Ist die künstliche Intelligenz eine Frau?

Programmieren ist Männersachekommt Ihnen diese Ansicht bekannt vor? MALWINA TALIK schreibt über die vielfältigen Auswirkungen, die männliche Dominanz in der KI-Branche haben und darüber, wie Frauen eine lautere Stimme erhalten. 

Bereits im 19. Jahrhundert wird die Welt Zeuge des ersten geschrieben Codes. Was Sie vielleicht nicht wussten: Dieser Code wurde von der Mathematikerin Ada Lovelace erstellt. 1969 wird Grace Hopper, eine Pionierin der Programmierung, die erste Person, die als „Mann des Jahres“ im Programmieren ausgezeichnet wurde. Lange Zeit war Softwareentwicklung reine Frauensache, die nicht viel Ansehen genoss. Hardware war hingegen eine Männerdomäne. In der Nachkriegszeit waren so viele Frauen in der Programmierbranche beschäftigt, dass sogar die Codemenge, die in einer Stunde entwickelt werden konnte, als girlhour bezeichnet wurde. Diese Tendenz war nicht nur in den USA zu beobachten, sondern auch in den Ländern Mitteleuropas wie etwa Polen.  

Heute sieht die Realität ganz anders aus. Unsere Studie “Women in the Digital Space (and AI). Looking into Central Europe. Cases from Austria, Czechia, Poland and Slovakia” bestätigt eine bittere globale Tendenz. Frauen stellen in Mitteleuropa nur zwischen 11% (Tschechien) und 19% (Österreich) aller Mitarbeiter*innen in der IT-Branche dar. Dabei ist unklar, wie viele von ihnen in Bereichen wie Marketing, Projektmanagement oder in Personalabteilungen arbeiten, die keine Programmierkenntnisse erfordern. Hinzu kommt, dass die Gehaltsunterschiede in diesem innovativen Sektor noch gravierender sind als in einigen anderen Branchen. Während der allgemeine Gender-Pay-Gap in der EU 12,7% beträgt, erreicht er in der IT-Branche im Durchschnitt 19%. In Mitteleuropa ist er noch höher und schwankt zwischen 20% (Österreich) und 30% (Tschechien).  

Wenn die KI wie ein Mann tickt 

Im digitalen Raum werden die tief verwurzelten Geschlechterstereotypen und Ungleichheiten der realen Welt wiederholt. Schon ein einfacher Test mit ChatGPT zeigt das. Bei der Übersetzung des im Englischen geschlechtsneutralen Satzes „An AI specialist, a nurse, a teacher, and a doctor went on a trip together“ ins Tschechische, Polnische und Slowakische wird in allen Sprachen nur „nurse“ (= Pfleger*in), und im Polnischen auch „teacher“ (= Lehrer*in)  ins Femininum übersetzt. Weder „doctor“ noch „AI specialist“ werden von ChatGPT in einer dieser Sprachen als weiblich identifiziert, obwohl beispielsweise in Polen fast 60% der Ärzt*innen Frauen sind. Eine Studie des slowakischen Kempelen Instituts für intelligente Technologien ergab zudem, dass Spracherkennungsmodelle in der slowakischen Sprache bei weiblichen Stimmen höhere Fehlerquoten aufweisen und maschinelle Übersetzungswerkzeuge häufig generische maskuline Formen verwenden. 

All das beweist, dass Frauen und Mädchen im Alltag weiterhin übersehen werden. Die künstliche Intelligenz (KI) lernt aus den Daten, mit denen sie gefüttert wird, und diese Daten spiegeln die Vorurteile und die Weltanschauung ihrer oftmals jungen, männlichen Entwickler. Deshalb tendiert KI überproportional oft dazu, wie ein junger weißer Mann zu ticken. Für Frauen, die einer ethnischen Minderheit angehören, sind die Herausforderungen noch größer. Es gibt noch keine ausführlichen Analysen zum Einfluss von KI auf Rom*nja und Sint*izze in Mittel- und Osteuropa. 

KI reproduziert allerdings nicht nur Stereotype, sondern kann Frauen auch im echten Leben schaden. Die in Österreich vom Arbeitsmarktservice verwendete Software wurde heftig kritisiert, da sie unter anderem Frauen mit Kindern diskriminiere. Denn der Algorithmus teilte die Arbeitssuchenden in Bezug auf ihre Chancen auf Einstellung in unterschiedliche Kategorien ein – Mütter wurden dabei ebenso wie Menschen mit Behinderungen tendenziell deutlich niedriger eingestuft. KI wird zudem vermehrt zur Generierung von DeepFakes genutzt –  und diese haben ein eindeutiges Geschlecht. Laut einem Report von Sensity, einem Unternehmen, das sich auf die Beobachtung von DeepFakes spezialisiert, sind zwischen 90 und 95% davon pornografisch, nicht einvernehmlich und stellen Frauen dar. 

Fehlende KI-Expertinnen 

„Aus technologischer Sicht ist das Feld weit offen; die Hindernisse liegen nicht in der Technologie selbst, sondern im umgebenden Umfeld“, sagt Estera Kot, eine KI-Expertin bei Microsoft. Der Grund für fehlende Expertinnen im Bereich der KI ist völlig anders als beispielsweise in den Medien, der Politik oder der Privatwirtschaft, wo viele begabte Frauen gegenüber ihren männlichen Kollegen diskriminiert werden. In der KI fehlt es schlicht an ausreichend Frauen mit den erforderlichen Kompetenzen. Doch auch das ist letztendlich ein Ergebnis von Diskriminierung. 

Schon früh wird Mädchen eingeprägt, dass Informatik nicht für sie geeignet sei. Dieser Irrglaube wird nicht nur durch ihr unmittelbares Umfeld verstärkt, sondern auch durch die Popkultur, in der Hacker*innen und Geeks fast immer männlich dargestellt werden. Dementsprechend streben nur wenige junge Frauen eine Karriere in diesem Bereich an. Unter allen Informatik-Student*innen in den jeweiligen Ländern sind nur 17% Tschechinnen, 15% Polinnen und 12% Slowakinnen. Selbst wenn sie sich schließlich dazu entscheiden, in dem von Männern dominierten Feld zu arbeiten, sind die Arbeitsbedingungen oft herausfordernd, wie unsere Gespräche mit KI-Expert*innen zeigten.  Der Bereich der KI entwickelt sich ständig weiter und erfordert damit ständige Weiterbildung der Beschäftigten. Für viele Frauen ist es schwer, da noch nach der Geburt des ersten Kindes mitzuhalten. Denn wie auch in anderen EU-Ländern ist die Kinderbetreuung in Mitteleuropa weiterhin vor allem Aufgabe der Mütter. In Tschechien und in der Slowakei erhalten laut Eurostat nur zwischen 4,7% und 2,5% der Kleinkinder Fremdbetreuung, was auch am Mangel an Kita- und Kindergartenplätzen liegt. Die Abbruchquote bei Frauen in der IT-Branche ist europaweit dementsprechend deutlich höher als bei Männern. 

Dazu kommen Vorurteile, die Frauen daran hindern, Führungspositionen in Start-ups einzunehmen. Dies wäre insbesondere in frühen Phasen der Produktentwicklung wesentlich, da sie dann eine aktive Rolle bei der Gestaltung des KI-Produkts einnehmen und es gendersensitiver prägen könnten.  Allerdings sind Frauen nur zu 15% unter den Gründer*innen von Start-ups in der EU, und sie erhalten auffallend weniger Finanzierung. In Mitteleuropa erhalten ausschließlich von Männern geführte Start-up-Teams 94% der investierten Kapitalmittel, während Start-ups von Frauen nur knapp 1-2% erhalten. Gleichzeitig generieren von Frauen gegründete Start-ups aber mehr Umsatz pro investiertem Euro und übertreffen Teams, die ausschließlich von Männern geleitet werden, in der Kapitalproduktivität um 96%. 

KI und Frauengesundheit 

Die Ausrichtung der KI auf männlich geprägte Daten hat auch in der Medizinforschung Konsequenzen. Viele für Frauen typische Symptome, die von Ärzt*innen und damit auch der KI oft als „untypisch“ erachtet werden, sowie Krankheiten, die vor allem oder ausschließlich Frauen betreffen, bleiben bis heute nicht gründlich erforscht. Dies kann dazu führen, dass KI-unterstützte Systeme bei Frauen falsche Diagnosen stellen. 

Gerade im Bereich der Medizin kann die KI aber auch Teil der Lösung sein und gerade in Mitteleuropa Hoffnung für die Frauengesundheit bringen. Die Sterberate durch Brustkrebs gehört in Polen und der Slowakei zu den höchsten in der EU, ein Mangel an Ärzt*innen und Kapazitäten ist einer der vielen Gründe dafür. Bisherige Studien zeigen, dass ein*e Radiolog*in mithilfe von KI eine höhere Genauigkeit bei der Krebserkennung aufweist als zwei Radiolog*innen. Viele heimische Start-ups arbeiten gerade an KI-Lösungen, die positive Veränderungen in diesem Bereich bewirken könnten. 

Durch Menstruations- und Schwangerschafts-Apps können Forscher*innen nun beispiellose Mengen an Daten über den weiblichen Körper sammeln und die Wissenslücken schließen. Gleichzeitig besteht das Risiko, dass diese Daten auch für Marketingzwecke verwendet werden. Angesichts des zunehmenden Abbaus reproduktiver Rechte besteht zudem die Gefahr, dass diese Informationen gegen Frauen verwendet werden könnten. Gehackte Daten aus Schwangerschafts- oder Menstruationsapps könnten beispielsweise zeigen, ob eine Frau schwanger ist oder schwanger war und (illegalerweise) abgetrieben hat. Auch wenn das derzeit hypothetische Gefahren sind, genügt es, nach Polen oder in die Slowakei zu schauen.  In Polen wurde unter der PiS-Regierung mit Ausnahme von sehr wenigen Fällen die Abtreibung verboten und die Gesetze bleiben auch nach dem Regierungswechsel streng. In der Slowakei gibt es wiederkehrende Debatten darüber, ob das Abtreibungsgesetz verschärft werden sollte. Viele Frauen sind sich der Konsequenzen der Nutzung vermeintlich kostenloser Apps nicht bewusst. Grundlegende digitale Kompetenzen weisen nur zwischen 41% (Polen) und 61% (Österreich) der digitalen Nutzerinnen vor. 

Zeit, die Spielregeln umzuschreiben 

Die fehlenden KI-Expert*innen sind eine globale Herausforderung. Allein in der EU fehlen etwa 700.000 Fachkräfte. Die IT-Branche muss viel inklusiver und flexibler werden, um bahnbrechend bleiben zu können – und das eröffnet viele Chancen für Frauen. Dieses Zeitfenster wird jedoch nicht ewig dauern, daher ist es wichtig, dass Frauen jetzt einsteigen. Die von Stereotypen geprägte Denkweise muss durch Bildung und öffentliche Kampagnen aufgebrochen werden. Weibliche Vorbilder sollten nicht nur innerhalb von Unternehmen präsentiert, sondern auch in Medien- und Diskussionsforen gezeigt werden. Bereits jetzt gibt es in Mitteleuropa viele energische und von Frauen getriebene Initiativen, wie zum Beispiel Ženský algoritmus (Frauenalgorithmus) oder Aj ty v IT („Auch du in der IT“) in der Slowakei, Czechitas in Tschechien, Let’s Empower Austria in Österreich oder die IT Girls Foundation in Polen. Sie überzeugen, coachen und unterstützen Mädchen und Frauen durch Spiele, Coding-Workshops Beratung und die Vergabe von KI-Preisen für Expertinnen, um sie für die IT zu begeistern. 

Für eine langfristige Zukunft für Frauen in der KI muss die Branche mit unserer Zeit Schritt halten und sich nicht ausschließlich an den Bedürfnissen der männlichen Fachkräfte orientieren. Bis das erreicht ist, ist die künstliche Intelligenz in Mitteleuropa keine Frau. 

 

Malwina Talik ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am IDM sowie freiberufliche Forscherin und Übersetzerin. Davor war sie als Expertin für wissenschaftliche Zusammenarbeit bei der Polnischen Akademie der Wissenschaften / Wien und Referentin für Öffentlichkeitsarbeit bei der Polnischen Botschaft ebenso in Wien tätig. 

Frauenhass mit einem Klick

Diffamierungen und Hasskommentare sind in den sozialen Medien allgegenwärtig. Marginalisierte Gruppen sind besonders häufig von ihnen betroffen. MILA JOSIFOVSKA DANILOVSKA und DESPINA KOVAČEVSKA berichten über geschlechtsspezifische Online-Hassreden in Nordmazedonien.

Anfang 2024 sprach das Gericht in Bitola das erste Urteil wegen Hassrede gegen die LGBTQIA+ Gemeinschaft in Nordmazedonien. Die Beklagte wurde schuldig befunden, durch wiederholte Äußerungen auf Facebook, schwere Diskriminierung gegen queere Personen begangen zu haben. Die Community verbucht dieses erstmalige Urteil als Erfolg in ihrem langen Kampf gegen Diskriminierung. Nichtsdestotrotz bleibt die rechtliche Situation von Hassrede in Nordmazedonien, vor allem jene, die im Internet und aufgrund von geschlechtsspezifischen Merkmalen begangen wird, vage. 

Hass im Netz trifft viele, vor allem in der Öffentlichkeit stehende Personen, egal ob Politiker*innen, Journalist*innen oder Influencer*innen. Obwohl der Europarat und die Vereinten Nationen einen Rahmen für die weltweite Bekämpfung von Hassrede abgesteckt haben, fehlt bislang eine allgemeine Definition dieses Phänomens. Daher pflegen verschiedene Staaten auch einen unterschiedlichen Umgang mit Hass im Netz: Die USA betonen das in der Verfassung verankerte Recht auf freie Meinungsäußerung, während Europa bei gleichzeitigem Schutz der Redefreiheit rigoroser gegen Hetze vorgeht.  

Frauen als Zielscheibe von Hass im Netz 

Besonders Frauen sind im Internet häufig von geschlechtsspezifischem Hass betroffen. Die Metamorphosis Foundation untersuchte die Zusammenhänge von Gender und Online-Hassrede sowie die behördliche Behandlung dieser Vorfälle in Nordmazedonien. Geschlechtsspezifische Hassreden auf Online-Plattformen richteten sich demnach insbesondere gegen Journalistinnen, Aktivistinnen und Politikerinnen. Doch auch offline sind Frauen in öffentlichen Ämtern einer Flut von Beschimpfungen, Drohungen, Beleidigungen und Verleumdungen ausgesetzt. Politischen Persönlichkeiten wie der Bürgermeisterin von Skopje, Danela Arsovska, und der Verteidigungsministerin Slavjanka Petrovska werden ihre Autorität und Legitimität abgesprochen. Auch Journalistinnen werden aufgrund ihrer Berichterstattung oft Opfer von Hass. Tanja Milevska, die als Brüssel-Korrespondentin für die nordmazedonische Nachrichtenagentur MIA arbeitet, traf ein Shitstorms, weil sie die Regierung kritisierte. Miroslava Byrns, die derzeit für Sloboden Pecat schreibt, wurde aufgrund eines Artikels, in dem sie Verstöße gegen den Journalist*innenkodex aufdeckte, diffamiert. Und auch Akademikerinnen wie Katerina Kolozova und Influencerinnen wie Mia Kostova bleiben von Hassreden nicht verschont.  

Obwohl ihre öffentlichen Stellungnahmen die darauffolgenden Angriffe auslösen, bezieht sich der Hass gegen diese Frauen meist nicht auf ihre Aussagen, sondern ihr Erscheinungsbild. Bodyshaming, Rassismus und Misogynie beweisen die komplexe Intersektionalität von Hassreden gegen Frauen im Internet. Im Gegensatz beziehen sich Angriffe auf Männer eher auf deren Intelligenz oder Promiskuität. Facebook erweist sich als wichtigste Plattform für online Hassreden, da es auch das meistgenutzte soziale Netzwerk in Nordmazedonien ist.  

Hassreden im Internet bleiben oft unbestraft  

Die nordmazedonische Verfassung erklärt unmissverständlich die Gleichheit der Bürger*innen in Bezug auf ihre Freiheiten und Rechte, ungeachtet des Geschlechts, der Ethnizität, der Nationalität, der politischen oder religiösen Überzeugungen, des Eigentums oder des sozialen Status. Während traditionelle Medien einem klaren Rechtsrahmen unterliegen, arbeiten viele Online-Portale außerhalb der behördlichen Aufsicht. Das Strafgesetzbuch und Mediengesetz enthalten keine ausdrücklichen Bestimmungen zu Online-Hassreden, doch der Artikel 394(g) stellt die Verbreitung rassistischer und fremdenfeindlicher Inhalte über Computersysteme unter Strafe. Nichtsdestotrotz macht das Fehlen eines klaren Eintrages in der Legislation den Kampf gegen Online-Formen von Hassrede und Diskriminierung schwierig. 

Die milde Haltung der Justiz zeigt sich auch darin, dass bei Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit Online-Hassreden Bewährungsstrafen üblich sind. Eine Analyse von Gerichtsurteilen, die sich auf Artikel 394(g) berufen, zeigt, dass Fälle von Online-Missbrauch oft auf die politische Zugehörigkeit des Opfers zurückzuführen sind, insbesondere bei Beamt*innen. Darüber hinaus sind Hassreden auf der Grundlage des persönlichen oder sozialen Status weit verbreitet. Einige Fälle umfassen Hassreden auf der Grundlage von Religion, ethnischer Zugehörigkeit und Alter. Die Analyse zeigt jedoch auch, dass es keine Urteile zu Hassreden aufgrund von Geschlecht oder Genderidentität gibt. 

Die lückenhafte Definition von Hassreden und die mangelhafte Regulierung von Online-Medien verschärfen das Problem und lassen Täter*innen oft ungestraft davonkommen. Nur selten melden Betroffene diese Vorfälle. Eine Umfrage unter 103 Befragten zeigt, dass 65 % selbst bereits Opfer von Hassreden wurden oder jemanden kennen, aber nur 40 % die Vorfälle an staatliche Einrichtungen oder soziale Medien meldeten. Die Ergebnisse der Meldungen reichten von keinerlei Maßnahmen bis hin zur Entfernung der Nachrichten und zur Sperrung des Plattformzugangs der Täter*innen. Als Grund, warum sie Vorfälle nicht meldeten, nannten die Befragten Skepsis gegenüber der Wirksamkeit, das geringe Vertrauen in institutionelle Mechanismen und Angst vor Polizeikorruption. Zudem gaben einige an, nicht zu wissen, wo oder wie sie Vorfälle melden sollten. Diese Kommunikationslücke unterstreicht die Notwendigkeit einer effektiveren Verbreitung von Informationen über verfügbare Ressourcen und Meldewege, um Hassreden im Internet wirksam zu bekämpfen.  

Im Rahmen unseres Forschungsprojekts befragten wir auch Anwaltskanzleien und zivilgesellschaftliche Organisationen zur Häufigkeit der Inanspruchnahme von Rechtshilfe in Fällen von Online-Hassreden. 42% der Anwaltskanzleien und zwei Drittel der zivilgesellschaftlichen Organisationen, die kostenlose Rechtshilfe anbieten, gaben an, noch nie um Unterstützung in solchen Fällen gefragt worden zu sein. Am häufigsten würden jedoch erwerbstätige Frauen im Alter von 30-55 Jahren in Skopje um Hilfe in solchen Fällen suchen.  

Öffentliches Bewusstsein stärken  

Insbesondere zivilgesellschaftliche Organisationen plädieren für die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Online-Täter*innen und eine stärkere administrative Kontrolle von Social-Media-Plattformen. Sie weisen auch auf die Herausforderungen hin, die durch gefälschte Profile entstehen, und betonen die Notwendigkeit öffentlicher Sensibilisierungskampagnen. Bei all diesen Sensibilisierungsmaßnahmen muss auch die geschlechtsspezifische Natur von Hassreden im Internet berücksichtigt werden. Die Hate-Speech-Plattform des mazedonischen Helsinki-Komitees zeigt Spitzenwerte der gemeldeten Fälle im Jahr 2020. Gerade während der COVID-19-Pandemie nahmen Hassreden im Netz sowie die gemeldeten Fälle in Nordmazedonien stark zu – auch wegen des pandemiebedingten Anstiegs der Online-Aktivitäten, der zunehmenden digitalen Polarisierung und der geringen digitalen Kompetenz in der Bevölkerung. In den Jahren danach ist ein Rückgang zu verzeichnen, da sich Nutzer*innen möglicherweise selbst zensierten, um Gegenreaktionen zu vermeiden. Hassreden, die sich gegen die LGBTQIA+ Gemeinschaft richten, häufen sich dagegen weiterhin bei Veranstaltungen wie der Pride-Parade.  

In Nordmazedonien verschärft geschlechtsspezifische Online-Hassrede häufig die bestehenden Herausforderungen für Frauen. Gerade in patriarchalen Kulturen wie auf dem Balkan wird geschlechtsspezifischer Hass gegen Frauen oft bagatellisiert. Im Oktober 2022 wies die Europäische Kommission darauf hin, dass Nordmazedonien die Umsetzung der Gesetze gegen Hassreden und den nationalen Aktionsplan zur Istanbul-Konvention gegen Gewalt an Frauen verbessern muss. Die Kommission identifizierte Online-Medienplattformen als Hauptquelle für Desinformation und Hassreden. Der Bericht sprach sich schließlich für Kampagnen aus, um das Verständnis der Beteiligten und der Öffentlichkeit zu verbessern.  

Rechtliche Grundlagen schaffen 

Mittlerweile hat auch das Strafgesetzbuch Änderungen erfahren. So werden Angriffe auf Journalist*innen seit 2023 ähnlich wie Vorfälle gegen Beamt*innen oder Rechtsanwält*innen geahndet, für die eine Gefängnisstrafe vorgesehen ist. Außerdem wurde das Spektrum der Gründe, die Personen zu Opfer von Straftaten machen können – online oder im realen Leben – erweitert. Diese umfassen nun auch die Kategorien Geschlecht, sexuelle Orientierung und Genderidentität. 

Die Bewältigung dieser Herausforderungen erfordert jedoch weiterhin Verbesserungen der rechtlichen Infrastruktur und der Mechanismen zur Rechenschaftspflicht für Online-Plattformen. Opfer zu ermächtigen, Vorfälle zu melden, und die Förderung einer Kultur der digitalen Verantwortung sind entscheidende Schritte zur Bekämpfung von Hass im Netz. Untätigkeit führt nicht nur dazu, dass Einzelpersonen weiter geschädigt werden, sondern untergräbt auch das Vertrauen in digitale Räume. 

 

Mila Josifovska Danilovska ist Programmmanagerin der Metamorphosis Foundation for Internet and Society in Nordmazedonien. Sie setzt sich für Menschenrechte im Internet ein und fördert digitale Inklusion. 

Despina Kovačevska ist Spezialistin für Medienbeobachtung und konzentriert sich auf die Analyse von Medieninhalten im Hinblick auf Desinformation und Hassrede.  

Kryptowährungen außer Kontrolle

Montenegro hat eine lange Geschichte des Zigaretten-, Waffen- und Drogenschmuggels. Mittlerweile werden auch Kryptowährungen für illegale Aktivitäten genutzt. SAŠA ĐORĐEVIĆ und ANESA AGOVIĆ erklären, wie fehlende Regulierungen dem organisierten Verbrechen neue Türen öffnen 

Montenegro galt jahrzehntelang als kriminelle Drehscheibe für diverse illegale Aktivitäten unter mafiaähnlichen Strukturen. Im Global Organized Crime Index 2023 landet das Land nach wie vor auf der fünften Stelle der europäischen Länder mit der höchsten Rate an organisierter Kriminalität und an zweiter Stelle in den westlichen Balkanländern. 

Seit 2021 bekommt Montenegro auch die Aufmerksamkeit von Investor*innen in Kryptowährung und darunter auch jene, die diese digitalen Vermögenswerte missbrauchen wollen. Das veränderte die kriminelle „Unterwelt“ im Land. Einer der bekanntesten Akteure in ihr ist Do Kwon, ein südkoreanischer Staatsbürger, dem die USA und Südkorea wegen eines angeblichen milliardenschweren Betrugs am Kryptowährungsmarkt und Verstößen gegen Kapitalmarktgesetze den Prozess machen wollen. Die montenegrinischen Justizbehörden entscheiden derzeit über seine Auslieferung. 

Parallel zu Kriminalfällen wie diesen unternimmt Montenegro Schritte, um sich als Krypto-Oase zu positionieren. Für Investor*innen in Kryptowährungen sollen günstige Steuern angeboten und Hürden abgebaut werden – so wie es bereits in Belarus, Bermuda, den Britischen Jungferninseln und den Kaimaninseln, El Salvador und Georgien üblich ist. Der Versuch dieser neuen Ausrichtung fiel mit dem Aufstieg des derzeitigen Premierministers Milojko Spajić zusammen, der von der Wirtschaft in die Politik wechselte.   

Im April 2022 gewährte Montenegro Vitalik Buterin, einem Mitbegründer von Ethereum, die Staatsbürgerschaft und signalisierte damit Offenheit für Krypto-Innovator*innen. Ethereum ist die zweitbeliebteste Kryptowährung nach Bitcoin. Im Vergleich zur Konkurrenz erlaubt sie Nutzer*innen auch Smart Contracts (kodierte Blockchain-Verträge) und Transaktionen zu entwickeln und durchzuführen. Die Ausrichtung einer bedeutenden Krypto-Konferenz im Mai 2023 und die Aufnahme von Gesprächen mit dem US-Krypto-Unternehmen Ripple über die mögliche Einrichtung einer digitalen Zentralbankwährung oder eines nationalen Stablecoin (eine montenegrinische Kryptowährung, die einen stabilen Wert behalten soll) im Juli 2023 haben das wachsende Engagement Montenegros und gleichzeitig das Interesse für Krypto-Unternehmen erhöht. 

Fehlende Gesetze als Einladung zur Geldwäsche 

Nicht alle sehen diese Entwicklungen positiv. Der Länderbericht der Europäischen Kommission 2023 äußert Bedenken hinsichtlich des unregulierten Status des Kryptowährungsmarktes. Die EU selbst verlangt von Kryptowährungsdiensten, dass sie die illegale Verwendung dieser aufdecken und verhindern. Darüber hinaus äußerte sich Montenegros Präsident Jakov Milatović kritisch gegenüber dem Vorstoß von Premierminister Milojko Spajić, Montenegro zu einer Krypto-Oase zu machen. 

Kryptowährungen sind in Montenegro nicht illegal wie in China, Tunesien oder Ägypten. Obwohl sie offiziell nicht als gültige Zahlungsmethode anerkannt sind, ist ihr Besitz und ihre Verwendung nicht verboten. Doch genau diese fehlenden Regulierungen bergen ernsthafte und vielfältige Risiken. Zum Beispiel ermöglicht es Geldwäscher*innen, unrechtmäßig erworbene Gewinne digital zu verbreiten, indem sie sich hinter Pseudonymen verstecken.  

Neben dem Fall Do Kwon wurde im Juni 2023 ein illegaler Kryptomat an der Küste Montenegros gefunden. Dieser Automat ermöglichte die Umwandlung von digitalen Währungen in Bargeld oder andere Kryptowährungen. Er wurde mit dem vorbestraften Briten George Cottrell in Verbindung gebracht, der unter Beobachtung der US-Behörden steht. Ein weiterer illegaler Kryptomat tauchte in der Hauptstadt Podgorica auf. 

Auch am Immobilienmarkt spielt Krypto eine Rolle. So gab eine montenegrinische Agentur bekannt, dass ihre Makler*innen eine Immobilie im Wert von 6 Millionen Euro – bezahlt in Kryptowährung –verkauft hätten. Derlei Geschäfte stammen in erster Linie von Käufer*innen außerhalb Montenegros, etwa aus Russland, der Ukraine, Zypern, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Israel und den USA.   

Auf Krypto bauen 

Die montenegrinischen Behörden schaffen nur langsam Fortschritte, um mit Krypto einhergehende Risiken einzudämmen. Im Juli 2021 richtete das Finanzministerium zwei Abteilungen ein, die sich mit Blockchain und Kryptowährungen befassen. Darüber hinaus bietet die Zentralbank Informationen über neue Finanztechnologien, um Privatbanken zu unterstützen. Bemühungen zur Regulierung der Blockchain-Technologie wurden Anfang 2022 von Spajić, damals noch Finanzminister, eingeleitet. Die instabile politische Lage verhinderte jedoch bislang das Einführen konkreter Rechtsvorschriften. 

Dieses Rechtsvakuum eröffnet neue Möglichkeiten im Bereich der illegalen Finanzströme, darunter der Geldwäsche. So können beispielsweise Gewinne aus dem Drogengeschäft, die außerhalb Montenegros erwirtschaftet werden, durch den Bau und Kauf von Immobilien ins Land gelangen. Die Regierung erklärte Immobilien in ihrer nationalen Risikobewertung offiziell als Hochrisikosektor für Geldwäsche.  

Die Möglichkeiten zur Geldwäsche mit Kryptowährungen sind vielfältig. So arbeiten beispielsweise Krypto-Händler mit Minern zusammen. Mining ist das Bereitstellen von Rechenleistung, um Transaktionen zu verarbeiten und zu verifizieren – dies wird den Minern für gewöhnlich ebenso in Kryptowährung entlohnt.  Wenn Miner eine überhöhte Rechnung erstellen, die Händler mit Bitcoin oder einer anderen digitalen Währung bezahlen, können illegale Gelder durch gefälschte Papiere in legitim aussehende Einkünfte umgewandelt werden.  

Eine andere Taktik ist die Verwendung von Mixern, die auch als Tumbler bezeichnet werden. Dabei werden Gelder, die durch kriminelle Aktivitäten erlangt wurden, durch zahlreiche Transaktionen in verschiedenen Krypto-Wallets in mehrere Kryptowährungen umgewandelt. Dieser Prozess findet häufig auf Handelsplätzen statt, die in Ländern mit laxer Feststellung der Kund*innenidentität und schwachen Geldwäschegesetzen betrieben werden, oder auf Handelsplätzen, deren Standorte nicht bekannt sind. 

Kryptoboom unter Auflagen 

Auch bei der wirksamen Bekämpfung illegaler Finanzströme steht Montenegro seit Jahren vor erheblichen Hürden, worauf auch die Europäische Kommission hinwies. Obwohl zwischen 2016 und 2022 insgesamt 80 Finanzermittlungen eingeleitet wurden, konnten nur zwei erfolgreich abgeschlossen werden. In den meisten Fällen werden die Finanzermittlungen aufgrund ihrer Komplexität erst nach den strafrechtlichen Ermittlungen gestartet, was es schwierig macht, die illegalen Finanzströme aufzuspüren und zu beschlagnahmen. Die Zahl der Geldwäschefälle vor Gericht steigt, doch die Zahl der daraus resultierenden Urteile bleibt bemerkenswert niedrig. In den Jahren 2021 und 2022 wurden nur zwei Urteile gegen drei Personen gefällt, und das auch nur aufgrund von Geständnissen gegen mildere Strafen. 

Trotz des Fehlens aktueller Vorschriften behauptet die Zentralbank, dass Kryptowährungen keine unmittelbare Bedrohung für das lokale Bankensystem darstellen. Diese Haltung ist jedoch keine Garantie für die zukünftige Stabilität. In Anbetracht der Geschichte Montenegros mit Zigaretten- und Drogenschmuggel sowie der weit verbreiteten Korruption auf hoher Ebene ist es notwendig, robuste Regulierungsmaßnahmen zu ergreifen. Das Land sollte die 2023 verabschiedeten EU-Vorschriften für Kryptomärkte und Geldtransfer vorbereiten sowie den europäischen Pass für Kryptowährungsdienstleister einführen. Denn wenn Montenegro wirklich anstrebt, eine Krypto-Oase zu werden, muss es ein maßgeschneidertes Regulierungssystem entwickeln und seine Kompetenz im Bereich der Finanzermittlung und -untersuchung verbessern.  

 

Saša Đorđević ist Senior Analyst bei der Global Initiative Against Transnational Organized Crime und Doktorand an der Fakultät für Strafjustiz und Sicherheit in Slowenien. 

Anesa Agović ist Journalistin und Forscherin. Seit 2020 ist sie Feldkoordinatorin für Bosnien und Herzegowina bei der Global Initiative Against Transnational Organized Crime.   

In Belgrads Straßen sind Geheimnisse nicht sicher

In Absprache mit China montierte das serbische Innenministerium tausende Kameras zur biometrischen Gesichtserkennung. Trotz der versuchten Geheimhaltung, fand die Zivilgesellschaft ihre Standorte und technischen Spezifika heraus, wie DANILO KRIVOKAPIĆ in seinem Gastbeitrag erklärt. 

Nach drei Jahren harter Verhandlungen verabschiedete die Europäische Union 2024 ihr Gesetz zur Regulierung künstlicher Intelligenz (KI) und bestätigte dabei die Vorreiterrolle der EU in diesem Bereich. Vor dem globalen Hintergrund stellt das Gesetz einen mutigen Schritt dar, denn wie aus unserer kürzlich durchgeführten Untersuchung „Beyond the Face: Biometrics and Society“ hervorgeht, gibt es nur wenige bis gar keine umfassenden rechtlichen Bemühungen, den Einsatz von KI in ihrer schädlichsten Form – der menschlichen Gesichts- und Verhaltenserkennung – einzudämmen. Ob in den Vereinigten Staaten, Australien, China, Brasilien, Südafrika oder den Vereinigten Arabischen Emiraten: Die jeweiligen Vorschriften decken die Risiken der bereits eingesetzten Technologien nicht einmal ansatzweise ab.  

Menschenrechtsorganisationen in Serbien äußern ebenfalls Bedenken über die Transparenz, menschliche Aufsicht und den Datenschutz in Bezug auf die vorgeschlagenen oder verabschiedeten KI-bezogenen Gesetze. Als EU-Beitrittskandidat übernimmt Serbien nach und nach EU-Rechtsstandards, doch bei deren effektiven Umsetzung und insbesondere im Bereich der Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Unabhängigkeit der Justiz und der Korruption bestehen weiterhin Probleme. Die jüngsten globalen Entwicklungen haben die Situation im Land noch komplexer gemacht. Die politischen, wirtschaftlichen und technologischen Einflüsse aus Russland und China setzen Serbien weiteren geopolitischen Spannungen aus.  

Unter dem Vorwand der Sicherheit 

Anfang 2019 kündigten die serbischen Behörden Pläne zur Einführung eines Systems zur Gesichts- und Nummernschilderkennung an, das die gesamte Hauptstadt Belgrad erfassen sollte. Solche Maßnahmen würden die Sicherheit der Bürger*innen gewährleisten und die Regierung betonte, dass die ständige automatische Überwachung „nicht missbraucht werden kann“. Details bezüglich technischer Einzelheiten, finanzieller Auswirkungen, angestrebter Ziele oder Vorkehrungen zum Schutz vor möglichen Menschenrechtsverletzungen gab sie jedoch nicht bekannt. Vertreter*innen der Zivilgesellschaft, die über Anträge auf Informationsfreiheit versuchten an Informationen zu gelangen, wurden abgewiesen. 

Der SHARE Foundation ist es dennoch gelungen, die Hintergründe zumindest teilweise aufzuklären. Im Rahmen eines stillen Abkommens über die wirtschaftliche und technische Zusammenarbeit zwischen Serbien und China entstand die Initiative „Sichere Gesellschaft“, die Informations- und Kommunikationstechnologien stärken und die Sicherheit von Bürger*innen verbessern sollte. Huawei, der damalige Hauptpartner der Initiative, veröffentlichte unbeabsichtigt Details: Eine Fallstudie auf der Website des Unternehmens beschrieb die technischen Besonderheiten der Systeme und verwies auch auf den Kontakt mit dem serbischen Innenministerium. Nachdem die Medien darüber berichteten, entfernte Huawei die Fallstudie umgehend.  

Die Hauptkritik an diesen Maßnahmen ist das völlige Fehlen einer vorhergehenden öffentlichen Debatte über die Notwendigkeit eines solchen Systems und über die spezifischen Probleme der öffentlichen Sicherheit, zu deren Lösung es beitragen sollte. Die ständige und wahllose Überwachung öffentlicher Räume verstößt an sich gegen die Verfassungsbestimmungen zum Schutz der Menschenrechte und es gab keine Begründung, warum eine Ausnahmeregelung erforderlich ist. Nichtsdestotrotz begannen die Behörden mit der Installation der intelligenten Kameras in Belgrad, insbesondere zu Beginn der COVID-19-Pandemie im Jahr 2020, als die öffentliche Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt wurde. 

Netz aus Kameras 

Aufgrund der fehlenden offiziellen Angaben nahm die Öffentlichkeit die Ermittlung der Standorte der intelligenten Kameras selbst in die Hand. Die Bürgerinitiative #ThousandsOfCameras (#hiljadekamera) erstellte eine Karte, auf der die verifizierten Standorte, die Anzahl und die technischen Daten dieser Kameras verzeichnet waren. Diese Karte unterschied sich sehr deutlich von der Liste der Kamerastandorte, die die Polizei später veröffentlichte. Auf ihr wurden dreimal weniger Kameras in Belgrad angeführt. Nachdem sich der öffentliche Druck auf sie erhöhte, aktualisierte die serbische Polizei ihre Liste, veröffentlichte sie aber nie in Form einer Karte, sondern lediglich die Namen von Straßen und Kreuzungen. 

Um das Bewusstsein für die Kameras in der Öffentlichkeit zu schärfen und dem vorherrschenden Narrativ entgegenzuwirken, brachten Aktivist*innen auffällige Aufkleber mit QR-Codes an Kameramasten an. Auch von der Überwachung inspirierte Kunstinstallationen tauchten überall in der Stadt auf. Eine erfolgreiche Crowdfunding-Kampagne machte sogar eine eigene Modekollektion, #hiljadekamera, beliebt, während Websites, kurze Videodokumentationen und Podcasts sich dem Thema widmeten. 

Ende des Sommers 2021 verlagerten sich der Diskurs und die Sorgen rund um die biometrische Überwachung in Serbien auf die legislative Ebene. Das Innenministerium leitete eine als öffentlich bezeichnete, aber unauffällige Debatte über ein vorgeschlagenes neues Polizeigesetz ein, das gesetzliche Bestimmungen für den Einsatz biometrischer Massenüberwachung vorsah. Lokale Menschenrechtsorganisationen erhielten erhebliche Unterstützung von globalen und regionalen Organisationen gegen dieses Vorhaben und innerhalb von zwei Tagen zog das Ministerium den umstrittene Vorschlag zurück. Damit tauchte Serbien auf der Landkarte des weltweiten Kampfes gegen biometrische Überwachung auf.  

Ein unheimlicher Trend 

Biometrische Technologie verwendet menschliche Merkmale zur Identifizierung von Personen. Werden diese Systeme im öffentlichen Raum eingesetzt, kann dies als biometrische Massenüberwachung betrachtet werden. Sie beruht auf der willkürlichen Erfassung, Verarbeitung oder Speicherung sensibler biometrischer Daten in großem Maßstab ohne Kontrolle oder Wissen der jeweiligen Personen. Expert*innen und Aktivist*innen warnen immer wieder, dass dies die Grundrechte und -freiheiten unangemessen einschränkt. Das Gefühl, ständig überwacht zu werden, habe eine Abschreckwirkung und könne dazu führen, dass Menschen weniger am öffentlichen Leben teilnehmen.  

Im Buch „Beyond the Face: Biometrics and Society“, das im Dezember 2023 auf der Tactical Tech in Berlin und im Europäischen Parlament)vorgestellt wurde, untersuchen die Autor*innen die Verwendung biometrischer Massenüberwachung, die rechtlichen Rahmenbedingungen und die Risiken, die sie für Menschen und insbesondere gefährdete Gruppen auf der ganzen Welt, darstellen. Betrachten wir die rasanten Entwicklungen in diesem Bereich, ist die Studie keineswegs vollständig. Sie bietet aber eine umfassende Momentaufnahme des weltweiten Status quo der biometrischen Überwachung im Jahr 2023. Zudem gibt sie einen Überblick über dokumentierte Fälle aus den Bereichen Polizeiarbeit, Grenzkontrolle und Crowd Management aus Myanmar, Großbritannien, Frankreich, den USA – und Serbien. 

Zurzeit ruht der zivile Kampf um öffentliche Räume frei von willkürlicher Überwachung in Serbien. Mehrere Verantwortliche wurden entlassen und Gesetzesentwürfe zur Überarbeitung zurückgezogen. Das KI-Gesetz der EU bringt etwas Erleichterung, da es neue Maßstäbe für risikobasierte Schutzmaßnahmen setzt und dringend benötigte neue Perspektiven aufzeigt. Gleichzeitig bleibt abzuwarten, inwieweit dieses KI-Gesetz die serbischen Gesetzgeber*innen beeinflussen wird. Denn es scheint sicher, dass die Regierung ihr Bestreben nach teurer und komplexer biometrischen Massenüberwachung nicht völlig aufgegeben hat. Sie sieht sich in den globalen Trends zur Versicherheitlichung der Gesellschaft bestätigt, die die Unterschiede zwischen Demokratien und autokratischen Regimen verwischen. Und obwohl keine Rechtsvorschriften erlassen wurden, werden immer noch in ganz Serbien biometrische Überwachungssysteme installiert. 

Und so hängen weiterhin Tausende von intelligenten Kameras über unseren Köpfen, auf unseren Straßen und Plätzen, und erinnern uns auf unheimliche Weise daran, dass unsere Körper nur einen Klick davon entfernt sind, zu digitalisierten Objekten in einem dystopischen Experiment zu werden.  

 

Danilo Krivokapić ist Direktor der SHARE Foundation, einer in Belgrad ansässigen Organisation für digitale Rechte. Er ist Mitbegründer der Initiative #hiljadekamera, die sich für den verantwortungsvollen Einsatz von Überwachungstechnologie einsetzt. 

Nostalgie im Kleiderschrank?

Litauen erlebt einen Secondhand-Boom. Warum sich gebrauchte Mode großer Beliebtheit erfreut, die Gründe aber eher praktisch als sentimental sind, erklärt MILANA NIKOLOVA in ihrem Gastbeitrag.

Im Herzen der Altstadt von Vilnius ist es nicht schwer, Souvenirs und Replika aus der Sowjetzeit zu finden. Das Angebot reicht von Pins über Münzen bis hin zu Filmplakaten und militärischen Antiquitäten. Tourist*innen der litauischen Hauptstadt greifen gerne zu diesen Erinnerungstücken, während sich die Begeisterung der Einheimischen zurückhält. Tatsächlich sind kommunistische Symbole in Litauen seit 2008 verboten, doch das Verbot gilt nicht für Bildungszwecke oder den Handel mit Antiquitäten. Daher ruft auch der Vilnius Collectors’ Club einmal in der Woche zum Verkauf von Gegenständen aus der kommunistischen Ära auf. 

Abgesehen von Souvenirshops finden Bummler*innen auch zahlreiche Secondhand-Läden. Die weltweit steigende Beliebtheit gebrauchter Ware und Mode macht auch vor den baltischen Staaten keinen Halt. Es gibt unterschiedliche Gründe für diesen Trend, darunter Nachhaltigkeit, Erschwinglichkeit, oder die Suche nach besonderen Einzelstücken. Doch steckt hinter dem Hype für Vintage auch ein Hauch von Nostalgie?  

Tatsächlich ist Litauen eines der post-kommunistischen Länder, das am wenigsten von nostalgischen Gefühlen für die Vergangenheit geprägt ist. Gleichzeitig ist es ein Land, in dem Secondhand-Shopping besonders beliebt ist. Eine der weltweit bekanntesten Start-ups für den Wiederverkauf von Gebrauchtware, Vinted, hat seinen Hauptsitz in Vilnius.  Zuletzt wurde der Wert des Unternehmens auf 4,5 Milliarden US-Dollar geschätzt. Anfang 2023 belief sich die Zahl aktiver Nutzer*innen auf der App in der EU auf 37,4 Millionen. 

Neu kaufen war gestern 

Das Konsumverhalten in weiten Teilen der westlichen Welt änderte sich zwischen 2019 und 2023 deutlich. Einer Umfrage von Statista Consumer Insights zufolge stieg der Anteil der Befragten, die zumindest einmal im vergangenen Jahr gebrauchte Ware kauften, in diesem Zeitraum im Vereinigten Königreich von 50% auf 61%, in Frankreich von 40 % auf 57% und in Deutschland von 41% auf 55%. Für Mittel- und Osteuropa gibt es noch keine vergleichbaren Erhebungen, aber in einigen Ländern der Region kann ein ähnlicher Trend festgestellt werden. So wuchs in Polen der Markt für gebrauchte Kleidung laut dem Unternehmen ThredUp im Jahr 2022 um 18%. In einem Euronews-Bericht aus demselben Jahr heißt es, dass Secondhand-Läden in Tschechien insbesondere nach der Pandemie und aufgrund der steigenden Inflation an Beliebtheit zunahmen. Auch online interessierten sich im Zeitraum 2019 bis 2023 mehr Menschen für Gebrauchtware als für neue: 94% der Europäer*innen suchten auf Amazon zuerst nach gebrauchten Artikeln, bevor sie auf neue zurückgriffen, so eine Untersuchung des Online-Händlers. 

Vintage in Litauen: jung und weiblich 

Forscher*innen der LCC International University und des Klaipėda State College untersuchten im Jahr 2023 Kund*innen, Beschäftigte und Spender*innen von litauischen Secondhand-Läden. Anhand von Umfragen und Interviews fanden sie, dass rund 90% der Befragten weiblich waren, rund 40% waren zwischen 18 und 25 Jahre alt, und jeweils 17% entweder zwischen 26 und 30 Jahre oder zwischen 36 und 45 Jahre alt. In Litauen sind es demnach insbesondere junge Frauen, die sich für Secondhand-Shopping begeistern. 

Die Ergebnisse deuten außerdem darauf hin, dass Käufer*innen in erster Linie aufgrund des niedrigeren Preises und einzigartiger Fundstücke Secondhand-Läden aufsuchen, während Spender*innen von Kleidung mehr von dem Gedanken an die Wiederverwendung von Ressourcen angetrieben werden. Die Studie kam auch zu dem Schluss, dass Secondhand-Läden längerfristig positive Auswirkungen auf die Umwelt haben können, wenn sie ihre Kund*innen und die Öffentlichkeit für die Vorteile des Secondhand-Konsums sensibilisieren. Ieva Zilinskaites, Forscherin für Nachhaltigkeit an der Universität Lund, beobachtet eine schnell wachsende Slow-Fashion-Szene in Litauen, die der Wegwerfgesellschaft und Ausbeutung von Textilarbeiter*innen entgegentreten möchte. 

Kein Platz für Nostalgie 

Auch wenn der ein oder andere Secondhand-Laden und Flohmarkt kommunistische Memorabilia verkauft, hat der Trend zu Gebrauchtware in Litauen nichts mit Nostalgie zu tun. Eine Erhebung des Pew Research Centers aus 2016 zeigt, dass Litauer*innen kaum zur kommunistischen Nostalgie neigen. Nur 23% denken, dass die Auflösung der Sowjetunion negative Folgen für ihr Land hatte. Unter den ehemals sowjetischen Ländern zeigt nur die Estland ein geringeres Maß an Nostalgie. Im Gegensatz dazu ist die Nostalgie in Armenien am größten, wo 79% der Menschen den Zusammenbruch der Sowjetunion bedauern, gefolgt von Russland mit 69%. 

Die vergleichsweise geringe Nostalgie der Litauer*innen überrascht nicht, wenn man bedenkt, dass Litauen die erste Sowjetrepublik war, die ihre Unabhängigkeit wiedererlangte und seither bemerkenswerte wirtschaftliche Fortschritte verzeichnet. Auch die Mitgliedschaft in der NATO, in der EU und in der Eurozone hat sich das Land erfolgreich gesichert. Doch was ist mit den verbleibenden 23%, die der Sowjetunion ein besseres Zeugnis ausstellen? In einem Interview mit dem litauischen Rundfunk sagt Ainė Ramonaitė dazu: „Die ersten Jahrzehnte der Unabhängigkeit waren schwierig. Doch wir sprechen nicht über die Folgen der Wende, wir schweigen und sagen, wenn jemand Probleme hatte, ist das ihre Sache.“ Die Professorin am Institut für Internationale Beziehungen und Politikwissenschaft der Universität Vilnius vertritt die Auffassung, dass diese Gefühle andauern, bis die Traumata aus den Jahren nach der Wende aufgearbeitet werden. 

Vor allem der russische Angriffskrieg in der Ukraine mache es aber schwierig, über die Sowjetzeit zu sprechen. „Die meisten sagen, das diene der russischen Erzählung. Es hilft allerdings auch nicht in offiziellen Diskursen zu schweigen, denn die Leute reden sowieso“, so Ramonaitė. Nostalgie für die Sowjetzeit bedeute nicht gleich, dass Menschen prosowjetische Einstellungen teilen, sondern, dass sie auch von der darauffolgenden Transformation nicht profitierten. In der Tat sind nostalgische Gefühle für die Sowjetzeit vor allem in weniger wohlhabenden und ländlichen Gegenden Litauens verbreitet. In ihnen hat sich das Leben seit der Wende nicht so stark verbessert wie in den Städten. 

Secondhand hat viele Facetten 

Auch Secondhand-Mode ist historisch gesehen mit Klasse und sozialer Ausgrenzung verbunden. Die von der LCC International University und dem Klaipėda State College durchgeführte Studie spiegelt diese Realität wider. Aus den gesammelten Daten geht hervor, dass rund 33% der Gebrauchtwarenkäufer*innen Teilzeitbeschäftigte waren, während 20% arbeitslos waren. 38% verdienten weniger als den Mindestlohn von 430 Euro.  Weitere 22% gaben an, dass das monatliche Budget ihrer Familie zwischen 1400 und 2000 Euro liege und damit unter dem durchschnittlichen monatlichen Haushaltseinkommen des Landes, das laut OECD im Jahr 2022 2.074 Euro betrug.   

Obwohl es einen Zusammenhang zwischen geringerem Wohlstand und einer stärkeren Neigung zur Nostalgie sowie dem Kauf von Gebrauchtwaren zu geben scheint, wäre es zu einfach, die Faszination der Litauer*innen für Secondhand-Mode ausschließlich auf Sowjet-Nostalgie zurückzuführen. Ähnlich wie bei den weltweit zu beobachtenden Trends sind die Manifestationen dieses Einkaufens in Litauen vielfältig und reichen von sowjetischen Gimmicks auf den Straßenmärkten von Vilnius bis hin zur Schaffung eines der international bekanntesten Start-ups für gebrauchte Mode. Je weiter der Trend voranschreitet, desto deutlicher wird, dass die Vorliebe der Litauer*innen für Secondhand-Mode ein komplexes Zusammenspiel von Werten und Bestrebungen widerspiegelt, das von wirtschaftlichen Faktoren über Umweltbewusstsein bis hin zu Kreativität und Unternehmergeist reicht. 

 

Milana Nikolova ist Journalistin. Sie arbeitet und lebt in den Niederlanden, wo sie auch ihr Masterstudium in European Studies absolvierte. 

IDM Short Insights 36: Why do European Elections 2024 matter?

 

EU citizens across all Member States will soon be electing representatives to the European Parliament. Why is it important to vote and why should you use your vote? In the newest IDM Short Insight, the IDM team explains their motivations behind casting a ballot between 6 and 9 June, and highlights the perspectives of those who can (no longer) vote.


Transcript:

Hi, I’m Sebastian. And I’m Sophia. We’re both from Germany. But we will vote here in Austria. In the past five years, a lot has changed here at IDM. And also in the European Union. The European Union needs reform, but that doesn’t mean that we should vote for extremist parties. Only a strong and united Europe that upholds democratic and European values will be able to face the challenges that are lying ahead. 

Hey, my name is Daniel and I’m originally from Czechia and I will be voting also in Czechia. But actually it doesn’t matter where you are voting, the most important thing is actually that you are voting. Because you know, no matter if you are speaking about local, regional, national or European elections, for me I always perceived going to vote as a kind of matter of course, as a civic duty. I think actually everyone should perceive it this way. 

Hi, I’m Francesco. I’m a trainee at the IDM and I will vote in Italy, the country I’m from, because I don’t want anyone else to choose for me. I want to have my choice in the next European elections. Hi, I’m Peter from Hungary, but I could vote in three different countries, but I think I will vote in the country where Europe needs maybe more support, and I think that is the reason why you have to vote, because Europe needs support. 

I’m Malwina, I come from Poland, but this time for the first time I will be voting in Austria. I will vote because I have seen what positive and transformative impact the EU accession had on my country and also on my life. And I want to ensure that parties that will get to the European Parliament will keep up this good work. I’m Rebecca and I’m from England and I would love to vote in the elections, but I can’t because my country left the EU. So that’s why I appeal to you: don’t take it for granted, use your voice and appreciate what you have. 

Vergangenheit ohne Wiedererkennungswert

Die sozialen Räume der Nostalgie sind in Polen entweder selektiv oder übertrieben kitschig. KAROLINA GOLINOWSKA findet die authentischsten Formen der Nostalgie im polnischen Kultursektor.

Wer durch die Warschauer Innenstadt schlendert, kann sie heute kaum übersehen: Weiß-rote Flaggen zieren das Straßenbild, es findet ein großer Umzug statt. An diesem 3. Mai begehen die Pol*innen den „Tag der Verfassung“. Sie gedenken der ersten modernen Verfassung Europas, die 1791 in der polnischen Hauptstadt unterzeichnet wurde. Nur wenige Straßen weiter können Besucher*innen des Museums „Leben in der Volksrepublik Polen“ auf einem nachgebildeten kommunistischen Kinderspielplatz Himmel und Hölle spielen. Weniger Aktive nehmen auf den muffigen roten Klappsesseln in einem nachgeahmten Kinosaal Platz. Die Formen der Nostalgie in Polen sind vielfältig und schaffen eine Simultanität verschiedener historischen Zeiträume. 

Nostalgie ist eine der möglichen Annäherungen an die gemeinsame Vergangenheit. Durch Wiederholung gewinnen nostalgische Praktiken an Bedeutung und festigen sich im sozialen Gedächtnis. Doch nicht immer beinhaltet Nostalgie ein politisches Element, wie Marketingstrategien – zugeschnitten auf Konsumbedürfnisse – beweisen. Aus diesem Grund möchte ich drei verschiedene Arten von Nostalgie unterscheiden, die sich auf die zeitgenössische Kultur in Polen beziehen. 

Wie viel Staat braucht der Kultursektor? 

Die Sehnsucht nach der Volksrepublik wird oft direkt von älteren Generationen geäußert. Sie sind unzufrieden mit den kulturellen Aktivitäten junger Menschen, denn die sogenannten „klassischen“ Formen der kulturellen Teilhabe werden immer unbeliebter. Vorbei scheint die Zeit, in der Musiksäle, Opernhäuser und Theater ein junges Publikum begeisterten. Zu Zeiten der Volksrepublik hingegen sahen es die „kultivierten“ Schichten als ihre persönliche Pflicht, diese Angebote in Anspruch zu nehmen – schließlich demonstrierten sie damit soziales Ansehen. Die heutigen kulturellen Praktiken haben sich nicht zuletzt durch die technologischen Entwicklungen verändert, klassische Kulturformen verlieren scheinbar an Attraktivität. 

Seit den 2000er Jahren wächst allerdings die Zahl der Angebote, die auf kulturelle Teilhabe, Bildung und kulturelles Engagement abzielen. Kultureinrichtungen führen Projekte ein, um Chancengleichheit herzustellen, indem sie versuchen, Bildungs- und Sozialdefizite abzubauen. Diese Projekte werden in der Regel von staatlichen Institutionen finanziert. Schlagworte wie „Einbeziehung sozialer Randgruppen“ finden sich in solchen Programmen zuhauf. Sie betonen die Notwendigkeit, Kinder für zeitgenössische Kultur zu sensibilisieren. Dabei gehen sie davon aus, dass Investitionen in die jüngste Generation einen bedeutenden Einfluss auf ihre spätere Teilhabe an Kultureinrichtungen haben wird. In vielen dieser Leitsätze schwingen Grundgedanken aus der Volksrepublik mit. So beschäftigte sich der polnische Soziologe Aleksander Wallis bereits 1981 mit dem Problem der Zentralisierung des kulturellen Lebens, besonders in den Bereichen Kunsterziehung und kulturelle Infrastruktur. Ein besonderes Anliegen war ihm die Stärkung von Kultureinrichtungen im ländlichen Raum. Auch heute, Jahrzehnte nach der Wende, ist klar, dass dies nur mit staatlicher Unterstützung gelingen kann. 

Selektive Nostalgie als verbindendes Element 

Eine weitere soziale Praxis, die als nostalgisch bezeichnet werden kann, finden wir im öffentlichen Raum. Staatliche Feiertage aus der Zeit der Volksrepublik werden heute als totalitäre Propaganda wahrgenommen, obwohl sich viele von ihnen auch auf prä-kommunistische Ereignisse bezogen. Jegliches Gedenken an Lenin oder Stalin wurde aus dem Staatskalender radiert und durch neue Anlässe zum Feiern ersetzt. Der Soziologe Przemysław Sadura schrieb im Jahr 2013 dazu: „Die Lehrer*innen, die uns damals auf die Maiparade mitgenommen hatten, nahmen uns nun zu den Messen zu Ehren des Vaterlandes am 3. Mai mit.“ 

Auch andere öffentliche Zeremonien zu Ehren kommunistischer Führer oder deren Gedankengutes wurden durch historische Jahrestage ersetzt, an denen oft siegreiche Schlachten rekonstruiert werden, wie die Gorlice-Offensive von 1915 (als österreichisch-ungarische und deutsche Armeen die russische besiegten), die Schlacht von Mława 1920 (Sieg im polnisch-sowjetischen Krieg) und die Radłowska-Offensive von 1939 (Rekonstruktion einer polnisch-deutschen Schlacht). Solche Shows bedienen die Sehnsucht nach einer „Erfahrung der Zusammengehörigkeit“, die als nostalgisch bezeichnet werden kann. Denn das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein, ging im Laufe der Transformation zunehmend verloren. Darüber hinaus unterstützen solche Veranstaltungen die Schaffung einer selektiven polnischen Geschichte, um das „richtige“ kollektive Gedächtnis zu stärken. 

Einmal Nostalgie light, bitte! 

Schließlich ist Nostalgie durch Produkte und deren Konsum als dritte soziale Praxis zu nennen. Die Nostalgieindustrie wächst in den meisten Ländern des Ostblocks als scheinbar natürliche Reaktion auf die zunehmende zeitliche Entfernung zu diesem historischen Abschnitt. Nostalgie wird amüsant und ideal für die Bedürfnisse des zeitgenössischen Konsumverhaltens präsentiert. Hier besteht das Grundprinzip darin, ein Gefühl der Verbundenheit mit der farbenfrohen und „exotischen“ Vergangenheit zu schaffen, insbesondere bei den jüngeren Generationen, die sie nicht miterlebten. Das Gefühl, etwas verloren zu haben, wird in vielen Facebook-Profilen wie „Born in the PRL“ oder „Pewex“ (ehemalige polnische Ladenkette für vorrangig westliche Waren) deutlich. 

Am greifbarsten wird diese Sehnsucht nach scheinbarer Authentizität wohl im Museum „Leben in der Volksrepublik Polen“. Hier können Besucher*innen durch verschiedene Zimmer mit für die damalige Zeit typischen Wohnungsinterieurs spazieren, oder eine bunte Sammlung aus alten kommunistischen Geräten und Waren bestaunen. Das Privatmuseum präsentiert eine Geschichte, die einfach, unterhaltsam und unpolitisch erscheint. Dasselbe gilt für Bars, deren Design direkt von Einrichtungen der Kneipen in der Volksrepublik inspiriert ist. Die meisten von ihnen heißen Pub PRL oder Pijalnia Wódki i Piwa (Wodka- und Biertrinkraum), was die ursprüngliche Bezeichnung für Kneipen im kommunistischen Polen war. Einige von ihnen versuchen authentischer zu wirken, indem sie jedes noch so kitschige kommunistische Souvenir ausstellen. Diese Übertreibung verfälscht allerdings die Geschichte, und lässt sie zu einer leicht konsumierbaren, sanften, aus dem soziopolitischen Kontext herausgelösten Vergangenheit verkommen. 

Im Umgang mit der polnischen Vergangenheit wird jede positive Äußerung über die kommunistische Zeit als moralisch verwerflich gehandelt. Nostalgie ist offenbar nur legitim, wenn die Vergangenheit übertrieben, humoristisch oder kitschig dargestellt wird. Und so zeigt sich die authentischste Form der Nostalgie heute wohl in den Bestrebungen von Kultureinrichtungen, marginalisierte Menschen einzubeziehen. 

 

Karolina Golinowska ist Dozentin am Institut für Kulturwissenschaften der Kazimierz Wielki Universität in Bydgoszcz, Polen. Sie ist spezialisiert auf kulturtheoretische Studien mit Schwerpunkt auf kulturellem Gedächtnis, kulturellem Erbe und den Praktiken seiner Institutionalisierung. 

How Can South Balkan Countries assist Ukraine in Obtaining Ammunition?

Ukraine needs weapons to effectively counter the Russian invasion. In the latest article on the IDM Blog, Rigels Lenja explores whether and how South Balkan countries could support Ukraine with ammunition, and why their stockpiles would be particularly valuable to Ukraine.

On 27 February 2024, the Ukrainian President landed in Tirana to hold a summit with the countries of Southeastern Europe (SEE) at the initiative of Albanian Prime Minister Edi Rama. The SEE-Ukraine summit was tended to increase the public support regionally and internationally for the Ukraine, and boost the regional weaponry production. Attendees at the summit were remarkably diverse. They ranged from the most outspoken supporters of Ukraine in SEE – Albania, Kosovo, North Macedonia, and Croatia all the way to the only European countries that did not adopt sanctions against Russia: Serbia and Bosnia and Herzegovina (henceforth BiH). Followed by Moldova which is the second country in Europe with Russian troops on its territory.

The summit ended with a 12-point statement, considering the Russian attack against Ukraine as the biggest continental and regional security threat, flagrant violation of the UN Charter, and full support for Ukraine to join NATO and the EU. This was followed by the Ukrainian proposal to set up a Ukrainian-Balkans defense forum in Kyiv to boost weaponry production in the same style as the Kyiv-London, and Kyiv-Washington DC defense forum format. The summit fell short of mentioning sanctions or countermeasures to Russian propaganda, and malign actions in the region, due to the Serbian President Vucic’s request. Serbia and BiH are the only SEE countries who had not put any sanctions against Russia.

Win-Win Situation

The summit could have achieved a more favourable outcome if Bulgaria, Romania, Greece and Turkey had attended. Global Firepower reported that Turkey possesses 1,747 artillery pieces (compare to USA with roughly 1,300), followed by Greece with 729 and Romania with 720.

The crucial issue is: can SEE countries provide Ukraine with any type of much needed assistance in its war against Russia? In financial terms, virtually all of these countries are unable to provide serious aid. The region has been confronted for quite some time confronted with a wave of Russian disinformation propaganda, and malign actions, as in the case of the coup d’état in Montenegro in 2016 to prevent the country’s accession to NATO, or Moscow’s ambassador in Sarajevo, who frequently inflames domestic disputes, as in March 2022 when he suggested that Russia would intervene if BiH joined NATO. The exchange between Kyiv and the Balkan capitals will not only benefit Ukraine but can also provide useful insight on how to confront Russian propaganda and malign actions or indeed track fighters joining Russia in eastern Ukraine.

Tracking Ammunition

Due to the redeployment of the Russian army and the shortage of ammunition reaching the Ukrainian front as a result of the West’s failure to deliver, Russia was able to stabilize the front and advance further.

However, the Balkan countries can provide the much-needed ammunition for Ukraine more effectively and quickly than the West. Bulgaria, one of the poorest EU countries, was reported to have delivered a third of the ammunition used by the Ukrainian armed forces and 40% of the diesel used by the Ukrainian military until March 2023. Since the beginning of the war, Bulgaria has allocated roughly $245 million of aid, followed by Croatia with $190 million. Bulgaria’s assistance played the most important part in preventing the Russian advance on Kyiv. The Czech initiative has raised enough money to buy or produce 800,000 pieces of 122 mm and 155 mm calibre artillery shells, displayed that also small countries can help Ukraine to obtain much needed weapon.

The SEE states were all either part of the Warsaw Pact (with the exception of Albania, which withdrew in 1968) or Yugoslavia, and were heavily militarized, producing and manufacturing a huge amount of armaments. Successor states of Yugoslavia were left with vast numbers of weapons after its collapse in the 90s, which was followed by a devastating civil war with more than 200,000 victims. In terms of civilian-owned weapons, Serbia and Montenegro are joint third place with 39.1 firearms per 100 inhabitants, topped only by the USA and Yemen. BiH, North Macedonia and Kosovo are in 10th, 12th and 13th place respectively.

The former members of the Warsaw Pact still have a significant amount of Soviet-era ammunition, which is being used extensively by Ukraine. In addition, Ukrainian soldiers are better prepared to use and deploy Soviet ammunition rather than hi-tech weaponry systems, which considering the limited time for training and usage by non-professional soldiers require too much time to learn how to use them. From this perspective, it would be beneficial for SEE offer their remaining Soviet ammunition to Kyiv, since these stockpiles are no longer needed. None of the countries in the area have military plans to invade or attack any of their neighbours, apart from Serbia’s attitude towards Kosovo. Sending this ammunition to Ukraine would reduce the defence budget spent on maintaining and safeguarding the stockpile.

How many artillery shells do the Balkan countries possess? The last report is from 2011, there is no new publication in the additional none of the SEE countries has an open public register of the weaponry they possess. In the last Small Arms Survey report from December 2011, Albania had around 2,500 tonnes of type 122-152 mm artillery shells, North Macedonia declared 16,000 units of 100 mm shells and 9,000 units of 128 mm shells. Serbia reported more than 30,000 units of 105 mm and 15,000 of 130 mm artillery shells. The leading arms and ammunition manufacturers in the region are Serbia, followed by Bulgaria and Turkey. Serbia is even reported to have supplied weapons and ammunition worth 14 million euros to Israel following the terrorist attack by Hamas on 7 October 2023.

The second step the region can take to provide support to Ukraine is to redeploy the armaments factories still in full operation. As this conflict has turned into a war of tranches, intensive artillery shelling which were elements that prevailed under Soviet military guidance, the Balkan countries possess expertise that could be of benefit to Kyiv. Albania, North Macedonia, and Bulgaria have old, outdated manufacturing facilities with few investments can return to operation. Even though Turkey has delivered Bayraktar drones, there is potential for more. Bulgaria is reported to have sold weapons to friendly, currently pro-Western states such as Algeria, Angola and Mozambique. In 1989, Bulgaria profited from selling weapons and ammunition for roughly $1 billion. Yugoslavia, the biggest arms producer in the region during the Cold War, is reported to have exported weapons to 67 countries worldwide, allegedly with an average profit of $ 400 million in the 1980s. The key is to track the countries that purchase these weapons and to rebuy them at a lower price.

The third step in supporting Ukraine is to track down Soviet munitions in third countries. Throughout the Cold War, Bulgaria, Yugoslavia, Albania and Romania were either exporting or donating huge volumes of Soviet or Yugoslavian-made weapons to African and Middle Eastern countries fighting anti-colonial wars at the time. In the period from 1955 to 1976 alone, the USSR and the communist states of Eastern Europe transferred arms and ammunition worth around $20 billion dollars through donations or arms deals, of which 77% went to the countries of the Middle East and 13% to African countries. SEE can now rebuy these weapons via regional or NATO mechanisms. The key is to track the countries that purchase these weapons and to rebuy them at a lower price.

While the Balkan countries may lack the capacity to expand their arms production, the West can assist in expanding Soviet-style weapons manufacturing, which the Ukrainian armed forces are able to use effectively, and quickly. It is also an obvious route for the USA or major European countries to avoid long-term domestic debates about the extent to which they can back Ukraine.

 

Dr. des. Rigels Lenja successfully defended his Ph.D. thesis in April 2024 at the Institute of Eastern and Southeastern European History at the Ludwig Maximilian University of Munich. His research is primarily focused on dictatorship, modern warfare, religion and democracy.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Zukunft ist noch nicht vorbei!

Arbeitslosigkeit, Ausgeschlossenheit, multiple Krisen: Die Jugend in den ex-jugoslawischen Ländern scheint perspektivlos. PIA BREZAVŠČEK zeigt, wie Künstler*innen mit Blick in die Vergangenheit die Zukunft zurückerobern.

Womöglich sind Sie mit dem Futurismus bekannt. Die in Italien begründete Kunstströmung verbreitete sich Anfang des 20. Jahrhunderts zuerst in Europa und schließlich auch über den Kontinent hinaus. Doch haben Sie auch vom Jugofuturismus (Yugofuturism, YUFU) gehört? Im kommenden versuche ich, Ihnen die künstlerisch unausgeschöpften Potenziale dieses Konzepts zu erläutern, das auch unserer Jubiläumsausgabe der Zeitschrift Maska ihren Namen schenkte. 

Maska ist ein über 200 Jahre altes Institut für Verlagswesen und Performancekunst in Slowenien. Nach der 22-jährigen Leitung durch den Künstler Janez Janša* traten wir als neues Team seine Nachfolge an. Wir gehören zu einer Generation, die Jugoslawien nie bewusst miterlebte. Dennoch haben wir Erfahrungen zweiter Hand: die noch existierende Infrastruktur und Architektur, die Geschichten unserer Eltern und Großeltern. Sie wuchsen in einem multiethnisch und sozialistisch geprägten Umfeld auf, in dem die Menschen größtenteils glaubten, eine gemeinsame Zukunft aufzubauen. Wir hingegen sollten globalisierte Kinder einer neugeborenen Republik Slowenien werden. Im Gegensatz zu anderen Nachfolgestaaten Jugoslawiens war unser Abschied vom alten Staat nicht allzu traumatisch, doch der Enthusiasmus für einen neuen slowenischen Nationalstaat wurde durch die Privatisierung und die spätere Finanzkrise schnell gedämpft. Die Wende hat unsere Zukunft abgeschafft. Vor allem Millennials und jüngere Generationen verloren durch die Transformation zum Kapitalismus den Glauben an den „Fortschritt“. Ökologische und politische Krisen lassen uns vielmehr einen Weltuntergang erahnen. 

Der Appell in Form des Jugofuturismus beruht dennoch nicht auf einem Gefühl der Nostalgie. Jugoslawien zerfiel auf eine brutale Art und Weise, was kaum die Folge eines perfekten Staatsmodells sein kann. Der Staat war nicht frei von Nationalismen, Chauvinismus und Aufhetzung – Aspekte, die wir nicht vermissen. Doch in der damaligen Multiethnizität, im sozialistischen Feminismus, im Prinzip der Gleichheit aller Menschen und dem Recht auf ein sinnerfülltes Leben und Freizeit sowie im sozialen Wohnbau sehen wir eine Fülle unausgeschöpfter Potenziale. Jugofuturismus soll kein neues politisches Programm für die Zukunft sein, er ist das Politikum an sich, wieder an die Zukunft zu glauben. Er gibt den Mut, uns die Mitgestaltung der Welt anzueignen und uns nicht einfach den Regeln eines hegemonialen Plans anzupassen. Seit unserer Jubiläumsausgabe 2020 haben wir daher eine Vielzahl unterschiedlicher Projekte realisiert. Autor*innen aus dem ehemaligen Jugoslawien, Bulgarien und dem Vereinigen Königreich trugen bisher mit künstlerischen oder theoriebezogenen Artikeln zu unserer Zeitschrift bei. 2021 organisierten wir eine Konferenz auf der 34. Biennale für grafische Künste in Ljubljana, die dem jugoslawischen Technologiekonglomerat Iskra Delta gewidmet war. Eine weitere Konferenz fand 2022 auf dem Internationalen Theaterfestival BITEF in Belgrad statt. Da wir unser Projekt allen Interessierten zugänglich machen möchten, richteten wir mit der Open Source Programmierergruppe Kompot eine Internetseite ein. Hier kann jede*r Gedanken zum Jugofuturismus teilen und direkt neue Konzepte hinzufügen oder bestehende bearbeiten. So entsteht ein kollaboratives, dezentralisiertes „jugofuturistisches Manifest“. 

Peripherie empowern 

In Anlehnung an das Konzept des Afrofuturismus kann eine weitere politische Dimension auf den Jugofuturismus angewendet werden: Ethnische oder anderweitig marginalisierte Gruppen haben die künstlerische Kraft, Identitäten und Gesellschaften wiederherzustellen oder zu reparieren, die als zukunftslos und rückständig bezeichnet werden. Die Nachfolgestaaten Jugoslawiens unterschieden sich teilweise stark in Bezug auf ihre wirtschaftliche Situation und die Einbindung in die EU. Doch ihnen allen ist eine gewisse Zukunftslosigkeit gemein, die sich in Jugendarbeitslosigkeit, Abwanderung und Wirtschaftsmigration zeigt. Viele haben zudem das Gefühl nur am Rande Europas zu existieren. Aus dieser Perspektive kann der Jugofuturismus eine kreative Erinnerung daran sein, dass eine besondere Kraft in der Einheit liegt. Durch Nationalismen zersplitterte und durch Eurozentrismus entfremdete Menschen können wieder zusammenfinden. Die Autorin Ana Fazekaš schreibt in Maska dazu, dass wir die überwältigenden Gefühle des Zurückbleibens und der Hoffnungslosigkeit nicht bekämpfen, sondern annehmen sollten. In der Akzeptanz dieser Gefühle kann eine gewisse Befreiung liegen, da wir unser Verlierertum endlich bejahen und es nicht mehr schamhaft zu verstecken versuchen. 

Zwischen Utopie und Dystopie 

Nichtsdestotrotz ist Jugofuturismus eine Frage und keine Antwort. Wir versuchen einen kreativen Funken zu entfachen, und Anlässe zu bieten, um sich wieder interregional zu vernetzen. Für die Nachkriegsgenerationen gab es bisher kaum derartige Möglichkeiten. 

Da Maska auch ein Institut für künstlerische Produktion im Bereich der performativen Künste ist, veröffentlichten wir 2022 eine offene Ausschreibung für eine jugofuturistische Performance. Schließlich wurde das Stück „How well did you perform today?“ der bosnischen Performance-Künstlerin Alma Gačanin beim YUFU Cycle Event im Jänner dieses Jahres uraufgeführt. Es zeigt eine feministische Dystopie, die in einem Fitnessstudio der Zukunft spielt. In dem Stück werden sexuelle, emotionale und ausbeuterische Dimensionen der Arbeit erforscht. Außerdem beauftragte Maska Performer*innen und Forscher*innen, sich mit der Idee einer alternativen Zukunft des Künstlers und Forschers Rok Kranjc auseinanderzusetzen: In „Future 14b“ führte ein Alien durch den „Krater“, eine verlassene Baustelle in Ljubljana, und zeigte Stationen unserer utopischen und dystopischen Zukunft. 

In Zusammenarbeit mit Radio Študent, dem ältesten unabhängigen Radio in Europa, entstand zudem eine Reihe von Sendungen und kurzen Experimentalfilmen. Sie handeln von wichtiger Infrastruktur wie Straßen und Eisenbahnen in postjugoslawischer Zeit, Roadtrips der „verlorenen Generation“ und von Kultmodestücken wie den Trainingsanzügen aus den Achtzigern, die heute recycelt werden und wieder im Trend liegen. Für letzteres Projekt arbeiteten wir mit dem Lehrstuhl für Textil- und Modedesign der Fakultät für Natur- und Ingenieurwissenschaften zusammen. Innerhalb eines Semesters verwandelten Studierende alte Trainingsanzüge in Designerstücke zum Thema Jugofuturismus.  

Für uns steht Jugofuturismus erst am Anfang. Mit unserer partizipatorischen Webseite und weiteren künstlerischen und interdisziplinären Initiativen möchten wir den Funken der Kreativität immer wieder neu entfachen und Wege für sinnvolle interregionale und internationale Verbindungen schaffen. 

 

Janez Janša (geboren Emil Hravtin) ist einer von drei slowenischen Künstlern, die sich 2007 nach dem rechtspopulistischen Politiker und ehemaligen Ministerpräsidenten Sloweniens umbenannten. 

»Für Nostalgiker*innen liegt das bessere Morgen hinter uns«

MITJA VELIKONJA erforscht Nostalgie und ihre verschiedenen kulturellen Manifestationen, vor allem im post-sozialistischen Raum. Im Gespräch mit MELANIE JAINDL erzählt er, wie uns Nostalgie etwas über die Zukunft verrät und welche regionalen Unterschiede er beobachtet.

Mit dem Wort „Nostalgie“ assoziieren wir für gewöhnlich die Vergangenheit. Sie beschreiben Nostalgie allerdings als einen Zustand zwischen nicht-mehr und noch-nicht. Was meinen Sie damit? 

Nostalgie erzählt uns immer etwas über die Gegenwart. Wir versuchen, unsere Unzufriedenheit mit der momentanen Situation durch Elemente einer geschönten Vergangenheit zu verbessern. Dabei kreieren wir eine Utopie. 

Inwiefern lässt sich Nostalgie als Utopie verstehen? 

Der Kern der Nostalgie ist der Wunsch nach einer besseren Welt. Esoteriker*innen suchen sie in einer anderen Dimension, Visionär*innen denken, sie könnte durch eine Revolution kommen. Für Nostalgiker*innen liegt das bessere Morgen hinter uns, es ist aber eine Vergangenheit, die so nie existierte. 

Heißt das, in zufriedenen Gesellschaften gibt es keine Nostalgie? 

Ha, zufrieden! Nostalgie ist ein Gefühl, es ist nichts Objektives. Auch Menschen, die vermeintlich alles haben, können nostalgisch sein – sie vermissen das Schlittenfahren als Kinder, oder ihre Lieblingssüßigkeit, die nicht mehr produziert wird. Der große politische Unterschied zwischen Ost- und Westeuropa ist, dass im Osten nach der Wende ein starker systemischer und ideologischer Bruch kam. Deswegen ist Nostalgie dort mehr vom Sozialismus geprägt. 

Sind post-sozialistische Gesellschaften also auch nostalgischer als jene ohne sozialistische Vergangenheit? 

Das kann man so nicht beantworten, weil wir Nostalgie ja nicht messen können. Aber wir finden Nostalgie überall: Make America Great Again! Meine Großmutter hatte nostalgische Gefühle für das Habsburgerreich. Außerdem befindet sich gewissermaßen ganz Europa im post-sozialistischen Kontext. 

Nach der Wende wurde die sozialistische Vergangenheit in den meisten Ländern verteufelt. Das wiederrum vernachlässigt die guten Erfahrungen, die manche im Sozialismus machten. Nicht alle wurden zum Opfer des Systems. Ist Nostalgie demnach immer politische Kritik, oder auch der einfache Versuch, Deutungshoheit über die eigene Vergangenheit zu gewinnen? 

Ich sehe hier einen gewissen Pendeleffekt. Anfang der 1990er dachte niemand, dass Nostalgie für den Sozialismus aufkommen würde. Mitunter ein Treiber der Unabhängigkeitsbestrebung Sloweniens war die Nostalgie für die prä-sozialistische Zeit, als eben das Land Teil des Habsburgerreichs war. Je mehr die Politik aber die neoliberale und nationale Transformation forcierte, desto mehr schwang die Stimmung zurück. Nicht jede*r profitierte von der Wende, in den Balkanländern mischten sich auch ethnonationalistische Gewalterfahrungen dazu. Dennoch ist Nostalgie nicht immer politisch, manche werden einfach sentimental, wenn sie an ihre Jugend oder ihren ersten Kuss denken. Außerdem gibt es auch große regionale Unterschiede. 

Welche? 

Um nur zwei Beispiele zu nennen: Jugo-Nostalgie ist sehr affirmativ. Früher sei alles besser gewesen, das verlorene Paradies Jugoslawien – natürlich stimmt das so nicht. Und viele Nostalgiker*innen verneinten auch klar, wenn ich fragte, ob sie die Zeit zurückdrehen wollten. Die Situation in Tschechien ist dagegen ganz anders. In dem Buch „Velvet Retro“ beschreibt Veronica Pehe die tschechische Nostalgie des Widerstands. Tschech*innen empfinden weniger nostalgische Gefühle für das vergangene System als für den Mut, gegen dieses zu protestieren. Sie vermissen den Aufstand und, dass Menschen Visionen hatten. 

Jugo-Nostalgie ist untrennbar von Josip Broz Tito. Bis heute finden wir unzählige popkulturelle Referenzen zum langjährigen Präsidenten Jugoslawiens, kaum welche sind negativ konnotiert. Wie erklären Sie diese „Titostalgie“, während beispielsweise keine vergleichbare „Stalinostalgie“ existiert? 

Das ist absolut richtig. In meiner Graffiti-Forschung bin ich fast nie auf positive Stalin-Graffitis gestoßen, während Tito vor allem im post-jugoslawischen Raum omnipräsent ist. Tito hatte einen extravaganten Lebensstil, er feierte mit Hollywoodstars, gleichzeitig war er auch ein junger Rebellionsführer und traute sich, mit den Partisan*innen gegen Hitler zu kämpfen und sich später gegen Stalin zu stellen. Etwas überspitzt gesagt, ist er somit als historische Person näher an Elvis und Che Guevara als an Stalin. Heute finden wir Tito-Referenzen in verschiedenen Musikgenres, in Internet-Memes, Graffitis, sogar in der Werbung. Die Grausamkeiten, die in seinem Namen geschahen, werden dabei komplett ausgeblendet und Nostalgiker*innen fokussieren sich allein auf seine guten Eigenschaften als starker Anführer. 

Sie haben Jugo-Nostalgie in allen Nachfolgestaaten erforscht. Erkannten Sie hier ebenfalls regionale Unterschiede? Sind Kosovar*innen auch jugo-nostalgisch? 

Nein, überhaupt nicht. Kosovar*innen verbinden Jugoslawien mit der serbischen Unterdrückung, obwohl die Situation natürlich nuancierter betrachtet werden müsste. Aber im Kosovo fand ich über all die Jahre kein einziges Tito-Graffiti. Besonders stark ist Jugo-Nostalgie in Bosnien und Herzegowina. Zum einen liegt das am grausamen Krieg in den 1990ern. Obwohl jetzt Frieden herrscht, gibt es kaum positive Fortschritte – es ist sozusagen Krieg mit anderen Mitteln. Das Land profitierte wirtschaftlich kaum von der Transformation, es gibt weiterhin große Spannungen zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen und viele Bosnier*innen haben daher die Hoffnung verloren. Tito manifestiert sich dort oft in der Öffentlichkeit, bei Streiks und Demonstrationen wird die jugoslawische Vergangenheit romantisiert und gleichzeitig politisiert. In Slowenien hingegen ist Nostalgie kommerzialisiert und kommodifiziert.  

Kapitalismus im Sozialismuskostüm? 

Die Vergangenheit verkauft sich immer gut, nicht nur die sozialistische. Gute alte Filme, gute alte Werte – Märkte fanden eine neue Profitnische. Oft gibt es in slowenischen Supermärkten Nostalgiewochen, in denen Domaćica Kekse und das beliebte Getränk Cockta im Design der 1950er-Jahre angeboten werden. In Slowenien beobachte ich allerdings schon, wie das proletarische Element Jugoslawiens komplett ausgeklammert wird. Das Erbe der Partisan*innen bezieht sich hier auf den Antifaschismus, das ist auch die einzige Gemeinsamkeit von Jugo-Nostalgie in allen Nachfolgestaaten. Ein weiteres Merkmal der Nostalgie in Slowenien ist ein starker kultureller Einfluss: Es gibt einen regelrechten Retro-Trend. 

Was ist der Unterschied zwischen Nostalgie und Retro? 

Retro ist entspannter und ironischer im Umgang mit der Vergangenheit. Für echte Nostalgiker*innen kann das beleidigend sein. Retro ist mitunter auch sehr trivial: Retro-Mode, Hipster-Kultur. Nostalgie hat einen emotionalen Anteil. 

Welchen Einfluss hat Nostalgie auf den Kultursektor? Behindert die Besinnung auf die Vergangenheit nicht Innovation? 

Was ist schon neu in der Kulturbranche? Kultur ist immer ein Remix aus Altem, Neuem und Benachbartem. Ein Beispiel ist Yugo-Wave: die Verbindung von Vaporwave mit jugoslawischen Elementen. Diese Musik wird allerdings nicht von alten Genoss*innen produziert, sondern von den neuen Generationen, die Jugoslawien nicht einmal miterlebten. Es gibt auch sehr lustige popkulturelle Manifestationen. Jugo-Yoga zum Beispiel entstand in der britischen Diaspora, ursprünglich als Kunstprojekt. Beim Yoga werden hier Posen von bekannten Partisan*innen-Denkmälern nachgeahmt, mittlerweile erfreut sich Jugo-Yoga großer Beliebtheit, auch in den Nachfolgestaaten. Ebenso Bumba – Zumba mit Turbofolk-Musik.  

Wie können Menschen, die Jugoslawien nie miterlebten, jugo-nostalgisch sein? 

Ich bezeichne dieses Phänomen als Neostalgie und zu ihm zählen junge Menschen in den Nachfolgestaaten aber auch in der Diaspora. Sie sagen eher Nein zur Gegenwart als Ja zur Vergangenheit, damit kommen wir auch wieder auf die Unzufriedenheit mit der momentanen Situation zurück. Grundsätzlich hat Jugo-Nostalgie fünf Kernelemente, die viele junge Menschen heute vermissen. Zum einen den Antifaschismus und den Widerstand der Partisan*innen, sowie die schnelle Modernisierung und soziale Mobilität – Bauernfamilien brachten plötzlich Lehrer*innen hervor. Das dritte, extrem wichtige Element ist Emanzipation. Heute erleben wir hingegen ein Comeback patriarchaler Ideologien. Viertens ist die politische Alternative zu nennen – Titos „dritter Weg“ und die Arbeiter*innenselbstverwaltung. Schlussendlich sind Menschen nostalgisch wegen der damaligen Multikulturalität, von der nach den blutigen ethnonationalistischen Kriegen kaum etwas übrigblieb. 

 

Dr. Mitja Velikonja ist Professor für Kulturwissenschaften und Leiter des Zentrums für Kultur- und Religionswissenschaften an der Universität Ljubljana. Er erforscht zeitgenössische politische Ideologien am Balkan, Subkulturen, kollektives Gedächtnis und post-sozialistische Nostalgie.  

Melanie Jaindl ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am IDM. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen den Westbalkan, Migration und Asyl, intersektionaler Feminismus und soziale (Un-)Gerechtigkeit.