technisch ist das zum Beispiel durch Nahaufnahmen möglich. Es schafft immer eine besondere Intimität, wenn die SchauspielerInnen in die Kamera sprechen als ob sie einem direkt in die Augen schauen. Mein Ziel ist es, eine Situation zu schaffen, in der die ZuschauerInnen zu AkteurInnen und SchöpferInnen werden und so in den Raum der Performance hineingezogen werden. Im Fall von Addressless bilden die ZuschauerInnen verschiedene miteinander konkurrierende Gruppen, die in Breakout-Räumen auf Zoom miteinander kommunizieren. Der Fortschritt des Spiels wird durch ihre Entscheidungen gesteuert. Auch der häufige Wechsel verschiedener Elemente und Genres – Animation, Grafikdesign, musikalische Effekte und Videos – spielt eine wichtige Rolle für die Wirkung. Ein weiterer bedeutender Faktor für die endgültige Form ist die Bearbeitung, da sie eine Art des Geschichtenerzählens darstellt. Die Plattform selbst ist ebenfalls wichtig für den Erfolg. Ich kann mich an ein Projekt eines ungarischen Komponisten erinnern, die Geiseloper von Samu Gryllus in Zusammenarbeit mit Brina Stinehelfer. Sie nutzten dafür eine spezielle Plattform (SpatialChat), die sich für die Bewegung im virtuellen Raum gut eignet. Wer das Theater-Erlebnis maximieren will, muss sich mit den technischen Möglichkeiten vertraut machen.

Die Pandemieerfahrung hat auch unser Gemeinschaftsgefühl beeinflusst. Können wir heute von einem gemeinsamen Europa sprechen?

Die Kluft zwischen dem Osten und dem Westen Europas ist riesig, und es gibt keine Hoffnung, aufzuholen, in dem Sinne, wie wir UngarInnen es uns vor 30 Jahren vielleicht vorgestellt haben. Aber ich denke auch, dass es von Zeit zu Zeit sinnvoll ist, die Richtung zu hinterfragen, in die wir gehen. Es scheint nicht zu funktionieren, wenn wir versuchen, eine »billige Kopie« der westlichen Welt zu werden. Ich würde es nicht als Euroskeptizismus bezeichnen, aber es wäre gut, wenn wir die Dualität von Ost und West vergessen würden. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir uns mehr auf regionale Zusammenarbeit konzentrieren sollten. Wir bereiten gerade eine Kooperation mit einem kleinen Stadttheater in Kyjiw vor, und wir haben einige Erfahrungen dieser Art in Cluj-Napoca gemacht. Wir wollen uns nicht nur auf die Creative-EuropePartnerschaften etwa mit Deutschland, Frankreich und den Niederlanden stützen. Wir stehen jetzt an einer Weggabelung. Ich hoffe wirklich, dass die wirtschaftlichen Schwierigkeiten nicht zu provinziellen, geschlossenen Gesellschaften ohne echte Zusammenarbeit und gemeinsames Denken führen werden.

(Das Interview wurde im Jänner 2022 geführt)

 

Martin Boross (*1988) ist ein ungarischer Theaterregisseur, Autor und Schauspieler. Er erwarb sein Diplom in Dramaturgie an der Universität für Theater- und Filmkunst in Budapest. Seit 2011 hat er 20 Theateraufführungen inszeniert. Seine Werke wurden von Theatern in 36 Städten in 11 Ländern aufgeführt. Aktuell leitet er das Budapester Kollektiv für zeitgenössisches Theater STEREO AKT.

Anita Gócza (*1970) arbeitete 15 Jahre lang als Radio-Reporterin und Redakteurin für die nationale Radiostation in Ungarn. Seit 2011 ist sie als freie Journalistin mit Fokus auf kulturellen Themen sowie als Dozentin für Online-und Radiojournalismus an der Budapest Metropolitan University tätig.

Schöpfen aus der Pandemie

2020 schlug die Geburtsstunde der COVID-Kunst. Mit der Krise brach eine Welle an visuellen Werken zur mentalen Bewältigung los. Doch der Bruch mit dem Vertrauten führte auch zu Debatten darüber, was Kunst ist und darf. ZUZANA DUCHOVÁ über offene Fragen und neue Perspektiven für die Kunstszene in der Slowakei und darüber hinaus.

Die Welt mit Corona ist unberechenbar. COVID-19 ist eine neue, weitgehend gemeinsame globale Erfahrung. Die Kunst ist vielschichtig, sie reagiert auf Krisen und sucht nach Lösungen. Während in der »alten Normalität« die meisten Menschen davon überzeugt waren, zu keinem Kunstwerk fähig zu sein, entdeckten sie während der langen Schließungen inmitten unerwarteter Freizeit ihre verborgenen Talente. Im Frühjahr 2020 kam es zu einer richtigen Explosion an mehr oder weniger gelungenen visuellen Arbeiten, die im Internet präsentiert wurden. Die Motive dieses Oeuvres kamen hauptsächlich aus dem Alltagsleben in der Pandemie. So fingen etwa Reportage-Zeichnungen flüchtige Momente ein. Großen Erfolg verzeichneten auch Darstellungen von Einsatzkräften. Die Grenzen zwischen Kunst und Kitsch wurden sehr individuell gezogen, und wir können nicht automatisch alles verurteilen, ohne den Kontext zu berücksichtigen.

Interessanter als die Frage der Qualität und der Verwendung in der Kunstwelt ist vielleicht der Moment der Schöpfung selbst. Kunst und Kunsthandwerk tragen dazu bei, Bedeutung zu geben und die Geschehnisse auf unterschiedliche Art und Weise zu erklären. Für viele Menschen ist eine künstlerische oder kreative Tätigkeit ein notwendiges »Lebensmittel« und Grundlage für ein gesundes Leben. Kunst hilft, die Welt in einem anderen Licht zu sehen, in individueller und globaler Hinsicht. Die Fragen, die sich daraus ergeben lauten: Ist Kunst ein Privileg oder wird sie als selbstverständlich angesehen? Können Menschen ohne Kunst leben? Was ist normal?

Eine Frage der Qualität?

In der Slowakei gründete sich auf Initiative der Künstlerin Ivana Šáteková die Gruppe CoronART, um Solidarität und Unterstützung, insbesondere für slowakische bildende KünstlerInnen, zu leisten. Ihr Motto lautet: »Lasst uns coronakarantena zu einer kreativen Herausforderung machen. Bilder, Fotografien, Skulpturen, Grafiken … Hängen Sie alles, was während der Quarantäne entstanden ist, hier auf und lassen Sie uns in dieser frustrierenden Zeit eine kleine Online-Galerie erstellen!« Dahinter stand die Idee, einen kreativen virtuellen Raum zu schaffen, in dem die Menschen ihr Schaffen während der Krise mit anderen teilen können. Die Gruppe wuchs von einem kleinen Kreis auf über 9000 Mitglieder an. Šáteková möchte eine kuratierte Auswahl dieser Arbeiten auch in Galerien zeigen. Ihre eigenen intimen Zeichnungen ironisieren die Konsumgesellschaft und die Ergebenheit gegenüber der Angst. Ihre größte Sorge über die Zeit nach Corona ist das zunehmende Desinteresse der Menschen an ihren Mitmenschen. Zu Beginn der Pandemie erlebte Mitgefühl einen Höhepunkt, doch mit der Zeit wurde dieses immer oberflächlicher. Während Šáteková die experimentelle Online-Galerie verwaltete, stieß sie auf negative Reaktionen und auf das Problem von schwankender Qualität bei den Einsendungen.

Kunst als Spiegel der Gesellschaft

Viele Werke sind mit, für, trotz und wegen COVID-19 entstanden. Viele haben nur ein kleines Publikum erreicht, aber ihre Bedeutung für die Szene selbst ist erwähnenswert. Denn einer der Werte der Kunst ist es, eine öffentliche Diskussion anzuregen. Das Projekt 7×7 Seven Free Reflections on Art ist ein Gemeinschaftswerk von KuratorInnen der Slowakischen Nationalgalerie. Es reagiert auf den Boom der Online-Kultur während der Quarantänemaßnahmen. Der digitale Fußabdruck der Slowakischen Nationalgalerie war schon vorher recht prominent, sodass es für das Team selbstverständlich war, das Online-Angebot unter den neuen Bedingungen zu erweitern. Ursprünglich als Ergänzung zu ständigen physischen Ausstellungen gedacht, wurde das digitale Format für einige Wochen zu einem Schwerpunktthema. Das Ausstellungskonzept gestaltete sich bedeutend flexibel für eine Institution, deren Betrieb »normalerweise« unter konservativen Bedingungen mit einem vorher festgelegten langfristigen Plan erfolgt. In der Ausstellung stehen die KuratorInnen im Vordergrund, denn sie bringt keine neuen Werke, sondern zeigt neue Perspektiven darauf. In den einzelnen Ausstellungsräumen haben die BesucherInnen die Möglichkeit, bereits ausgestellte Werke im neuen Kontext der Pandemie kennenzulernen.

Ein ähnliches Konzept steckt hinter der Ausstellung DESIGN IS NOW! mit dem Untertitel Menschen werden Designer. Die Designer sind Menschen geblieben. Im Sommer 2020 wurde ein Querschnitt von Arbeiten von DesignerInnen im slowakischen Designmuseum ausgestellt. Die Ausstellung zeichnet die Aktivitäten von KünstlerInnen, DesignerInnen, Designstudios, EntwicklerInnen, Schulen, HerstellerInnen und LaiInnen während der Pandemie nach und zeigt markante Phänomene dieser Bewährungsprobe von Menschlichkeit und Zugehörigkeit.

Offenheit praktizieren

Das neueste Werk von Dorota Sadovská wurde in der Städtischen Galerie Bratislava in einer auf September 2020 verschobenen Ausstellung mit dem Titel Common Nonsense präsentiert. Auf die drängenden Probleme der Welt, die durch die Pandemie verursacht oder verstärkt wurden, reagierte sie mit figurativen Gemälden, die auf abstrakte Kompositionen abgestimmt waren. Die Gemälde #StayHome 1 und #StayHome 2 (2020) wurden zwar als Reaktion auf die Pandemie geschaffen, doch ihr Inhalt ist viel umfassender. Die angehäuften und ineinander verschlungenen Gliedmaßen und Körperteile sind ein subtiler, humorvoller Beitrag zur Darstellung eines überfüllten Lebensraums, sei es eine Wohnung, in der alle Familienmitglieder eingesperrt sind, oder der Planet. Durch die verwendeten Farben spielt sie auch auf Fragen der Normalität und Gesundheit an. Die Kunst enthält Elemente, die der Gesellschaft in jeder Situation helfen können – sei es ihre soziale und kommunikative Dimension, durch ihre Affinität zur Innovation oder durch die Anwendung in der Psycho- und Kunsttherapie. Die aktuellen Entwicklungen in der visuellen Kunst spiegeln weitgehend die Welt um uns herum wider, da die Krise der öffentlichen Gesundheitssysteme die Menschen unabhängig von ihrer kulturellen Zugehörigkeit betrifft. In der Welt der Kunst können wir zusammenkommen, ohne dass die Konflikte eskalieren müssen. Doch es ist ebenso in Ordnung, keine COVID-Kunst zu schaffen, denn jede Reaktion auf ein Trauma oder eine Krise ist legitim. Als Kunstmenschen sollten wir jedenfalls dazu in der Lage sein, den vielfältigen Ergebnissen dieser Schaffensprozesse mit einem gewissen Maß an Offenheit und Freundlichkeit zu begegnen.

 

Zuzana Duchová, Kuratorin und Publizistin, studierte Kunstgeschichte an der Comenius Universität in Bratislava und an der Universität Wien. Neben ihrer theoretischen Forschung über das kulturelle Leben in Städten, hat sie mehrere Veranstaltungen über die Schnittmenge von Kunst, Architektur und kreativem Tourismus mitorganisiert und zusammen mit über 40 Co-AutorInnen zwei Bücher über Bratislava veröffentlicht. Aktuell arbeitet sie für den Creative Europe Desk Slovakia und kuriert das Projekt salonik.sk.

Monumente der Berührung

Zwei Hände, etwas Ton und fertig ist der Abdruck. Mit ihrem sozialen Kunstprojekt setzen MEIKE ZIEGLER und IVÁN GÁBOR ein Statement gegen die Kontaktlosigkeit. FRANCESCO BARBATI sprach für INFO EUROPA mit den InitiatorInnen von Handshape über die Kunst des Händereichens

Simpel und kraftvoll: Ein Händedruck verwandelt Fremde in Bekannte. Eine Geste, die innere Mauern einreißt. Meike Ziegler und Iván Gábor stellen das Symbol der Einheit in den Mittelpunkt ihres Projekts Handshape. Das kreative Duo führte ein soziales Experiment durch, bei dem sich mehr als 22.000 Fremde aus ganz Deutschland, Europa und der Welt begegneten. Aus diesen Begegnungen entstanden Handshapes, kleine Gebilde, die beim Händeschütteln aus Ton geformt werden. Die »Handabdrücke« wurden anschließend zu einem Monument zusammengefügt. Jeder Abdruck bekam einen Namen, ein Wort oder Thema, das die beiden Personen verbindet. Trotz Einschränkungen führten Ziegler und Gábor das Projekt auch im Sommer 2021 durch.

Wie kam es zu Handshape und was hat die Pandemie verändert?

Meike Ziegler: Ich hatte Handshape ursprünglich für die Feiern zur Wiedervereinigung Deutschlands 2018 entworfen. Als ich es im Senat vorstellte, meinten sie, es wäre passender für den 30. Jahrestag des Mauerfalls. Also machten wir es für diesen Anlass. Schon damals hatte ich vor, dieses Ritual weit in die Welt hinauszutragen. Es ist ein Konzept, das man dorthin bringt, wo es gebraucht wird. Durch Handshape hatten wir das Privileg, viele Menschen zu treffen und mit ihnen zu sprechen. Menschen, deren Leben sich sonst niemals kreuzen würden.

Iván Gábor: Als wir Handshape 2019 ins Leben riefen, hatte ich keinen Zweifel, dass es ein Erfolg wird. Für viele ist es nicht selbstverständlich, sich mit Fremden zu verbinden. Wir alle haben unsere instinktiven Ängste. Aber ich merkte, dass sich diese Wahrnehmung nach den ersten Minuten änderte, sobald ein Gespräch begann.

MZ: Die Pandemie wirkte sich auf mein Leben und meine Arbeit aus. Wir alle scheinen derzeit müde und abgestumpft zu sein. Es gibt eine große Sehnsucht nach sozialen Ereignissen und ein Bedürfnis nach menschlicher Verbindung. Während der langen COVID-Pause gestalteten wir ein Buch, in dem wir die Handformen als Fossilien ausstellten. Ich fing auch an, online Kreativ-Workshops zu geben und Konzepte für das Humboldt Forum oder das House of One zu entwerfen. Ivan und ich verbrachten viele Stunden damit, uns zu unterhalten und zu verstehen, wie es weitergeht. Ich habe auch viel über mich selbst und die Kraft dieser Arbeit gelernt.

IG: Als Handshape im letzten Sommer wieder in der East Side Gallery stattfand, hatten 90 Prozent der Teilnehmenden kein Problem damit, sich die Hände zu schütteln. Das gab mir Hoffnung, irgendwann wieder zur Normalität zurückkehren zu können.

Meike, Sie bezeichnen sich selbst als kreative Alchemistin. Was können wir darunter verstehen?

MZ: Nachdem ich einige Jahre im Bereich Multimedia- und Internet-Branding gearbeitet hatte, verspürte ich einen Mangel an Bedeutung und den Drang, Menschen durch greifbare Objekte in Echtzeit zu verbinden. Ich bezeichne mich nicht als Künstlerin. Ich schaffe keine Kunst.zum Trauerraum. Ich entwerfe Lösungen für soziale Fragen und Probleme, die danach schreien, angesprochen zu werden. Ich entwerfe Creatuals, also kreative Rituale (creative rituals), um Muster zu durchbrechen und Menschen zum Nachdenken zu bewegen. Alchemie hat mich schon immer interessiert. Es geht darum, Gold zu erschaffen. Ich liebe es, mit Symbolen zu arbeiten bis ein Konzept für ein bestimmtes Problem einfach, kraftvoll und rein wie Gold ist.

Wie kann die Digitalisierung dazu beitragen, dass Menschen nicht nur miteinander in Kontakt treten, sondern sich auch verbunden fühlen?

MZ: Die Digitalisierung ist ein großartiges Werkzeug für globale Vernetzungssysteme und menschliche Verbindungen. Sie bringt Menschen zusammen, aber es fehlt der wichtigste Sinn, den wir TOUCH (Berührung) nennen. Die digitale Verbindung wird niemals physisches Zusammenkommen übertreffen. Wir können einen Händedruck oder eine Umarmung weder imitieren noch fälschen. Ich glaube, es wird immer eine Sehnsucht nach analoger und realer Berührung geben.

Berlin ist auch ein Sehnsuchtsort, ein Magnet, der viele anzieht. Warum sind Sie beide nach Berlin gekommen?

MZ: Ich bin in meiner Kindheit viel gereist. Mein Vater war ein Stadtplaner und Designer. Ich wechselte oft das Land und die Schule und genoss es, in verschiedenen Kulturen zu leben. Das hat mich und meine Denkweise geprägt. Ich fühlte mich als Weltbürgerin und nicht als Angehörige einer Nation. Für mich als Kind wurden Grenzen in Köpfen geschaffen. Mein Partner bekam 2016 einen Job als Museumsdirektor in Berlin, also zogen wir mit unseren Kindern hierher. In Berlin angekommen, sagte jemand zu mir: »Du brauchst Berlin nicht. Berlin braucht dich!« Vielleicht hatte sie recht, und ja, Berlin ist wie ein Magnet. Es ist schwer zu beschreiben, was es mit dieser Stadt auf sich hat. Ich schätze, es sind die Geschichte und die leichte Spannung, die man immer noch zwischen Ost und West spürt.

IG: Ich bin 2016 aus Ungarn nach Berlin gezogen, um hier dauerhaft mit meiner Familie zu leben. Wir waren davor häufig in Berlin. Es gab immer einen Grund, hinzufahren. Ich habe die Berliner Mauer 1984 am Checkpoint Charlie passiert, und bin nach 1990 unzählige Male hingefahren, um die Veränderungen zu bewundern und den Berliner Freiheitsgeist zu genießen. Nachdem 2014 in Ungarn die illiberale Demokratie ausgerufen wurde, beschlossen wir, eine neue Heimat zu suchen, und Berlin war eine leichte Wahl.

Iván, wie steht es um Kunst und Kultur in Ungarn angesichts des Aufstiegs von Nationalismus und Populismus?

IG: Die Frage ist schwierig. Der aufkommende Nationalismus des 18. Jahrhunderts beeinflusste lange kulturelle Entwicklungen in Europa. Die Literatur, bildende Kunst und Musik zeugen davon. Der Zusammenbruch der österreichischungarischen Monarchie brachte enorme Veränderungen. Und die Härte des 20. Jahrhunderts machte die nationale Idee obsolet. Die europäische Herausforderung des 21. Jahrhunderts besteht darin, die Idee des Nationalstaates zu begraben und zu jener Vielfalt zurückzukehren, die über Jahrhunderte hinweg üblich und natürlich war. Heute benutzen PopulistInnen nationale Gefühle, um sich den Veränderungen zu entziehen, die neue Technologien, soziale Probleme, Folgen der Globalisierung oder Ökologie einfordern. Ich wünschte, wir könnten mit Handshape durch Mittel- und Osteuropa reisen und versuchen, Menschen mit Migrationshintergrund und Einheimische zusammenzubringen. Ich bin überzeugt, dass Handshape ein Format ist, das das Eis zwischen Menschen brechen kann.

Einige MinisterInnen haben die EU-Kommission kürzlich dazu aufgefordert, Mittel für Grenzmauern oder Zäune bereitzustellen, um Flüchtende an der Einreise aus Belarus zu hindern. Wie können wir Offenheit und Dialog fördern, anstatt Symbole der Teilung wieder aufleben zu lassen?

IG: In dieser Frage bin ich ein Idealist und Optimist. Ich werde nie aufhören, daran zu glauben, dass sich Mentalitäten ändern können. Wandel brauchen wir auf allen Ebenen. Veränderung beginnt mit Aufgeben und Loslassen. Deshalb ist das einzige Merkmal von Veränderung, dass sie wehtut. Kein Schmerz, keine Veränderung. Die Verbindung zwischen Menschen schafft den notwendigen Durchbruch. Die Beweggründe des anderen zu sehen und zu verstehen, lässt uns über uns selbst nachdenken.

Woran arbeiten Sie aktuell?

MZ: Ich war Anfang Februar in der Nähe von Narva in Estland, an der russischen Grenze, und habe dort Workshops für junge soziale AktivistInnen und FriedensstifterInnen gegeben – RussInnen und EstInnen. Die Beziehung der NachbarInnen ist auch nach 30 Jahren Unabhängigkeit komplex. Sie kämpfen mit verschiedenen Problemen. Beide Kulturen sind zu stolz und starrköpfig, um Empathie zu zeigen, nachzudenken und Kontakte zu knüpfen. Obwohl sie sich danach sehnen, gemeinsam an einer besseren Zukunft zu arbeiten, gibt es eine große Kommunikationslücke, Frustration und Angst. Wir versuchten mit Hilfe der Methode des Creatuals Lösungen zu finden. Als sie miteinander sprachen, erkannten sie ihre Ängste, das mangelnde Zuhören, ihre Vorurteile, wiederholte Fehler, und wie großartig es ist, sich zu verbinden. Sie erkannten, wie viel sie gemeinsam haben. Mein Fokus hat sich während der Pandemie verändert und ich verspüre den Drang, nicht nur Konzepte zu entwerfen, sondern auch mehr zu lehren. Ich habe mich entschlossen, eine Kreativ-Akademie zu gründen und Menschen und Führungskräfte darin zu unterrichten, Rituale für ihren eigenen Transformationsprozess zu schaffen und anderen zu helfen.

IG: In den letzten sechs Monaten arbeiteten wir auch an dem wunderbaren House of One-Projekt. Im Zentrum Berlins wird ein fast 40 Meter ohes Gebäude gebaut, das eine Synagoge, eine Moschee und eine Kirche unter einem Dach versammelt. Die drei religiösen Räume sind mit einem zentralen Raum, dem vierten Raum, verbunden. Wir entwickelten eine wunderbare Methode, um das House of One zu einem Erlebnis zu machen, das das Herz berührt. Außerdem arbeiten wir mit hervorragenden Menschen daran, Handshape zu einem globalen Symbol für menschliche Verbindungen zu machen.

 

Francesco Barbati ist freier Autor, Übersetzer und Redakteur u.a. für Cafébabel. Nach Grundstudien in Linguistik und Kommunikation studiert er aktuell European Studies and Management of EU-Projects in Eisenstadt.

Meike Ziegler wurde in Florenz, London und Utrecht ausgebildet. Sie arbeitete als Multimedia- und Konzeptdesignerin in verschiedenen Städten und gründete 2009 die Marke Creatuals. Sie bezeichnet sich selbst als »kreative Alchemistin«: Indem sie originelle, maßgeschneiderte, moderne Rituale entwirft, bringt sie Menschen, Situationen, Orte und Objekte auf intuitive Weise zusammen.

Iván Gábor ist Kommunikationsexperte und Berater. Er arbeitete mehr als zwei Jahrzehnte am Aufbau einer der größten Agenturgruppen in Ungarn, dessen Netzwerk 16 Länder Osteuropas umfasst. Seit 2016 lebt Iván Gábor mit seiner Familie in Berlin, wo er eine Firma für geflüchtete GrafikdesignerInnen gründete, um Kreativen bei der Integration zu helfen.