Lokaler Bergbau, internationale Gräben

Das polnische Kohlekraftwerk Turów entzieht tschechischen Gemeinden das Grundwasser. Das führte zu einer fast zweijährigen diplomatischen Eiszeit zwischen beiden Ländern. DANIEL MARTINEK und MALWINA TALIK erklären in ihrem Beitrag die unterschiedlichen Länderperspektiven auf das Thema.

Der Text wurde in der Ausgabe 2/2023 von Info Europa veröffentlicht. Die vollständige Ausgabe ist hier zu lesen.

»Bagger kommen jeden Tag näher an unsere Häuser und die negativen Auswirkungen des Tagebaus werden immer schlimmer.« Das schreibt der Nachbarschaftsverein Uhelná in einem offenen Brief an die tschechische Regierung im Mai 2021. Die gleichnamige nordböhmische Gemeinde ist eine von vielen, die von den Umweltbelastungen des polnischen Kohlekraftwerks Turów betroffen ist. Im selben Monat ordnete der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Einstellung des Tagebaus an, der Kohle zum Kraftwerk fördert. Im Urteil heißt es, dass »drohende Schäden für die Gesundheit der tschechischen Bevölkerung und die Umwelt unumkehrbar sind, während es sich auf polnischer Seite um kompensierbare finanzielle Schäden handelt«. Sollte die Kohleförderung nicht umgehend eingestellt werden, falle eine Strafe an die EU-Kommission von einer halben Million Euro pro weiterem Betriebstag an.

Die Entscheidung des EuGH war ein Schock für Polen und spaltete die Gesellschaft. Die einen warfen der polnischen Regierung Ignoranz vor, die anderen meinten, die tschechische Regierung übertreibe mit der Klage und nutze das Thema für die anstehenden Parlamentswahlen aus. Polen setzte die Arbeiten im Tagebau ungeachtet des EuGH-Urteils fort. Zwar kamen Polen und Tschechien kurz darauf zu einer Einigung, vorerst merken die Einwohner*innen von Uhelná aber nichts davon. Polen zahlte Tschechien 45 Millionen Euro Entschädigung für den Rückzug der Klage. Perspektivisch werden Schritte eingeleitet, um die Grundwasserabsenkung auf tschechischer Seite sowie die Lärmbelästigung zu verringern. Bis diese Maßnahmen wirken, werden aber wohl noch Jahre vergehen und die Probleme für Anrainer*innen bleiben bestehen.

Die EU-Nachbarländer waren stets enge Partner in der Visegrád-Gruppe. Doch Turów ließ die Beziehungen deutlich abkühlen. Da für den Kohlegewinn der Boden entwässert wird, und das bis in mehrere hundert Meter Tiefe, sank der Grundwasserspiegel rund um den polnischen Tagebau bis zu 60m ab – auch auf tschechischer Seite.

Vom Freund zum Feind

»Sollen wir heute den Geschirrspüler oder die Waschmaschine einschalten?« Das ist eine Frage, die sich die tschechische Familie Kronus oft stellt. Ihr Brunnen reicht für den Wasserverbrauch der ganzen Familie nicht mehr aus. Michael Martin aus dem Nachbardorf Václavice muss zu seinem Nachbarn, um Trinkwasser für seine Familie zu besorgen. Es sind nur einzelne Geschichten, die die lokale grenzübergreifende Organisation Stop Turów sammelte. Doch in Zukunft kommen wohl noch weitere Geschichten dazu: Denn der Tagebau soll nach Plan des Eigentümers Polska Grupa Energetyczna (PGE) weiter ausgebaut und künftig auf weniger als 100m zur tschechischen Grenze erweitert werden. Stop Turów zufolge könnte dadurch 30.000 tschechischen Einwohner*innen das Trinkwasser entzogen werden, aber auch das gesamte lokale Ökosystem steht vor beträchtlichen existenziellen Herausforderungen.

Die polnische Seite der Grenze gleicht einer Wüstenlandschaft: Das Gebiet des Tagebaus Turów verschlingt jedes bisschen Grün. Neben ihm liegt das fünftgrößte Kraftwerk Polens, wesentlich für die Energieversorgung der Region. Doch warum stören sich die Pol*innen nicht an den Umweltbelastungen des Tagebaus? Vorerst hat dies wirtschaftliche Gründe. PGE ist der größte Stromproduzent im Land und gleichzeitig der größte Arbeitgeber in der Umgebung, rund 5000 Menschen sind bei PGE und der dazugehörigen Industrie beschäftigt. Laut polnischen Behörden käme eine sofortige Einstellung des Kraftwerks einer Katastrophe gleich: steigende Arbeitslosigkeit, eingeschränkter Zugang zu Strom, Heizung und paradoxerweise auch zu Wasser. Das Kraftwerk reinigt nämlich die Abwässer aus der Stromproduktion und liefert das Wasser an benachbarte polnische Städte wie Bogatynia. 72% des dortigen Wasserbedarfs werden vom Kraftwerk gedeckt. Aus diesen Gründen sind die Gegenstimmen auf polnischer Seite leiser als auf der tschechischen, wo die lokale Bevölkerung kaum wirtschaftlich profitiert und gleichzeitig unter der fremdverursachten Wasserarmut leidet.

Dicke Luft im Dreiländereck

Der im Dreiländereck Deutschland-Polen-Tschechien gelegene Tagebau existiert bereits seit 1904. Dass er ausgerechnet jetzt zum internationalen Streitfall wird, liegt daran, dass Polen die ursprünglich in 2020 auslaufende Konzession ungeachtet der Einwände Deutschlands und Tschechiens bis 2044 verlängerte – und das zu einer Zeit, in der zunehmende Trockenheit die Wasserknappheit in der Region ohnehin schon verschlimmert und der Trend hin zu erneuerbaren Alternativen geht. Prag konnte die Bedenken der Tschech*innen nicht länger ignorieren und wandte sich 2021 an den EuGH. 2022 klagte auch die deutsche Gemeinde Zittau, allerdings vor einem polnischen Gericht. Die Rechtswege verschlechterten die Beziehungen zwischen den zwei Visegrád-Ländern immens. Dass die polnische Botschaft in Prag seit 2020 unbesetzt war, trug nicht zur Verbesserung der Situation bei. Nachdem der Botschafter im November 2021 endlich antrat, wurde er im Jänner 2022 von der polnischen Regierung wieder abberufen, weil er sich kritisch über die Vorgehensweise im Fall Turów äußerte. »Es mangelte an Empathie, Verständnis und Dialogbereitschaft – vor allem auf polnischer Seite«, sagte er in einem Interview mit Deutsche Welle. Verwerfungen gab es allerdings nicht nur auf Regierungsebene, auch die lokale Bevölkerung reproduzierte den Konflikt. Es kam sogar zu einem Zwischenfall, in dem ein Restaurant in Bogatynia Tschech*innen die Bedienung verwehrte – so hieß es zumindest auf einem Schild an dessen Eingangstür. Der EuGH wählte auch einen ungünstigen Zeitpunkt für sein Urteil. Zweimal binnen dieser Woche kam das größte Kraftwerk Polens, Bełchatów, wegen Pannen für mehrere Stunden zum fast kompletten Erliegen. In diesem Zusammenhang schien es für Polen außer Frage Turów sofort abzuschalten.

Kein Platz für Energie-Nationalismus

Mit der neuen tschechischen Regierung von Petr Fiala zog Prag die Klage gegen Warschau 2022 beim EuGH zurück und beide Länder schlossen ein Abkommen. Neben der Entschädigungssumme sollte dieses auch die Auswirkungen des Tagebaus auf die Umwelt eindämmen. Ein Erdwall soll gegen die Lärmbelästigung errichtet werden und eine unterirdische Dichtwand soll eine weitere Absenkung des Grundwasserspiegels verhindern. Die Dichtwand ist bereits seit Juni 2022 in Betrieb und bisherige Ergebnisse zeigen, dass sich der Rückgang des Grundwassers auf dem tschechischen Gebiet verlangsamt.

Der Abschluss des Abkommens und die Beruhigung der zwischenstaatlichen Beziehungen sind sicherlich auch auf die politisch-ideologische Nähe der polnischen Partei PiS und der tschechischen ODS zurückzuführen, die mehr als eine kritische Meinung zu den Transformationsbestrebungen der EU teilen, wie zum Beispiel zum Benzin- und Dieselfahrverbot oder zu den Emissionszertifikaten für Wohnen und Verkehr.

Dennoch sind die im Abkommen geplanten Maßnahmen sowohl im Hinblick auf das strategische Gesamtkonzept der sozial-ökologischen Transformation der Region als auch auf die EU-weite grüne Kohäsionspolitik völlig unzureichend. Laut Stop Turów bestätigen Energie-Expert*innen, auch aus Polen, dass das polnische Stromnetz nach 2030 auf Turów verzichten könne. Die Nutzung erneuerbarer Energiequellen wie Wind und Sonne könnte in Zukunft den Strom des Kohlekraftwerks Turów ersetzen. Ihrer Meinung nach ist das Festhalten der polnischen Regierung an Kohlekraftwerken eine klare Manifestation des sogenannten Energie-Nationalismus. So wird von vielen Vertreter*innen der PiS-Partei die Dekarbonisierung als ein von Deutschland inszenierter EU-Plan zur Zerstörung des polnischen Kohlesektors dargestellt.

Die hohe Schädlichkeit von Tagebauen für Grundwasserspiegel ist kein Geheimnis. Obwohl Turów zweifellos das berüchtigtste Kraftwerk im Dreiländereck ist, ist es keinesfalls das einzige in diesen Ländern. Bewohner*innen mehrerer tschechischen Regionen, wie zum Beispiel um die Kraftwerke Počerady oder Ledvice in Nordböhmen, sowie Karviná und Ostrava-Třebovice in der mährisch-schlesischen Region, leiden ebenso unter den negativen Folgen des Kohlebergbaus. In Deutschland schaffen es Protestaktionen von Umweltschützer*innen immer wieder in die internationalen Schlagzeilen. Und sowohl Polen als auch Tschechien stehen vor einer Wasserkrise – beide Länder haben die geringsten erneuerbaren Wasserressourcen pro Kopf im EU-Vergleich.

Grüne Evolution statt Revolution

Wie Polen steht daher auch Tschechien auf dem Transformationspfad zu einer technologisch modernen, klimasicheren und nachhaltigen Energieerzeugung vor vielen Herausforderungen. So müssen beide Länder noch Teile der Bevölkerung von der Notwendigkeit dieser Transformation überzeugen. Nationalkonservative Tendenzen sind dafür der falsche Weg. Fälle wie Turów stoßen allerdings Umdenkprozesse an. Tschechien plant bis 2038 alle Kohlekraftwerke vom Netz zu nehmen und sie durch Wind-, Solar- oder Kernkraftwerke zu ersetzen. Letztere wurden von der EU-Kommission zuletzt als grün eingestuft, nicht alle Expert*innen teilen diese Ansicht. Der schleppende Prozess bedeutet für Anrainer*innen von Kohlekraftwerken dennoch mindestens 15 weitere unsichere Jahre.

Polen zählt zu den zehn größten Kohleproduzenten der Welt. Ein Ausstieg aus der Industrie wird wirtschaftlich nicht einfach, die Anzahl der Beschäftigten in diesem Bereich sinkt aber allmählich. Die Mehrheit der Pol*innen betrachtet den Klimawandel als Gefahr und befürwortet die grüne Transformation. Mit steigendem Wohlstand kommt ein Bedürfnis nach einer sauberen Umwelt. Seit Jahren leidet das Land unter Luftverschmutzung, im Winter ist der Smog oft so schädlich, dass die Einwohner*innen betroffener Regionen eine Warn-SMS bekommen, das Haus nicht zu verlassen, wenn es nicht notwendig ist. Umweltkatastrophen wie das Fischsterben und die Vergiftung des Flusses Betschwa in Mähren 2020 und der Oder in Polen 2022 veranschaulichen den Tschech*innen und Pol*innen, was passiert, wenn Klimawandel auf Verschmutzung trifft. Die Stimmen nach nachhaltiger Veränderung werden also lauter.

 

Malwina Talik ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am IDM sowie freiberufliche Forscherin und Übersetzerin. Davor war sie als Expertin für wissenschaftliche Zusammenarbeit bei der Polnischen Akademie der Wissenschaften/Wien und Referentin für Öffentlichkeitsarbeit bei der Polnischen Botschaft in Wien tätig.

Daniel Martínek M.A. ist Doktorand an der Westböhmischen Universität in Pilsen, Tschechien, und arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am IDM.

Die Donauflüsterer

Die Donau ist gleichzeitig bedeutender Wirtschafts- und Lebensraum. Doch wie gelingt es, ökonomische und ökologische Interessen entlang des internationalen Flusses zu vereinen? CHRISTOPH CASPAR erklärt in seinem Beitrag, wie viadonau an Konfliktlösungen durch Innovation arbeitet.

Der Text wurde in der Ausgabe 2/2023 von Info Europa veröffentlicht. Die vollständige Ausgabe ist hier zu lesen.

Mal in engen Mäandern, mal in breitem Verlauf durchzieht die Donau Österreich auf einer Strecke von 378km und prägt dabei eine jahrtausendealte Kulturlandschaft. Ihre Anrainer*innen schätzen seit jeher den sanften Fluss und fürchten zugleich seine wilde Seite. Immer schon wollten sie die Donau gezielt nutzen. Das hinterließ Spuren. Doch die Donau blieb etwas Lebendiges mit Eigenarten und Launen, eine Naturgewalt. Sie sicher zu nutzen, verlangt kontinuierliche Kontrolle und Erforschung. Dafür braucht es Erfahrung sowie den Zugang und das Wissen von Expert*innen, die den Flussraum schützen, untersuchen und mit ökologischem Feingefühl gestalten.

Der sprechende Fluss

Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie an die Donau denken? Ein herrlicher Fluss mit weitläufigen Uferlandschaften, endlose Rad- und Treppelwege, Schutzdämme und vielleicht auch der eine oder andere Donaudampfer? Der österreichische Donauraum ist gut entwickelt, gepflegt und sicher. Doch was – oder besser gefragt – wer steckt dahinter? Die Spezialist*innen von viadonau pflegen 800km Ufer und kümmern sich um die Erhaltung von 500km Treppelwegen und 250km Radwegen. Sie sorgen für die effiziente Gestaltung des Stroms, halten den Wasserstraßenverkehr an neun Donauschleusen im Fluss und regen internationale Entwicklungsprojekte und Kooperationen an. Denn die Donau ist der internationalste Fluss der Welt – kein anderer durchfließt mehr Staaten als die zehn Donauländer. Deswegen pflegt viadonau enge Kontakte zu Wasserstraßenverwaltungen, Entscheidungsträger*innen und Interessensvertretungen in den Donauanrainerstaaten. Bei alldem horchen sie in die Donau hinein. Denn die Donau zu nutzen, heißt sie zu kennen und ihre Botschaften zu verstehen.

Das Expert*innenteam für Hydrologie und Hydrographie weiß: Die Donau kann durchaus gesprächig sein. Trifft man den richtigen Ton, offenbart sie ihre tiefsten Geheimnisse. Mit modernem Echolot tasten die Vermessungsexpert*innen regelmäßig die Flusssohle ab, um festzustellen, wie sich das Flussbett verändert. Denn wie die Dünenlandschaft einer Wüste befindet sich die Oberfläche der Sohle in ständiger Bewegung. Diese Geschiebedynamik kann gefährliche Untiefen und Anlandungen erzeugen, während eines Hochwasserereignisses kann sich dieser Prozess noch verstärken. Deshalb sind aktuelle Daten über den derzeitigen Zustand des Flussbetts essentiell für die Sicherheit der Binnenschifffahrt. Die regelmäßige Überprüfung der Pegelstände, Durchflussmengen und der Oberflächenstruktur des Flussbetts ermöglicht ein präzises Gesamtbild der Donau. Kartographisch aufbereitet fließen die aus den Sohlgrundaufnahmen gewonnenen Daten in die Donau River Information Services (DoRIS) ein, die den Schiffskapitän*innen eine sichere Routenplanung ermöglichen. Darüber hinaus unterstützen die Vermessungsexpert*innen die Spezialist*innen für Hochwasserschutz bei der Identifizierung besonders hochwassergefährdeter Uferregionen und zeigen Schwachstellen im Schutzsystem auf. Somit können Trends im Fließverhalten, aber auch potentielle Extremereignisse entlang des Stroms erfasst werden.

Renaturierung, die allen etwas bringt

Flusslandschaften sind empfindliche Lebensräume. Sie sind nie nur das fließende Wasser allein, sondern stets auch das komplexe Ökosystem, das sie umgibt. Wie aber Schifffahrtsinteressen, Hochwasser- und Umweltschutz praktisch und auf Dauer verknüpfen? An vielen Stellen hat der Einfluss des Menschen durch dichte Verbauung und Begradigung die natürliche Entfaltung der Uferräume verhindert. viadonau arbeitet daher an der Renaturierung der Ufer, was sowohl der Binnenschifffahrt als auch dem Hochwasserverhalten der Donau zugutekommt. Durch Uferrückbauprojekte, wie in Bad Deutsch-Altenburg, geben die viadonau-Expert*innen der Donau ein Stück ihrer Wildnis und zugleich wichtige Kompensationsräume für ausufernde Wassermassen zurück. Die Maßnahmen beinhalten den Wiederanschluss von Nebenarmen, die Wiederbelebung ufernaher Feuchtgebiete und die Verbesserung der Flusssohle.

Denn Natur ist Leben und lockt es an. Die Erhaltung und Wiederherstellung ufernaher Naturräume an der Donau sorgt für die Rückkehr lang entschwundener Tierarten. Nach zwei Jahrhunderten zieht seit wenigen Jahren erstmals der Östliche Kaiseradler wieder seine Kreise über den österreichisch-slowakischen Donau-Auen. Was dem edlen Tier gefällt, weiß auch der Mensch zu schätzen. Hunderttausende suchen jährlich Erholung in den weitläufigen Naturgebieten.

Gestaltenwandler Donau

Für die vielfältigen Nutzungsanreize sorgt die Donau ganz von selbst. Die Qualitäten des Stroms bilden das Zentrum kreativer und innovativer Entwicklungsansätze bei viadonau. Es gilt Interessen zu verknüpfen und Potentiale gemeinsam auszuschöpfen. Was schafft die Donau? Und was wäre noch möglich? Die Spezialist*innen für Verkehrsund Transportmanagement ergründen kontinuierlich neue Möglichkeiten, die Bedingungen für wassergestützten Transport weiter zu verbessern, bringen Wirtschaft und internationale Interessengruppen zusammen und koordinieren gemeinsame Förderungs- und Entwicklungsprogramme. Mit bedarfsorientierten Schwerpunktinitiativen wird die Donau als leistungsstarke und manchmal einzige Lösung für komplexe Transportaufgaben herausgestellt. Ob nun groß, schwer oder viel. Transporteur*innen entdecken immer häufiger die Vorteile der Binnenschifffahrt. Permanente Weiterentwicklung der Gewässerinformationssyteme, innovative internationale Projektarbeit und kontinuierliche Erforschung ermöglichen Hafenbetreibern, Schiffskapitän*innen und Flottenbetreibern eine Wasserstraße von hoher Nutzungsqualität und Sicherheit. Das erfordert täglich aufs Neue Leidenschaft, Engagement und Neugier. Denn wenn die Profis von viadonau am nächsten Morgen wieder ans Werk gehen, dann mit der Gewissheit, dass die Donau sich verändert hat und auch am Tag darauf wieder eine Andere sein wird. Panta rhei sagt der Philosoph. Alles fließt, bewegt und wandelt sich zu immer Neuem. So auch die Donau, der Mensch und die Natur.

 

 

Christoph Caspar leitet die Öffentlichkeitsarbeit sowie das Wissens- und Organisationsmanagement bei viadonau. Er selbst beschreibt sich als leidenschaftlichen »Nutzer« des Lebensraums Wasser und FreizeitKapitän für seinen zweijährigen Sohn.

Wie ein Fluss zur Wüste wurde

Das Wasser des Luma-Flusses in Albanien fließt nicht mehr in seinem natürlichen Flussbett, sondern durch Rohre. Wasserkraftwerke verwandelten das Naturparadies in eine trockene Schlucht. In seinem Gastbeitrag schreibt GËZIM HILAJ über die traurige Transformation seines Heimatstromes.

Der Text wurde in der Ausgabe 2/2023 von Info Europa veröffentlicht. Die vollständige Ausgabe ist hier zu lesen.

Der Weg zum Dorf Borje im Norden Albaniens führt über eine holprige Straße. Obwohl hier investiert wurde, spüren die Einheimischen davon nichts. »Die meisten sind in andere Länder geflohen. In Borje wurde ein Wasserkraftwerk gebaut, doch die Einwohner*innen haben kein Trinkwasser. Wir haben auch Probleme mit der Stromversorgung«, erzählt Krenar Bilali. Er ist einer der wenigen, die geblieben sind und beklagt die erheblichen Summen, die in Wasserkraftwerke am Fluss Luma gesteckt werden, während für Infrastrukturprojekte nichts übrig bleibt.

Die Luma durchfließt die Naturparks Korab-Koritnik und Vana-Schlucht. Allein in Letzterem wurden zwischen 2012 und 2016 zehn Wasserkraftwerke gebaut und fünf weitere genehmigt. Diese Anlagen ermöglichen keine gleichmäßige Strömung. Stattdessen fließt Wasser von einem Damm zum nächsten. So trocknet das Flussbett komplett aus.

Der Fall des Luma-Flusses zeigt, dass Albanien Rückschritte beim Umweltschutz macht. Doch in Fragen Wasserkraft steht das Land regional nicht alleine da. Im Jahr 2022 waren an Flüssen des Balkans 1726 Wasserkraftwerke in Betrieb und 108 befanden sich im Bau. Künftig sind 3281 weitere geplant – 404 davon in Albanien. Damit steht Albanien an dritter Stelle hinter Serbien und Griechenland. So wie am Luma-Fluss leidet die gesamte Region unter der großen Anzahl von Kleinstaudämmen.

Großer Schaden, wenig Leistung

Albanien erzeugt Strom fast ausschließlich aus Wasserkraft. Und obwohl Wasserkraftwerke als grüne Alternative zu umweltschädlichen Kohlekraftwerken gelten, trifft das nur eingeschränkt auf Kleinkraftwerke zu. Olsi Nika, Direktor der NGO EcoAlbania, erklärt: »Ein gesamter Fluss wird zerstört für extrem wenig Energiegewinn.« Nach Angaben der Energieregulierungsbehörde deckten alle kleinen Wasserkraftwerke im Jahr 2022, darunter das in Borje, nur 24,3% des nationalen Energiebedarfs. Ein Teil dieser Kraftwerke verwandelte den Fluss Luma in eine trockene Wüste. Das große Problem bei der Luma ist ihre Fragmentierung. »Durch sie hat das Ökosystem die natürliche Ordnung verloren, da keine Längsverbindung mehr besteht«, sagt Nika. Die Luma sei kein Fluss mehr, sondern eine regulierte Wasserkraftkaskade. Die Konzessionsgesellschaften würden sich nicht an die Verträge halten, die eine Aufrechterhaltung des ökologischen Durchflusses vorschreiben. Die biologischen Korridore in den Dämmen, die Fischen und anderen Lebewesen ein sicheres Passieren erlauben sollten, würden nicht genug Wasser führen.

Die Nationale Agentur für Schutzgebiete und Umweltverträglichkeitsprüfungen hatte sich gegen den Bau des Wasserkraftwerks in Borje ausgesprochen. Sie teilt die Auffassung, dass dieses Gebiet »wertvolle Lebensräume und Arten« beheimate und ein Kraftwerk »negative Auswirkungen auf die Umwelt hätte«. In der Umweltverträglichkeitsprüfung heißt es, dass es in dem Naturpark verboten ist, den natürlichen Zustand von Wasserreserven, Quellen, Seen und Feuchtgebieten zu verändern. Nichtsdestotrotz wurde das Wasserkraftwerk gebaut.

Schwindender Protest

Die Bewohner*innen der Gebiete, durch die sich Nebenarme der Luma winden, wehrten sich jahrelang gegen den Bau von Wasserkraftwerken. Doch in den Dörfern Topojan und Borje scheinen manche nun kapituliert zu haben. »Die Zeit über Wasserkraftwerke zu sprechen ist vorbei. Wir haben 2018 in Tirana gegen ihren Bau protestiert. Jetzt können wir nichts mehr tun. Wir können nicht mit den Mächtigen verhandeln«, sagt ein Einwohner von Topojan, der anonym bleiben möchte, da er negative Konsequenzen wegen seiner Meinungsäußerung fürchtet.

Die Agentur für Territoriale Entwicklung genehmigte 2018 fünf neue Luma-Kraftwerke. Damals leisteten die Anrainer*innen Widerstand. Während des Wahlkampfes 2021 versprach der ehemalige Bürgermeister der nächstgelegenen Stadt Kukës, Safet Gjici, dass diese Kraftwerke nicht gebaut werden – bis jetzt hält er sein Wort. Es ist ein kleiner Erfolg, auch wenn es keine endgültige Entscheidung ist. Der Bewohner Topojans meint skeptisch: »Niemand wurde zu den bereits gebauten Wasserkraftwerken befragt. Selbst wenn der Staat beschließt, zwanzig weitere Kraftwerke zu bauen, werden wir erst davon erfahren, wenn die ersten Bagger anrollen.« Denn das letzte Wort wird auf nationaler Ebene gesprochen, lokale Regierungen hätten wenig bis gar kein Mitspracherecht.

Warnung von oben

Am 19. Juli 2022 startete die EU die Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien. Eines der 35 Verhandlungskapitel hat den Schwerpunkt Umwelt. Der aquis communautaire in diesem Bereich umfasst rund 300 Rechtsakte. Im Länderbericht aus 2022 schreibt die Europäische Kommission: »Die Auswirkungen strategischer Investitionen auf die biologische Vielfalt und den Naturschutz erfordern Aufmerksamkeit.« In den Bereichen Wasserwirtschaft, Chemikalien und Umweltkriminalität sieht sie nur begrenzte Fortschritte. Bereits 2016 hat das Europäische Parlament die albanische Regierung für die Planung von Wasserkraftprojekten kritisiert und sie aufgefordert, mehr Rücksicht auf Schutzgebiete und andere sensible Naturräume zu nehmen. Damals ging es vor allem um den Fluss Vjosa. Dieser letzte große Wildfluss Europas wurde im März 2023 zum Nationalpark erklärt.

Toter Fluss

Auch die Luma war einst ein Naturparadies. Sie beheimatete 26 Fischarten, darunter Forellen, Karpfen und Welse. Der Biologe Arben Palushi hat wiederholt Expeditionen zum Fluss unternommen. Sein Fazit: »Jetzt, wo das Wasser von Rohr zu Rohr fließt, gibt es diese Artenvielfalt nicht mehr. Der Fluss wurde steril.« Trotz der Bemühungen, Überlebensgruben zu bauen, sei es Palushi und anderen Expert*innen nicht gelungen, die endemischen Lebewesen des Flusses zu retten. Palushi zufolge fügen die Konzessionsunternehmen der Luma Chlor zu, um die Rohre von Algen zu reinigen. Diese würden nämlich die Energieerzeugung durch Reibung verringern. »Sie haben damit die Fische getötet. Und sie versuchen nicht einmal mehr, die toten Fische aus dem Flussbett zu entfernen«, ist Palushi empört.

Die Nationale Inspektion für Territoriale Verteidigung (Inspektorati Kombëtar i Mbrojtjes së Territorit, IKMT) ist zuständig für Überprüfungen in diesen Wasserkraftwerken. Erst nach mehreren Anfragen zum Zustand dieser Anlagen und den Auswirkungen auf das Ökosystem führte sie die notwendigen Inspektionen durch. Ihren Angaben nach betrieben die Konzessionsunternehmen zwei Kraftwerke, obwohl sie die Anforderungen der Umweltgenehmigung nicht erfüllten. Nach zwei Jahren und erneutem Auskunftsersuchen in 2023 erhielt ich noch immer keine Antwort darauf, ob die Behörde diese zwei Unternehmen bestrafte.

IKMT Kukës erklärte, dass einige Luma-Kraftwerke 100% des Flusswassers nutzen, wodurch das Flussbett in diesem Abschnitt austrocknet. Trotz dieser Erklärung gab IKMT nicht bekannt, was mit den Konzessionären geschieht, die das Ökosystem irreparabel schädigten. Und trotz der Behauptung, dass ein Teil der Investitionen in die vertraglichen Prognosen und Umweltverpflichtungen fließt, zeigt ein Besuch der Mündung des Flusses in die Weiße Drin ein völlig anderes Bild: ein karges Flussbett mit Steinen, über die seit Jahren kein Wasser mehr floss, nicht mal im Winter. Das Wasser, das früher in der Luma rauschte, einem der größten Flüsse der Region, wird heute durch Pipelines geleitet, um Strom zu erzeugen. Währenddessen leiden die Anrainer*innen noch immer unter Stromausfällen. Das Leben der Bewohner*innen entlang dieses Flusses hat sich durch die Wasserkraftwerke nicht verbessert und die Lebewesen dieses Ökosystems gehören der Vergangenheit an.

 

Gëzim Hilaj ist Journalist und arbeitet für den albanischen öffentlich-rechtlichen Fernsehsender RTSH. In Albanien gewann er einen Fact-Checking Award und für seine Recherche über Wasserkraftwerke wurde er von der Thomson Foundation als einer der besten Nachwuchsjournalist*innen ausgezeichnet.

Wenn Diskriminierung durstig macht

Ein Drittel der Rom*nja-Gemeinden in Europa hat keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und Sanitäranlagen. In seinem Gastbeitrag schreibt BERNARD RORKE über gezielte Entscheidungen, die zu lebensbedrohlichen Situationen für Europas größte ethnische Minderheit führen.

Der Text wurde in der Ausgabe 2/2023 von Info Europa veröffentlicht. Die vollständige Ausgabe ist hier zu lesen.

»Man muss kein*e Wasserexpert*in sein, um zu erkennen, dass es ein unmenschlicher Akt ist, während einer Hitzewelle die Brunnen einer Siedlung abzustellen.« So urteilte der verstorbene Rom*nja-Rechtsaktivist Jenő Setét, nachdem lokale Behörden im August 2017 die Wasserversorgung in den Rom*nja-Vierteln Gulács und Onga in Ungarn einstellten. Während eines ähnlichen Skandals im August 2013 ordnete die Regierung den Bürgermeister von Ózd an, die Wasserversorgung der Rom*nja-Bewohner*innen wiederherzustellen. Der Bürgermeister hatte die Pumpen, auf die Rom*nja angewiesen waren, stillgelegt, weil die Gemeinde ihre Wasserrechnungen senken musste. Diese zum Höhepunkt einer Hitzewelle ergriffene Maßnahme zwang Tausende Rom*nja bei über 40 Grad Celsius stundenlang für Wasser anzustehen. Vorfälle wie diese sind symptomatisch für die Verletzung des grundlegenden Menschenrechts auf sauberes Wasser und sanitäre Einrichtungen. Sie beweisen, dass Institutionen und Politiker*innen ein System des Umweltrassismus erhalten, das für viele Menschen lebensbedrohlich ist. Solche Situationen zeugen außerdem auch vom Versagen des Strategischen Rahmens der EU für die Roma, der das Leben der größten ethnischen Minderheit in Europa verbessern sollte.

Wasserversorgung: Unsicher, unsauber und untauglich

Das European Roma Rights Centre (ERRC) fand 2017, dass eine erhebliche Anzahl von Rom*nja unter dem behördlichen Versagen leidet, sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen für sie sicherzustellen. Am stärksten betrifft das jene, die gezwungen sind, am Stadtrand oder in völlig abgeschotteten Siedlungen ohne angemessene Infrastruktur zu leben. Ihre Wasserquellen sind oft weit von ihrem Wohnort entfernt, wobei die Last der Wasserbeschaffung hauptsächlich auf Frauen und Mädchen entfällt. Zudem werden diese Wasserquellen häufig nicht auf ihre Sicherheit hin überprüft und sind Verunreinigungen ausgesetzt, darunter Trockentoiletten, Insekten und wilden Tieren. Selbst in Vierteln, in denen eine angemessene Wasserinfrastruktur besteht, können sich viele Rom*nja die Anschluss- und Nutzungsgebühren nicht leisten. Die ERRC-Studie bestätigte, dass der fehlende Zugang zu sauberem Wasser nicht auf Dürren und andere Naturereignisse zurückzuführen ist. Es sei ein bewusster Entscheidungsprozess, den Rom*nja das Menschenrecht auf Wasser zu verweigern – ein Recht, das die UNGeneralversammlung als »unverzichtbar für ein Leben in Menschenwürde und als Voraussetzung für die Verwirklichung anderer Menschenrechte« beschreibt.

Diskriminierung entlang des Kontinents

Der Roma Civil Monitor (RCM) stellte fest, dass in Bulgarien, Tschechien, Frankreich, Ungarn, Italien, Rumänien und der Slowakei selbst dort, wo grundsätzlich eine Wasserversorgung und Abwasserentsorgung besteht, Rom*nja systematisch diskriminiert werden. Der EU-Agentur für Grundrechte zufolge ist die Kluft zwischen Rom*nja und der Allgemeinbevölkerung in Rumänien am größten. Rund 70% der Rom*nja hatten im Jahr 2016 kein Leitungswasser in ihren Wohnungen: »Rom*nja haben in Rumänien – dem Land mit der höchsten Anzahl von Rom*nja in der EU – in ähnlichem Maße Zugang zu sauberem Wasser wie Menschen in Bhutan, Ghana oder Nepal.« Bhutan und Nepal stehen auf der UN-Liste der am wenigsten entwickelten Länder der Welt. In fast allen EU-Staaten gibt es Beispiele für Umweltrassismus gegen Rom*nja. Léo Heller, früherer UN-Sonderberichterstatter für das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser und Sanitärversorgung, fand die Lebensbedingungen der Rom*nja in Portugal »beunruhigend und vergleichbar mit den schlimmsten Situationen, die ich in viel weniger entwickelten Ländern gesehen habe«. In Italien haben Untersuchungen in »Nomad*innencamps« in 2005 gezeigt, dass die dort lebenden Kinder häufiger unter Asthma, Durchfall und Bronchitis leiden. Der RCM deckte auf, dass Gemeindebedienstete in Frankreich erklärten, dass sie Massenräumungen rascher durchführen können, wenn sie den Bewohner*innen von Barackensiedlungen Sanitäreinrichtungen vorenthielten. Auch an Irland übte die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) 2019 scharfe Kritik. Lokale Behörden gaben die 4,1 Millionen Euro an zweckgebundenen Mitteln für Unterkünfte für irische »Traveller« aufgrund von Vorurteilen, dem Widerstand der Anrainer*innen und mangelndem politischen Willen nicht aus. Über eine TravellerUnterkunft in Dublin schreibt ECRI: »Die Anlage hatte nur einen Wasseranschluss und eine Toilette für 14 Familien, darunter mehr als 40 Kleinkinder, und keine Müllabfuhr.«

Konservative verwässern Trinkwasserrichtlinie

Das Europäische Parlament stimmte 2018 über die Trinkwasserrichtlinie ab, rund vier Jahre nachdem 1,8 Millionen EU-Bürger*innen in der ersten erfolgreichen Europäischen Bürgerinitiative (EBI) Right2Water gefordert hatten, den Zugang zu sauberem Wasser als grundlegendes Menschenrecht anzuerkennen. Die Europäische Kommission nannte die Abstimmung als Beweis dafür, dass die EU auf die Forderungen der Bürger*innen hört und Kommissar Karmenu Vella erklärte, dass »dank der EU-Gesetze die meisten Menschen in der EU bereits einen sehr guten Zugang zu hochwertigem Trinkwasser haben«. Doch die Äußerung »die meisten Menschen« schließt hunderttausende Rom*nja aus. Der Europäische Gewerkschaftsverband für den öffentlichen Dienst (EGÖD) kritisierte, »dass eine Mehrheit der rechten Fraktion im Europäischen Parlament Zeit und Mühe darauf verwendete, die Forderungen der Zivilgesellschaft zu verwässern«. Es sei eine Schande, dass sich die Mehrheit der Abgeordneten gegen die Aufnahme des Menschenrechts auf Wasser in die EU-Gesetzgebung aussprach. Abgeordnete der Linken und der Grünen bedauerten ebenfalls, dass das Parlament ihre Forderungen nach konkreten Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten zur Umsetzung der Richtlinie nicht unterstützte.

Gesundheitliche Risiken, auch abseits der Pandemie

Der Ausbruch der COVID-19-Pandemie im Jahr 2020 führte den am stärksten ausgegrenzten Rom*nja-Gemeinschaften ihre prekäre Lage schnell vor Augen. Besonders gravierend war die Situation in der berüchtigten Pata-Rât-Siedlung in Rumänien, wo Wohnungsrechtsaktivist*innen von den Behörden Sofortmaßnahmen zum Schutz der Gesundheit der 1500 Rom*nja-Bewohner*innen forderten. In einem offenen Brief schilderten sie, dass das Immunsystem der Rom*nja durch das jahrelange Leben in einer überfüllten und giftigen Umgebung geschwächt sei, und fragten: »Wie sollen sie sich häufig die Hände waschen, wenn sie kein Wasser haben? Wie können sie sich schützen, wenn sie 16m² mit fünf bis sechs Menschen teilen? Wie können sie sich in der Nähe von Giftmülldeponien um ihre Gesundheit kümmern?« Die Pandemie mag vorbei sein, aber die Benachteiligung bleibt. Die Bemühungen der Europäischen Union zur Förderung der Rom*njaIntegration haben dem Umweltrassismus nichts anhaben können. Nach eigener Einschätzung der Europäischen Kommission war der erste EURahmen zur Integration der Roma ein »unentschuldbarer« Misserfolg und eine große Zahl von Rom*nja fand sich am Endpunkt dieses Rahmens im Jahr 2020 genauso ausgegrenzt und verarmt wieder wie schon davor. Es ist bereits jetzt absehbar, dass der neue Zehnjahresplan der Kommission bis 2030 vermutlich keinen spürbaren Wandel herbeiführen wird, denn die Diskussion über Umweltgerechtigkeit hat weder in Brüssel noch in den EU-Mitgliedstaaten begonnen.

 

»Unnatural Disaster: Environmental Racism and Europe’s Roma«, Bernard Rorke, CRD, 2023.

»Brutal and Bigoted: Policing Roma in the EU«, Bernard Rorke, ERRC, 2022.

»Thirsting for Justice: Europe’s Roma Denied Access to Clean Water and Sanitation«, ERRC, 2017.

 

Bernard Rorke wurde in Dublin geboren und lebt in Budapest. Der promovierte Politiktheoretiker ist Advocacy und Politik manager des European Roma Rights Centre (ERRC) und arbeitet seit 1998 zu Rom*nja-Themen. Er schreibt regelmäßig über die Ausgrenzung von Rom*nja, Rassismus und Rechtsextremismus.

Das stille Opfer des Ukraine-Krieges

Bewaffnete Konflikte wirken sich nicht nur auf Menschen, sondern auch auf gesamte Ökosysteme aus. Am Beispiel ihrer ukrainischen Heimatstadt Mykolajiw erklärt die Süßwasserökologin OLEKSANDRA SHUMILOVA die weitreichenden Folgen des Ukraine-Krieges für Mensch, Tier und Umwelt.

Der Text wurde in der Ausgabe 2/2023 von Info Europa veröffentlicht. Die vollständige Ausgabe ist hier zu lesen. 

Seit Februar 2022 richtet sich die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf den Krieg in der Ukraine. Er beeinträchtigt das Leben von Millionen von Menschen und hat vielfältige Konsequenzen, die weit über die ukrainischen Grenzen hinausreichen. Die Natur ist das stille Opfer dieses verheerenden Krieges. Militäraktionen führen zu massiven Bränden, zur Verschmutzung von Böden und Luft und haben drastische Folgen für die Tierwelt. Die Auswirkungen des Krieges auf das Wasser – und des Wassers auf den Krieg – waren jedoch eine der ersten, die viele Ukrainer*innen zu spüren bekamen.

Verzweigte Schäden

Obwohl schon lange zu Folgen von Militäraktionen auf Wassersysteme geforscht wird, ist der Fall der Ukraine besonders. Im Gegensatz zu den Konflikten im hauptsächlich landwirtschaftlich geprägten Globalen Süden ist die Wasserinfrastruktur der Ukraine hoch industrialisiert. Sie umfasst große Stauseen, Wasserkraftwerke, Kühlbecken für Kernkraftwerke, Wasserreservoirs für Industrie und Bergbau sowie ein ausgedehntes Netz an Wasserverteilungskanälen für landwirtschaftliche und kommunale Zwecke. Wie verheerend die Schäden durch Kriegsinterventionen sind, zeigte der Bruch des Kachowkaer Staudamms. Anfang Juni 2023 wurde dieser gesprengt – erste Hinweise deuten auf russisches Kalkül (Stand: Juni 2023). Ganze Landstriche wurden geflutet, Äcker, Industrieanlagen und Siedlungen zerstört. Zudem herrscht Sorge um das größte europäische Kernkraftwerk Saporischschja, das mit Kühlungswasser aus dem Stausee versorgt wurde. Das ganze Ausmaß und die langfristigen Folgen der Schäden werden enorm sein und sind immer noch schwer absehbar.

Als Süßwasserökologin, die in der Ukraine aufwuchs, brachte mich die Bedrohung der Wasserinfrastruktur, der Wasserressourcen und der Ökosysteme durch den Krieg schon seit Beginn der russischen Invasion zum Nachdenken. Ich wollte meinem Land mit meiner Expertise helfen. Der Ausbruch des Krieges fiel mit einer Übergangsphase in meinem Leben zusammen und es kostete viel Mühe, meine eigene Forschungsgruppe aufzubauen. Dennoch schaffte es mein Team, die Auswirkungen auf die Wasserressourcen und -infrastruktur während der ersten drei Monate des Krieges zu analysieren. Die Ergebnisse zeigen, wie vielfältig die Folgen militärischer Aktionen waren. Der Betrieb von Wasseraufbereitungsanlagen wurde mehrfach unterbrochen, Wasserleitungen und Kanäle beschädigt, Dämme brachen schon damals und verursachten Überflutungen. Hinzu kam die Gefahr von nautischen Minen. Im Süden der Ukraine bedrohten Militäraktionen das Netz der Bewässerungskanäle, während Angriffe im Osten das Abpumpen von Wasser aus unterirdischen Minen verhinderten, was zu einem unkontrollierten Anstieg von verschmutztem Minenwasser führte. Das wirkte sich wiederum auf Grund- und Oberflächenwasser aus. Obwohl die Regionen, in denen intensive Bodenkämpfe stattfanden, am stärksten betroffen waren, wurden Auswirkungen auf das Wasser auch weit entfernt von den aktiven Kampfgebieten festgestellt. Besonders dramatisch ist der Anstieg der Zahl der Menschen in der Ukraine, die Wasser-, Sanitär- und Hygienehilfe benötigen: Zwischen April und November 2022 stieg sie von sechs auf 16 Millionen.

Das salzige Wasser von Mykolajiw

Vom Bruch des Kachowkaer Staudamms ist auch die Region rund um meine Heimatstadt Mykolajiw betroffen. Mit Wasserproblemen hat die Stadt aber schon seit Beginn der russischen Invasion zu kämpfen. Bereits im April 2022 wurde eine 90km lange Pipeline, die Wasser aus dem Fluss Dnipro lieferte, durch Kampfhandlungen zerstört. Eine halbe Million Einwohner*innen hatte plötzlich kein Leitungswasser mehr. Überall sah man Menschen mit Trinkwasserkanistern, die sie von Lieferfahrzeugen bekamen. Obwohl Mykolajiw von zwei Flüssen umgeben ist, eignet sich ihr Wasser aufgrund der hohen Salzkonzentration nicht zum Trinken. Nach einem Monat wurde beschlossen, das Flusswasser trotz geringer Qualität in die Wasserleitungen zu lenken, damit die Menschen es wenigstens für Haushaltszwecke wie Putzen oder Wäschewaschen nutzen können. Es war eine schwierige Entscheidung, da salziges Wasser Rohrleitungen korrodieren lässt. Nach über einem Jahr ist das Leitungswasser noch immer rostig und die Zahl der beschädigten Rohrleitungen in Mykolajiw steigt an. Die Frontlinie verschob sich mittlerweile in den Osten der Stadt und die Orte, an denen die Wasserversorgungsleitung zerstört wurde, sind dadurch zugänglicher. Aufgrund der Gefahr wiederholter Angriffe und der insgesamt vielen Schäden stehen die Reparaturen dennoch weiter aus.

Die unzureichende Wasserversorgung ist einer der Hauptgründe, warum sich viele Flüchtlinge aus Mykolajiw nach wie vor weigern zurückzukehren. Die in der Stadt verbliebenen, zumeist alten Menschen verbringen ihren Alltag mit der ständigen Suche nach Wasser. Regierungsangestellte und Freiwillige halfen bei der Errichtung mehrerer Brunnen, die ihnen Zugang zu Trinkwasser verschaffen. Bis Mitte Februar 2023 wurden 189 Brunnen errichtet und es ist geplant, diese Zahl auf bis zu 250 zu erhöhen – trotz der hohen Kosten von rund 25.000 Euro pro Brunnen. Auch wenn diese Maßnahmen der Bevölkerung helfen, stellen sie eine neue Umweltbedrohung dar, da der Grundwasserspiegel durch die umfangreiche Entwässerung des Bodens sinkt.

Im April 2023 genehmigte die Europäische Investitionsbank die Bereitstellung zusätzlicher finanzieller Mittel in Höhe von 20 Millionen Euro für den Ausbau der Wasserversorgung und des Abwassersystems in Mykolajiw. Das örtliche Wasserversorgungsunternehmen erwägt den Bau einer neuen Pipeline, die Wasser aus dem Südlichen Bug flussaufwärts transportiert, oder die Einrichtung groß angelegter Umkehr-Osmosesysteme, die dazu beitragen, das aus der Dnipro-Bug-Mündung entnommene Salzwasser zu reinigen.

Wasser hat höchste Priorität

Der Zugang zu Wasser ist ein grundlegendes menschliches Bedürfnis, das durch zahlreiche internationale Übereinkommen geschützt ist. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verabschiedete am 27. April 2021 eine Resolution, gemäß der alle an einem bewaffneten Konflikt beteiligten Parteien verpflichtet sind, die Zivilbevölkerung und die zivile Infrastruktur, einschließlich Wassereinrichtungen, zu schützen. Aber funktioniert das auch, wenn tatsächlich ein Krieg ausbricht? Viele Wassertechniker*innen wurden während Reparaturen beschädigter Infrastruktur getötet oder verletzt. Die oft schlechte Qualität des gelieferten Wassers hat negative Auswirkungen auf die Gesundheit und erhöht die Gefahr von Epidemien. Das zwingt Menschen dazu an andere, bessere Orte zu ziehen.

Flüsse kennen keine Grenzen. Die meisten Flüsse auf dem Gebiet der Ukraine münden in das Schwarze und das Asowsche Meer, was zu einer potenziellen Verbreitung von Schadstoffen und negativen Folgen für lebende Organismen führt. Es wird Jahre dauern, bis wir das ganze Ausmaß dieser Auswirkungen verstehen, aber einige von ihnen – wie die Gefahr für die globale Ernährungssicherheit – sind bereits jetzt spürbar. Daher sollten die Wiederherstellung der Wasserinfrastruktur und die Sanierung der Wasserressourcen ein integraler Bestandteil des friedensschaffenden Prozesses werden.

»Impact of the Russia–Ukraine armed conflict on water resources and water infrastructure«, Oleksandra Shumilova et al., in Nature Sustainability 6, 2023.

 

Oleksandra Shumilova arbeitet am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei in Berlin. Sie forscht zu Wechselwirkungen zwischen Mensch und Natur sowie nachhaltiger Entwicklung. Ihre Forschung umfasst auch die Ökologie intermittierender Flüsse sowie die Hydro- und Morphodynamik von Flussauen.

Ein Wohnzimmer am Fluss

Mit »taktischem Urbanismus« wollen Aktivist*innen des Vereins Valyo das Budapester Donauufer inklusiver gestalten. ANITA GOCZA sprach mit CILI LOHÁSZ über Konzerte auf Brücken, Zusammenarbeit mit der Stadtpolitik und den ersten Sprung in die Donau seit 1973.

Der Text wurde in der Ausgabe 2/2023 von Info Europa veröffentlicht. Die vollständige Ausgabe ist hier zu lesen. 

Ein Spaziergang entlang der Donau an der Pest-Seite gestaltet sich äußerst schwierig: Autos, Lärm, Asphalt und CO2 beherrschen die Orte mit der besten Aussicht auf Budapest. Der obere und untere Damm werden als Straßen genutzt. Diese sind nur schwer zu überqueren, auf einer kilometerlangen Strecke gibt es nur vier Zebrastreifen. Wer ans Ufer gelangen will, muss über Metallstangen klettern und selbst dann finden Fußgänger*innen keinen Gehweg, sondern nur einen schmalen Trampelpfad. Cili Lohász wollte das nicht mehr hinnehmen. Sie ist Mitgründerin der NGO Valyo – ein Akronym aus den ungarischen Wörtern város (Stadt) und folyó (Fluss) – und setzt sich für die Demokratisierung von öffentlichen Räumen entlang der städtischen Donau ein.

»Wir wollen den Fluss in das Wohnzimmer der Budapester Bevölkerung verwandeln«, sagt die Geografin. Die Idee zu städtischen Interventionen kam ihr nach einer Radtour entlang der Donau. »In Wien konnten sich die Teilnehmer*innen in der Donau abkühlen, in Budapest war das nicht möglich.« Sie merkte, dass sie zwar regelmäßig an der Donau Rad fährt, jedoch keine Verbindung zum Fluss selbst hatte: »Ich saß fast nie am Ufer.« Das wollte sie ändern.

Brücken besetzen, um Brücken zu bauen

Neben Lohász gründeten ein Urbanist, ein IT-Spezialist und ein Soziologe Valyo im Jahr 2010. Sie alle hatten genug vom Kampf für ferne, globale Klimaziele und wollten etwas tun, das das Stadtleben tatsächlich verändert. 2011 kauften sie deswegen ein Zugticket nach Belgrad. »Es ist viel effektiver ein Foto mit Stränden am Fluss in Belgrad zu zeigen als in Wien«, erklärt Lohász. »Dann kann niemand einfach sagen: Die haben mehr Geld für die Umsetzung.« Die Valyo-Gründer*innen merkten, dass die Menschen in Belgrad eine intensive Verbindung zu ihren Flüssen, der Sava und Donau, hatten. Sie fanden Hausboote, Strände und Nachtclubs an den Ufern. Das brachte ihnen Inspiration für Budapest: »Wir mussten mit kleinen Aktionen starten. Hätten wir von Anfang an gesagt, dass Autos aus dem unteren Uferbereich verbannt werden sollen, wären wir für verrückt erklärt worden.«

Die erste Initiative war das sogenannte »Valyo-Ufer« an der Kettenbrücke in den Sommern 2012, 2013 und 2014 – ein Naherholungsgebiet mit bunten Bänken, Liegestühlen und Freizeitprogramm. »Es war relativ einfach zu organisieren«, sagt Lohász. »Wir holten die Genehmigung der Stadtverwaltung für die Nutzung des öffentlichen Raums ein. Unser Ziel war es, dass die Menschen diese Art der Ufernutzung später vermissen.« Die nächste Großaktion fand auf der Freiheitsbrücke statt. 2016 wurde wegen Bauarbeiten der Verkehr auf ihr für einen Monat gesperrt. »Schon nach ein paar Tagen belagerten Menschen die Brücke. Fußgänger*innen, Radfahrer*innen, manche machten sogar Yoga. Daran knüpften wir den darauffolgenden Sommer an.« Mit einer erfolgreichen Unterschriftenaktion ermöglichte Valyo eine autofreie Freiheitsbrücke an vier Wochenenden in 2017. »Alle Stadtbewohner*innen konnten mitgestalten«, erzählt Lohász. Die Events umfassten Tai-Chi-Kurse, Klassik- und Rockkonzerte, Malkurse, Theateraufführungen und Zirkusshows. »Die Menschen schufen einen demokratischen öffentlichen Raum, in dem alle sozialen Schichten und Altersgruppen vertreten waren.« Finanziert wurde dies über Crowdfunding. Laut Lohász zeigten die Aktionen, dass öffentliche Räume verschiedene Funktionen haben: »Man muss nicht immer zwischen Autobahn oder Spielplatz entscheiden. Derselbe Ort kann unter der Woche als Straße und an Wochenenden als Picknickplatz genutzt werden.« Gleichzeitig wollte Valyo die Kommerzialisierung der Plätze vermeiden: »Es sollte kein Konsumzwang herrschen, ein teures Foodtruckfestival kam für uns nicht in Frage.«

Politikum öffentlicher Raum

Ein großer Meilenstein in der Geschichte Valyos ist die Errichtung eines kostenlosen öffentlichen Strandes in Budapest in Zusammenarbeit mit der NGO Fák a Rómain (Bäume am Römischen Ufer). »Der Kieselstrand am Római-Ufer ist für mich auch eine symbolische Errungenschaft. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts galt die Donau als schmutziges und stinkendes Wasser, in das man nicht einmal seinen kleinen Zeh stecken sollte«, schildert Lohász. Tatsächlich war das Schwimmen in der Donau in Budapest seit 1973 verboten. Nachdem ein modernes Wasserreinigungssystem installiert wurde, und Testtage in 2019 und 2020 stattfanden, eröffnete die Stadt 2022 einen öffentlichen Strand mit Badeaufsicht. Das erste Mal seit fast 50 Jahren konnten die Budapester*innen wieder sicher in ihrem Stadtfluss schwimmen.

Der Strand ist beispielhaft für Valyos Zusammenarbeit mit dem Stadtrat. »Unsere Aufgabe ist es, das Potential bestimmter Veränderungen aufzuzeigen. Wenn sich unsere Versuche als erfolgreich erweisen, werden sie Teil der Stadtpolitik und wir können uns zurückziehen«, meint Lohász. Im Falle des Strandes bestünde ihre Rolle nur mehr darin, bedarfsweise mit ihrem Expert*innenwissen zu unterstützen. Und dieses ist breit gefächert. Unter den mittlerweile 30 Mitgliedern von Valyo finden sich verschiedenste Berufsfelder.

Lohász erkannte, dass es vor allem ab 2018 eine politische Wende mit Donau-Schwerpunkt gab. Der Fluss tauchte immer öfter in politischen Debatten auf und Bürgermeisterkandidat*innen begannen über die Donau und ihre enge Verbindung zur Stadt zu sprechen. Sie bemerkte auch den großen Erfolg des Projektes an der Freiheitsbrücke: Konkurrierende Parteien verwendeten Fotos der Brücke voller Menschen in ihren Kampagnen. Lohász wertet dies als Erfolg, denn Autofahrer*innen galten in Budapest stets als wichtige Zielgruppe für Politiker*innen. Mit dem Wechsel in der Stadtregierung von der nationalkonservativen Regierungspartei Fidesz zu einem Oppositionsbündnis wurde die Zusammenarbeit Lohász zufolge noch einfacher. Im Oktober 2022 unterzeichnete Valyo im Budapester Rathaus gemeinsam mit 17 weiteren Organisationen und Behörden eine Erklärung über die Zukunft des Ufers auf der Pest-Seite der Stadt. Unter den Unterzeichnern waren Organisationen, die sich aktiv für die alternative Gestaltung des unteren Damms aussprachen, und jene, die zuvor dagegen waren. Sie alle kamen zur Einigung, dass der Damm zugänglicher für Fußgänger*innen und Radfahrer*innen werden soll.

Probieren und Studieren

Stadtplanung ist ein sensibles Unterfangen, es müssen die Interessen verschiedenster Stakeholder*innen beachtet werden. »Bei der Gestaltung des Valyo-Ufers merkten wir, dass sogar Radfahrer*innen den Raum unterschiedlich nutzen, abhängig davon, ob sie Rennrad, Stadtrad, oder gemeinsam mit Kindern fahren«, resümiert Lohász. Valyos Ansatz nennt sich daher »taktischer Urbanismus«. Neue Ideen werden zuerst getestet, bevor man sie in großem Maßstab umsetzt. »So können wir sozialen Konsens erreichen.« Auch wenn ihr persönliches Ziel ein autofreies Ufer sei, weiß Lohász, dass sich dieses in weiter Ferne befindet. Phasenweise Autosperren würden aller dings Ideen liefern, wie diese Räume neu genutzt werden können. »Die Pandemie hat uns gezeigt, wie wichtig öffentliche Räume in einer überfüllten Stadt sind – Menschen sehnten sich danach, ihre Beine im Grünen zu vertreten. Dies hatte eine stärkere Wirkung als eine jahrelange Sensibilisierungskampagne.« Deswegen ist sich Lohász auch sicher: »Wenn wir wirklich wollen, finden wir für alle einen vernünftigen Kompromiss.«

 

Cili Lohász ist ausgebildete Biologie- und Chemielehrerin sowie Geografin. Sie arbeitete als Bildungsexpertin für Klimaanpassung und nachhaltige Energienutzung, bevor sie Valyo mitgründete.

Anita Gócza arbeitete 15 Jahre lang als Radio-Reporterin und Redakteurin für die nationale Radiostation in Ungarn. Seit 2011 ist sie als freie Journalistin mit Fokus auf kulturelle Themen sowie als Dozentin für Online- und Radiojournalismus an der Budapest Metropolitan University tätig.

 

Verschwommene Grenzen im Nordkosovo

Durch den Gazivodasee verläuft die Grenze zwischen Kosovo und Serbien. Beide Länder befinden sich in einem jahrzehntelangen Konflikt, der auch in die Verwaltung des Sees einfließt. SOPHIA BEITER sprach mit LJUBIŠA MIJAČIĆ über unterschiedliche Zukunftsszenarien.

Der Text wurde in der Ausgabe 2/2023 von Info Europa veröffentlicht. Die vollständige Ausgabe ist hier zu lesen.

Im glasklaren Wasser des Gazivodasees (albanisch: Ujëmani See) spiegeln sich sanfte Hügel, die zu sandigen Badebuchten abfallen. Hier und da tuckert ein Fischerboot vorbei. Der Stausee ist ein beliebtes Erholungsgebiet. Im Sommer entfliehen hier viele Einwohner*innen der nahegelegenen Stadt Mitrovica dem urbanen Lärm. Doch hinter der idyllischen Fassade schwelt ein jahrzehntelanger Konflikt: Der bis zu 100m tiefe und 22km lange Stausee liegt zu 80% in der kosovarischen Gemeinde Zubin Potok. Im Norden erstreckt sich das Gewässer über die Grenze in die serbischen Gemeinden Tutin und Novi Pazar. Für Serbien, das den seit 2008 unabhängigen Staat Kosovo nicht anerkennt und als autonomes Gebiet innerhalb der eigenen Grenzen betrachtet, ist der See zur Gänze auf serbischem Territorium. Doch Kosovo, dessen Bevölkerung und Industrie stark von der Wasserzufuhr aus dem See abhängig sind, erhebt ebenso Ansprüche auf das Grenzgewässer. So wird der Gazivodasee – einst symbolisch für jugoslawische »Brüderlichkeit und Einheit« – ein Monument der umgekehrten Art.

Der Norden Kosovos wird großteils von der serbischen Minderheit bewohnt, was das Gebiet zum Hauptschauplatz von Auseinandersetzungen zwischen Belgrad und Priština macht. Bis heute gelingt es dem Kosovo nicht, die nordkosovarischen Gemeinden zu integrieren. Gleichzeitig sehen serbische Politiker*innen die Serb*innen in der Region von der ethnisch albanischen Mehrheit im Kosovo bedroht. Ljubiša Mijačić, selbst Serbe aus dem Nordkosovo, berichtet von einer zunehmend angespannten Lage. Der Umweltspezialist, der sich seit Jahren mit dem See beschäftigt, sagt: »Seit dem Herbst 2022 wird die Region zunehmend militarisiert.« Bereits davor kam es im Streit über Ausweisdokumente und Nummernschilder zu Straßensperren nahe des Gazivodasees.

Unklare Zuständigkeiten

Auch der See selbst wird oft zum Streitthema. Der Damm am Fluss Ibar wurde 1977 errichtet. »Die Idee dahinter war, die wirtschaftliche Entwicklung der industriell schwachen Provinz Kosovo voranzutreiben. 1984 wurde ein Kanal gebaut, der das Wasser ins Zentrum des Kosovos lenkt«, erzählt Mijačić. 11km2 Land wurden im Zuge der Errichtung geflutet, über 2000 Menschen mussten umgesiedelt werden.

Die Verwaltung des Sees übernahm die von der autonomen Provinz Kosovo geführte Firma Ibar Lepenac. Doch mit dem Zerfall der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawiens und der darauffolgenden Unabhängigkeitserklärung Kosovos geriet diese in Kosovos staatliche Hand – ein Staat, den Serbien bis heute nicht anerkennt. Daraufhin gründete Serbien die JP Ibar zur Verwaltung des Sees. »Die Firmen erkennen sich gegenseitig nicht an und beanspruchen jeweils die Verwaltung des Sees für sich«, erläutert Mijačić. In der Realität betreut Ibar Lepenac jedoch nur den Kanal und verdient somit an der Belieferung kosovarischer Unternehmen mit Wasser. Darüber hinaus versorgt sie rund 200.000 Kosovar*innen mit Trinkwasser. JP Ibar kümmert sich um die Instandhaltung von See und Damm. Dadurch schafft die Firma Arbeitsplätze im Nordkosovo, generiert allerdings kaum Einnahmen und muss sich auf die finanzielle Unterstützung Serbiens verlassen. »Von wem soll JP Ibar Geld verlangen? Die kosovarischen Firmen, die das Wasser erhalten, erkennen weder den serbischen Dinar als Zahlungsmittel noch die Firma selbst an«, sagt Mijačić.

Kosovo besitzt wenige alternative Wasserressourcen. »Es gibt kaum Niederschlag und keine anderen großen Flüsse, die zur industriellen Wasserversorgung genutzt werden.« Das mache das Land abhängig vom Gazivodasee. »Wenn die Wasserversorgung aus dem See gestoppt oder reduziert würde, käme die Industrie im Kosovo zum Erliegen«, stellt Mijačić fest. Auch wenn so ein Szenario unwahrscheinlich sei, sollte die regionale Verflochtenheit über den Fluss Ibar nicht unterschätzt werden. Dieser entspringt in Montenegro und fließt nach Serbien, wo er bei Ribariće den Stausee befüllt. Von dort fließt der Ibar im Kosovo weiter Richtung Mitrovica und anschließend zurück nach Serbien. Zieht Kosovo mehr Wasser aus dem See zur eigenen Versorgung, hat das Auswirkungen auf den Rückfluss nach Serbien. Beschließt Serbien aufgrund von Investitionen im Industriesektor am oberen Teil des Flusses mehr Wasser abzuzweigen, würde Kosovo darunter leiden.

Umweltschutz als Ansatzpunkt

Wassermangel wird in Zukunft aber auch ohne diese Interventionen zum Problem. Die Folgen des Klimawandels machen sich bereits bemerkbar. »Es braucht Schnee im Winter, um die Wasserkapazität im Frühjahr zu erhöhen. Andernfalls gibt es im Sommer Niedrigwasser«, erklärt Mijačić. Der letzte Winter zeigte wiederum, dass auch zu viel Wasser problematisch ist. Aufgrund der milden Temperaturen regnete es im Jänner sehr stark. »Seit Bestehen des Staudamms gab es nie so viel Druck auf den Damm. Die Schleusen mussten geöffnet werden, das Tal wurde geflutet. Zahlreiche Häuser waren von der Überschwemmung betroffen.« Hinzu komme Wasserverschmutzung, insbesondere des Ibar im Kosovo. Das Wasser aus dem Gazivodasee ist sauber. Bei Mitrovica mündet jedoch der Nebenfluss Sitnica in den Ibar und mit ihm Abwässer von Haushalten, Industrie und Landwirtschaft. In diesem Zustand fließt der Fluss schließlich zurück nach Serbien. »Umweltbelastungen bergen Gefahren für Wirtschaft und Gesundheit. Das verursacht Konflikte«, meint Mijačić. Eine verbesserte Zusammenarbeit von Serbien und Kosovo sei deshalb unabdinglich.

Doch wo setzt Kooperation in einer so nationalistisch aufgeladenen Situation an? Mijačić sieht Potential beim Umweltschutz: »Um den Dialog zu starten, sollte mit etwas begonnen werden, bei dem keine Seite die Vorherrschaft an sich reißt.« Er hat auch eine Idee, die den Verband serbischer Gemeinden im Nordkosovo involviert. Der EUVorschlag zu diesem Gemeindeverband, der seit 2013 diskutiert wird, aber bisher nicht umgesetzt wurde, umfasst eine stärkere Selbstverwaltung der mehrheitlich serbischen Gemeinden im Kosovo. Die Gemeinde Zubin Potok, in dem der Gazivodasee liegt, würde ebenfalls Teil dieses Gemeindeverbandes werden. Da der Ibar in die Morava mündet und diese schließlich in die Donau fließt, sei die Sauberkeit des Flusses auch mit der Wasserqualität der unteren Donau verbunden. »Kosovo ist im Gegensatz zu Serbien allerdings nicht Teil der Internationalen Kommission zum Schutz der Donau (IKSD), da einige Mitgliedstaaten der Initiative die Unabhängigkeit Kosovos nicht anerkennen. Die Gründung eines serbischen Gemeindeverbandes wird allerdings von allen unterstützt«, betont Mijačić. Daher könne eine vom serbischen Gemeindeverband verwaltete Umweltabteilung – beauftragt von der kosovarischen Regierung – womöglich Teil der IKSD werden. »Damit hätte Kosovo Zugang zu Informationen, um Umweltschäden vorzubeugen.« Zudem wären die Kosovo-Serb*innen in die Verwaltung des Sees eingebunden, was ihre Integration innerhalb Kosovos begünstige. Das verringere das Risiko, dass Serbien mehr Wasser vom Ibar abzweigt. Denn dann müsste Serbien nicht nur mit dem Widerstand von Kosovo-Albaner*innen, sondern auch von den Serb*innen im Kosovo rechnen. Auch wenn es naiv klinge, laut Mijačić bestehe dadurch eine Chance, dass »die Serb*innen im Nordkosovo zu Hüter*innen des Wassers für die KosovoAlbaner*innen werden.«

Trübe Aussichten

Die Umsetzung solcher Vorhaben bleibt aber schwierig. Die nationalistischen Narrative seien zu festgefahren und es gebe keine öffentliche Debatte über den See. Mijačić folgert: »Zusammenarbeit wurde nie versucht.« Trotzdem gibt er die Hoffnung auf eine Zukunft mit gemeinsamen Zielen nicht auf – denn die zunehmende Wasserknappheit wird die Region weiter unter Druck setzen. Er weiß: »Es ist im besten Interesse von Belgrad und Priština Mechanismen der Zusammenarbeit zu schaffen. Und das am besten schon gestern.«

 

Sophia Beiter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am IDM. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen die Schwarzmeerregion, Sprachpolitik und ethnische Minderheiten.

Ljubiša Mijačić beschäftigt sich mit der Wassersicherheit im Kosovo und entwickelte Möglichkeiten zur Nutzung der Wasserressourcen im Rahmen der interethnischen Versöhnung. Seine Vorschläge präsentierte er Stakeholder*innen des Belgrad-Priština-Dialogs.

IDM Short Insights 26: Five years of Prespa Agreement

On 17 June 2018, representatives of the then-republic of Macedonia and Greece signed the historic Prespa agreement, paving the former Yugoslav republic’s way into NATO and the EU. The agreement included a name change of the Republic of Macedonia to North Macedonia and clarification that the Southern-Slavic nation is not related to the ancient kingdom of Macedonia, with which a considerable part of Greeks identify. In exchange the Macedonian language was recognized by the United Nations and Greece stopped its veto on North Macedonia’s NATO and EU accession talks. The Prespa Forum Dialogue 2023 at lake Ohrid looked at good and improvable examples of neighbourly relations in the Western Balkans. These relations are also reflected in the region’s numerous border lakes.

Transcript:

I am in Struga, a town located at the Lake Ohrid in North Macedonia. The shores of this picturesque lake became the scene for several meetings of representatives from the Western Balkan region and the International Community since the Yugoslav Succession Wars. 

So was the Ohrid Framework Agreement signed here in the closeby city with the same name in 2001. This agreement aimed to put an end to violent conflicts within the Former Yugoslav Republic Macedonia and to secure minority rights, especially those of the largest ethnic minority, the Albanians, in order to consolidate the sovereignity and territorial integrity of the country, although tensions continue to flare up time and again. 

In March of 2023, Kosovos Prime Minister Albin Kurti and Serbian President Aleksandar Vucic met in Ohrid to discuss the so-called European Proposal aiming for normalization of relations between both countries. Although EU foreign policy chief Josep Borrel tweeted “We have a deal” after the meeting, both parties did not sign the agreement and the implementation of respective proposal is still pending. In the last days violence is escalating in the Serb-majority North of Kosovo, making a peaceful resolution in the near future even more unlikely. 

This week, the Prespa Forum Dialogue took place here in Struga. And this very day of recording the video, June 17 2023, marks five years of signing the historic Prespa Agreement between North Macedonia and Greece. In 2018, representatives of Greece and the then-republic of Macedonia met at the closeby lake Prespa on the borders of Albania, Greece and North Macedonia and signed the agreement paving the former Yugoslav republic’s way into NATO and the EU. The agreement included a name change of the Republic of Macedonia to North Macedonia and clarification that the Southern-Slavic nation is not related to the ancient kingdom of Macedonia, with which a considerable part of Greeks identify. In exchange the Macedonian language was recognized by the United Nations and Greece stopped its veto on North Macedonia’s NATO and EU accession talks. North Macedonia became a NATO member in 2020 and EU accession talks began in 2022. 

I had the pleasure to speak at a panel at the 2023 Prespa Forum Dialogue about youth’s contribution to the energy transition and a sustainable future for all. In order to achieve these goals, cross-border cooperation is inevitable. Environmental protection does not stop at borders, the air, rivers and lakes do not know borders – Lake Prespa, but also Lake Ohrid are perfect examples for this. The dispute between Kosovo and Serbia is also reflected in a border lake, namely lake Gazivoda. How this conflict flows into environmental and energy issues is described in our upcoming issue of our German-language magazine Info Europa. “Kampf ums Wasser”, meaning “The fight for water” is published on 15th July as supplement to the Austrian daily Die Presse and a free-of-charge ePaper. So make sure to read this and many more interesting stories about environmental, social and also military conflicts in the region. 

IDM Short Insights 25: Bulgaria’s New Government: Pro-European, Yet Divided

Two months after the parliamentary elections in Bulgaria, a new government has finally been formed. The conservative centre-right alliance GERB-SDS and the liberal alliance „Change Continues – Democratic Bulgaria“ will form a joint 18-month government with rotating prime ministers. First, Nikolay Denkov from the liberals will become prime minister. After nine months Mariya Gabriel from GERB-SDS will succeed him. The new Bulgarian government is expected to pursue a pro-European agenda. At the same time, the alliances will have to bridge their differences to provide long-term stability for Bulgaria.

Bulgaria’s New Government: Pro-European, Yet Divided 

Bulgaria has formed a new government. For many this may come as a surprise and relief at the same time. The elections in April 2023 marked the fifth parliamentary election within a span of only 2 years. Now the winner of the election, the conservative centre-right alliance GERB-SDS, and the liberal alliance “Change Continues – Democratic Bulgaria” have reached an agreement. They will establish an 18-month joint government with rotating prime ministers. In a vote in parliament on 6 June, the government was confirmed with 131 out of 200 votes. First, the liberal’s former Education Minister, Nikolay Denkov, will assume the role of Prime Minister. After nine months he will be succeeded by former EU Commissioner Marija Gabriel from the conservative GERB-SDS.  

Bulgaria is in urgent need of stable governance. Whether the new government can provide long-term stability remains to be seen. The negotiations between the alliances were challenging. During the election campaign, the liberals firmly rejected any idea of a coalition with the conservatives. Talks even experienced a temporary freeze due to a leaked video of the liberals’ internal discussions. The deep divisions and lack of trust between the alliances are evident. But they also have some common goals. The new government will pursue a pro-European agenda. Bulgaria’s accession to the Schengen and the Eurozone are expected to be among the government’s primary objectives. Both alliances also support providing military aid to Ukraine. Regarding domestic concerns, a comprehensive reform of the judiciary system and combating corruption will be given top priority. It is now up to Denkov and Gabriel to overcome their differences.  

Musik und Ekstase gegen die Traurigkeit

SHMUEL BARZILAI ist seit mehr als 30 Jahren Oberkantor der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) am Stadttempel. Für INFO EUROPA gibt er einen Einblick in die Rolle der Musik im Chassidismus und verrät, was sich hinter der religiösen Ekstase verbirgt.

Eine jüdische Erzählung berichtet von Rabbi Schabtai, einem sehr armen Buchbinder aus einer polnischen Kleinstadt. Trotz all seiner Arbeit konnte er am Schabbat nicht mehr als etwas Brot und gesalzenen Fisch für das gemeinsame Fest aufbringen. Doch der Rabbi blieb trotz aller Widrigkeiten fröhlich und hatte die Angewohnheit, an jedem Schabbat mit großer Freude zu tanzen. Er lebte zur gleichen Zeit wie Israel ben Eliezer (1700–1760), bekannt als »Baal Schem Tov« (Meister des guten Namens), dem Begründer des Chassidismus. Dieser sah die Tänze von Rabbi Schabtai und sagte ihm, dass er als Verdienst für seinen freudvollen G-ttesdienst* einen Sohn zeugen werde, der die Augen Israels erleuchten wird. Und tatsächlich wurde dem armen Buchbinder ein Sohn geboren, der später einflussreiche Lehrer und Prediger Israel Hopstein von Kozienice. Überlieferungen wie diese zeigen, wie zentral das freudvolle Musizieren und Singen im Chassidismus ist.

Die jüdische Erneuerungsbewegung wurde in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Osteuropa gegründet und bildet bis heute einen wichtigen Teil des Judentums. Im Chassidismus sind nicht nur das Studium der Tora, sondern auch kleine Taten (als Dienste an G-tt) von wichtiger Bedeutung. Den G-ttesdienst mit Freude zu verrichten, ist eine Idee, die das äußere Erscheinungsbild des Chassidismus stark prägt. Die Literatur ist voll von Lehren, die diese Absicht zum Ausdruck bringen. Viele im Umfeld des Chassidismus erklärten sie sogar zu einer der Neuerungen, die der Chassidismus brachte, und zu einem seiner typischsten Charakterzüge. Musik ist ein zentraler Ausdruck dieser Freude. Dem Musikforscher Abraham Zvi Idelson (1882–1938) zufolge bestehe der wesentliche Wert der Melodie darin, dass sie zu einem Erwachen und einer Freude führe, denn die Traurigkeit stamme von der »anderen Seite« (Sitra achra). Der Gesang hilft dabei, die Traurigkeit in unserem Inneren zu vertreiben. Denn nur ein G-ttesdienst mit Freude ist ein vollständiger Dienst, und dazu braucht es Gesang und Melodie.

Geschichte und Gegenwart

Blicken wir zurück in die lange Geschichte des Judentums, bildeten Instrumente und Gesang schon früh Fixpunkte des G-ttesdienstes. Im Tempel wurde der Gesang von den diensthabenden Lewiim ausgeführt. Sie sangen im Tempel Gesänge des Dankes und des Lobes, während das tägliche Opfer gebracht wurde, wie im »Buch der Chronik« geschrieben steht. Ihr Gesang im Tempel wurde von Musikinstrumenten begleitet, von Flöte, Harfe und Lyra, von Pauke und verschiedenen Zimbeln. Dieser Gesang der Lewiim wurde nicht als »Hintergrundmusik« verstanden, sondern war integraler Bestandteil des G-ttesdienstes und nach der Meinung von Rabbi Meir konnte er sogar das Opferritual verzögern, wie es im Traktat Erechin des Talmud heißt. Aus dem Tempel wanderte der Gesang in die Synagoge. Sie ist der öffentliche Versammlungsort für das dreimal täglich zu verrichtende Gebet, für die Gebete am Schabbat und Feiertag, für das Lernen der heiligen Bücher (wie Tanach, Mischnah, Talmud etc.), aber auch für verschiedene Zusammenkünfte und Veranstaltungen. Die Synagoge entwickelte ihre Bedeutung im Exil und wurde zum Mittelpunkt des geistigen, moralischen und öffentlichen Lebens des Volkes, sie diente als Befestigung seines Bestehens, und ist gewiss bis heute ein Ort der Ehre und Pracht der Gemeinde Israels. Jedes öffentliche Ereignis und jede Versammlung von Tora-Lernenden, Persönlichkeiten des Gemeindelebens oder Versammlungen des Volkes zu Zeiten der Freude oder der Not hatten ihren Platz in der Synagoge. Das liturgische Rezitativ war und ist die wichtigste Disziplin des Vorbeters. Er macht von verschiedenen traditionellen melodischen Mustern Gebrauch, von denen einige festgelegt, andere flexibel sind. Als Oberkantor habe ich neben der traditionellen Musik auch viele neue Melodien in den G-ttesdienst mitgebracht, damit möglichst viele Gemeindemitglieder mitsingen können. Ich finde, wenn man zusammen singt, kommt nicht nur viel Freude auf, sondern alle fühlen, dass sie nicht nur passiv, sondern aktiv mitbeten können. Ich habe auch einen Kinderchor gegründet. Er singt zusätzlich zu dem Erwachsenenchor an jedem Schabbat und Feiertag. Der Kinderchor bringt frischen Wind und Freude in die Gemeinde und in die Familien, in denen diese Melodien gesungen werden.

Bedeutungsvolle Tänze

Neben dem Gesang spielt auch der Tanz eine wichtige Rolle im Chassidismus. Die religiöse Ekstase, die mit dem Tanz erstarkt und aufsteigt, lässt die Tanzenden die Welt um sie herum vergessen und erhebt sie zum Himmel. Dahinter steht die Überzeugung, dass der G-ttesdienst im Tanz nicht nur mit der Seele geschieht, sondern auch mit dem Körper. Die Freude ist nicht nur in Geist und Seele, sondern auch zur Gänze in uns und unserem Körper. Für diesen Augenblick der Ekstase ist es uns Menschen möglich, unseren Geist nach oben zu erheben und uns mit G-tt zu verbinden. In einem Interview, das ich mit dem ehemaligen Oberrabbiner von Österreich, Rabbi Chaim Eisenberg, führte, brachte der Rabbiner weitere Erklärungen über die Bedeutung von Tänzen im Chassidismus vor: »Zum Beispiel beim Simchat Tora, wenn man mit der Tora in einem Kreis tanzt, so heißt das, man hat den Kreis der Tora-Lesung beendet. Eine andere Erklärung ist, dass im Kreis alle gleich weit von der Mitte sind, und die Mitte ist das Zentrum, und Zentrum ist die Tora, oder der liebe G-tt, und wir sind gleich weit und sollen nicht glauben, der eine ist nahe und der andere ist weit. Diese Tanzbewegungen haben viel zu bedeuten, Tanz ist viel mehr als Disco.«

*G-tt ist eine von mehreren Schreibweisen im Judentum, um das Wort Gott zu vermeiden. Besonders orthodoxen Jüd*innen ist es wichtig, den Namen nicht auf einen menschlichen Begriff zu reduzieren.

 

Mag. Shmuel Barzilai ist Kantor und Komponist, geboren in Jerusalem. Er studierte an der Yeshiva »Beer Yaakov«, K‘nesset Chiskijahu und Hevron, am Rabbiner College in Givataim (Israel), am Institut für Kantoren-Gesang der Stadt Tel Aviv sowie Philosophie und Judaistik an der Universität Wien. Seit 1992 ist er als Oberkantor der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien tätig.