Schön, wahr, streitbar?

Was heißt es für eine Gesellschaft, wenn alles an ihr nur mehr relativ erscheint? Wenn Trennlinien verschwimmen und Etabliertes in Frage steht? Der Politologe MICHAEL WIMMER kennt die österreichische Kulturlandschaft und schreibt über die Chancen und Gefahren in Zeiten des Umbruchs.

Als Heranwachsender in den 1950er und 1960er Jahren schien die Welt noch in Ordnung. Die zentralen Instanzen Familie, die Großparteien und der Staat samt seiner Vermittlungsagentur Schule, darüber hinaus die katholische Kirche und der Kulturbetrieb, gaben klare Weltbilder vor und verpflichteten zu verbindlichen Verhaltensregeln. Ich konnte damit nicht einverstanden sein und versuchte, dagegen aufzubegehren. Und doch lag über der gesamten Gesellschaft eine rigide Eindeutigkeit von richtig und falsch, gut und böse sowie schön und hässlich, der sich kaum jemand zu entziehen vermochte. Der Staat verfügte über die »richtige« Kultur, die durch Kultureinrichtungen repräsentiert wurde. AbweichlerInnen wurden mit Gesetzen sanktioniert, die dafür sorgen sollten, eine für alle verbindliche österreichische Kultur in der Bevölkerung durchzusetzen. Zu ihrer Verbreitung gab sich der Staat einen Erziehungsauftrag, der die »Kulturlosen« mit der staatlich verordneten Kultur vertraut machen sollte. Nicht zuletzt, um damit die Bemühungen zur nationalen Identitätsbildung zu unterstützen. Diese »Leitkultur« wurde erstmals in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre hinterfragt. Damals traten vor allem junge Menschen zunehmend öffentlichkeitswirksam auf den Plan, um sich dem staatlich verordneten Sog des einzig Richtigen, Wahren und Schönen entgegenzusetzen. Aus dem Geist der ausgegrenzten Subkulturen der 1960er Jahre erwuchsen nach und nach Alternativbewegungen, die Anspruch auf eine eigene Interpretation der Welt gegen jene des Establishments erhoben. So bildeten neue Kulturinitiativen den Nukleus der Infragestellung einer rückwärtsgewandten Kulturpolitik, die sich weigerte, von ihrem paternalistischen Selbstverständnis abzurücken und alles tat, um kultureller Selbstermächtigung entgegenzuwirken.

Monopole am Ende

Damit einher ging seit den 1980ern ein Diskurs, der die Künste als gemeinschaftsstiftender Faktor in Frage stellte. Beschrieb der italienische Philosoph und Schriftsteller Umberto Eco noch eine Tendenz in Richtung »offenes Kunstwerk«, so sprach der US-Amerikaner Arthur C. Danto gleich vom »Ende der Kunst«. Beide folgten der Entwicklung der Avantgarde des 20. Jahrhunderts, die in ihrem Kampf gegen die Hermetik des Kulturbetriebs die Auflösung des etablierten Kunstbegriffs immer weitertrieb. Am Ende landeten sie bei der Aussage, dass im Prinzip alles Kunst sein kann. Damit wurde eine gesicherte Trennlinie zwischen Kunst und NichtKunst eliminiert, was bei Nichteingeweihten für Ratlosigkeit sorgte. Ähnliches trifft auf den Wissenschaftsbetrieb zu. Eine der Ursachen für seine tendenzielle Entwertung liegt darin, dass – wie in den Künsten – schon lange vor der Pandemie ein Relativierungsprozess einsetzte. Wissenschaft verlor das aufklärerische Interpretationsmonopol der Welt. Verblüfft stellen wir aktuell fest, dass selbst Hochgebildete rationale Erkenntnis auf die gleiche Stufe der Weltwahrnehmung stellen wie irrationalen Glauben. Das macht deutlich, dass das Pendel der Rationalität immer mehr zur Emotionalität ausschlägt. Auch die Medien unterliegen einem Transformationsprozess. Sie verloren ihre Stellung als VermittlerInnen einer konsistenten, auf soliden Recherchen basierenden Weltsicht. Als sensationsgeile AkteurInnen am hart umkämpften Medienmarkt büßten sie viel an Glaubwürdigkeit ein. Die Repräsentation von Öffentlichkeit traten sie an die – jedenfalls vordergründig – stärker auf Mitwirkung und Interaktion angelegten Sozialen Medien ab. In ihnen geben nicht mehr Fachleute die Inhalte vor. Alle können mitreden, Informationen weitergeben, Meinungen kundtun und zu Aktivismus aufrufen. Soziale Medien sind vielleicht die überzeugendste Ausdrucksform dafür, dass der Staat und seine Agenturen das Monopol der Weltinterpretation verloren haben. An ihre Stelle treten die BürgerInnen selbst, die Wahrheit, Schönheit und Richtigkeit kreieren bzw. sich in temporären Allianzen denen anschließen, die mit ihnen auf einer Wellenlänge zu sein scheinen.

Kultur auf neuen Bahnen

In all diesen Auflösungserscheinungen samt ihren zum Teil gefährlichen, zum Teil hilflosen Gegenreaktionen, platzt aktuell die nunmehr bereits zwei Jahre währende Pandemie als die wahrscheinlich größte gesellschaftliche Herausforderung nach dem Zweiten Weltkrieg. Spätestens die Auswirkungen der Pandemie haben gezeigt, dass nicht nur in Österreich eine tiefsitzende Verunsicherung entsteht. Diese speist sich einerseits aus der wachsenden und irgendwann nicht mehr aushaltbaren Komplexität der Lebenswelten und andererseits aus dem gebrochenen Versprechen des sozialen Aufstiegs durch Leistung und dem damit verbundenen Zusammenbruch des solidarischen Zusammenhalts. Der deutsche Soziologe Armin Nassehi spricht von einer »überforderten Gesellschaft«. Ein massenhaftes Aufbegehren gegen die herrschenden Verhältnisse, aus den verschiedensten Ecken, scheint nur zu logisch. Die frustrierten SkeptikerInnen, bei denen sich ein langjähriger Hass gegen Politik, Wissenschaft, Medizin, Medien, gegen Bildungseinrichtungen und auch gegen die Arroganz des Kulturbetriebs aufgestaut hat, finden endlich ein Ventil und schließen sich zu einer, wenn auch unheiligen, Allianz zusammen. Auch wenn die Bekämpfung der Pandemie im Moment alles andere überstrahlt, so lässt sich das wachsende Heer derer, die mittlerweile fast täglich gegen die Maßnahmen der Regierung demonstrieren, in zwei Richtungen lesen. Einerseits als Rückfall in kollektiven Irrationalismus und andererseits als gesellschaftlicher Emanzipationsprozess, der sich auf die Suche nach machbaren Zukunftsszenarien macht. Geht es nach den Erwartungen vieler junger Menschen, dann stehen wir heute vor der Aufgabe, Politik neu zu denken. Das Erproben von Mitbestimmungsmodellen wie BürgerInnenbeteiligung, neue Governance-Strukturen oder BürgerInnenräten steht für diesen durchaus optimistisch machenden Trend. Voraussetzung dafür ist die Wiederherstellung von Öffentlichkeit bzw. von öffentlichen Räumen, in denen Menschen ganz unterschiedlicher Hintergründe aufeinandertreffen, sich austauschen, verhandeln und Kompromisse schließen. Dem Kulturbetrieb könnte dabei eine wichtige Aufgabe zukommen. In Zeiten der Pandemie sehen wir vor allem die Zentrifugalkräfte am Werk. Die mindestens ebenso wirksamen Zentripetalkräfte werden unterschätzt. Und doch sind sie es, die bei der Deutungshoheit für ein besseres Morgen entscheidend sein werden. Eine solche, so lernen wir aus der Geschichte des Emanzipationsprozesses der letzten 50 Jahre, will nicht mehr als sakrosankt vorgegeben werden. In einer streitbaren Zivilgesellschaft muss diese von uns allen täglich neu erkämpft werden.

 

Dr. Michael Wimmer ist Gründer und Direktor von EDUCULT, Vorstand des Österreichischen Kulturservice (ÖKS), Musikerzieher und Politikwissenschaftler. Er doziert an der Universität für angewandte Kunst Wien und arbeitet als Lehrbeauftragter am Institut für Kulturmanagement und Gender Studies der Universität für darstellende Kunst Wien sowie am Institut für Lehrer*innenBildung der Universität Wien. Seine Expertise umfasst die Zusammenarbeit von Kunst, Kultur und Bildung. Er war in der Expertenkommission zur Einführung der Neuen Mittelschule und berät den Europarat, die UNESCO und die Europäische Kommission in kultur- und bildungspolitischen Fragen.

Route neu berechnen

Was tun, wenn eine Wanderausstellung vor geschlossenen Grenzen steht? Mit den Absagen von physischen Events wuchs das Projekt Kunst am Strom über sich und die Grenzen der analogen Welt hinaus. Ein Bericht von MÁRTON MÉHES.

Alles hat so gut angefangen: »Das internationale Kunstprojekt ‚Kunst am Strom‘ führt Kunstpositionen, KünstlerInnen und KuratorInnen aus dem Donauraum zusammen (…). Ziel des Projekts ist der Dialog von verschiedenen Kunstpositionen aus den Donauländern, die in einer Wanderausstellung (…) in acht Städten der Region gezeigt werden. Darüber hinaus werden sich KünstlerInnen und KuratorInnen aus Deutschland, Österreich, der Slowakei, Ungarn, Kroatien, Serbien, Rumänien und Bulgarien im Rahmen von Symposien begegnen, sich austauschen und Netzwerke bilden.« Soweit ein Zitat aus der Projektbeschreibung, verfasst Mitte 2019. Im Nachhinein merkt man dem Text ein gewisses Selbstbewusstsein an: Wir planen etwas und setzen es dann um – was soll da schon schiefgehen? Nur wenige Monate später, im Mai 2020, schlugen wir im Einführungstext zu unserem Ausstellungskatalog bereits ganz neue Töne an: »Angesichts der aktuellen Klimakrise und der Fragen der post-epidemischen ‚Weltordnung‘ ist der Donauraum mit der Herausforderung konfrontiert, Vergangenheitsbewältigung und die Entwicklung von Zukunftskonzepten gleichzeitig voranzutreiben. Die historischen Erfahrungen aus dieser Region könnten dabei auch hilfreich werden. Wir müssen jetzt auf Innovation und Kreativität setzen.« Unser Selbstbewusstsein ist verpufft. An seine Stelle sind offene Fragen, Herausforderungen und eine ungewisse Zukunft getreten. Die Wanderausstellung Kunst am Strom, die auf viele Treffen, Grenzüberschreitungen, Eröffnungsevents und den persönlichen Austausch setzte, war in der Pandemie-Realität angekommen.

Unerwartete Blickwinkel

Von nun an kamen sich ProjektleiterInnen, KuratorInnen und KünstlerInnen wie ein Navigationsgerät vor, das die Route ständig neu berechnen muss, und dennoch nie ans Ziel kommt. Von den ursprünglich geplanten drei Ausstellungen konnten 2020 zwar immerhin noch zwei (im Museum Ulm und auf der Schallaburg) veranstaltet werden, allerdings mit erheblichen Einschränkungen. In Ulm fand sie ohne den großangelegten Kontext des Internationalen Donaufests statt, und auf der Schallaburg musste sie wegen des erneuten Lockdowns Wochen früher schließen. Ursprünglich hätte die Schau 2021 an weiteren fünf Stationen Halt gemacht – möglich war lediglich eine Veranstaltung in Košice im Herbst 2021, unter Einhaltung strengster Hygiene- und Sicherheitsregeln. Mitte des Jahres 2021 war allen Beteiligten klar, dass das Projekt verlängert werden muss, was dann von den FördergeberInnen auch genehmigt wurde. Spätestens im Sommer hätten sich also alle zurücklehnen können, nach dem Motto »Wir sehen uns nach der Krise…« Doch bald stellte sich heraus, dass der Satz aus dem Katalog von allen Beteiligten ernst gemeint war: Wir müssen jetzt auf Innovation und Kreativität setzen. Im April 2021 fand ein Online-Symposium mit den KuratorInnen statt, um gemeinsam auf innovative, aber rasch und unkompliziert umsetzbare Austauschformen im virtuellen Raum zu setzen. Das Meeting funktionierte gleichzeitig als Ventil: KuratorInnen schilderten die Lage in ihren Städten und die teils dramatische Situation der jeweiligen Kunstszene. Im Mai folgte dann Studio Talks. Die KünstlerInnen wurden im Vorfeld gebeten, ihre Arbeit, ihre Ateliers, ihre Stadt und ihr Lebensumfeld in kurzen Video-Selbstportraits festzuhalten. Diese Videos wurden dann im Laufe der Veranstaltung gezeigt und von den teilnehmenden KünstlerInnen live kommentiert. Aus diesen Videos ist ein einzigartiges Panorama künstlerischen Schaffens im Donauraum entstanden.

Unzertrennliche Welten

Durch die gewonnene Zeit hat die Projektleitung einen Audio-Guide zur Ausstellung produzieren lassen. Auch die Facebook-Seite wurde zu einer wichtigen Präsentationsplattform weiterentwickelt. Die teilnehmenden KünstlerInnen stellten sich mit einem kurzen Werdegang sowie dem Link zu ihren Studio Talks-Videos vor. Ohne diese verstärkte Online-Kommunikation hätte das Projekt nie ein so breites Publikum erreicht. Die Studio Talks und Online-Kampagnen haben unsere physische Ausstellung nicht ersetzt. KünstlerInnen und Publikum freuen sich mehr denn je auf die Veranstaltungen vor Ort. Kunst am Strom ist durch die Pandemie vielschichtiger, informativer und spannender geworden. Eine Entscheidung zwischen »nur analog« oder »nur digital« kann es nicht mehr geben: Beide Welten sind endgültig unzertrennlich geworden und ergeben nur noch gemeinsam ein ganzes Bild.

Für das von Dr. Swantje Volkmann (DZM Ulm) und Dr. Márton Méhes geleitete Projekt Kunst am Strom wählten die KuratorInnen KünstlerInnen aus Ländern und Städten entlang der Donau aus, die zwei Generationen repräsentieren. Das Projekt wird vom Museum Ulm getragen und von mehreren Kooperationspartnern mitfinanziert.

Termine 2022:
27. April–11. Mai: Zagreb
11.–24. Juni: Timișoara
8.–21. August: Novi Sad
12. Oktober–2. November: Sofia

 

Dr. Márton Méhes (*1974) ist promovierter Germanist, ehem. Direktor des Collegium Hungaricum Wien und arbeitet heute als Lehrbeauftragter der Andrássy Universität Budapest sowie als internationaler Kulturmanager in Wien. Seine Schwerpunkte sind Kulturdiplomatie, europäische Kulturhauptstädte und Kooperationsprojekte im Donauraum.

Botschaftervortrag: „Zwischen Frieden und Krieg“ Rumänien und Österreich um 1900

Zwischen Frieden und Krieg“. Rumänien und Österreich um 1900.Szenen einer wohlwollenden Gleichgültigkeit.

Vortrag des Botschafters von Rumänien S.E. Botschafter Emil Hurezeanu am 13.01.2022

In Kooperation mit der Diplomatischen Akademie und der Botschaft Rumäniens in Wien.

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Begrüßung

Gesandte Dr. Susanne KEPPLER-SCHLESINGER Stellvertretende Direktorin der Diplomatischen Akademie Wien

Vizekanzler a.D. Dr. Erhard BUSEK Vorsitzender des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa

Mihai Răzvan UNGUREANU Ehemaliger Ministerpräsident von Rumänien Projektmitarbeiter am Institut für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM)

 

Moderation

Erhard BUSEK Vorsitzender des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa

Konflikt liegt in der Luft

»Die Abhängigkeit ist ein Problem,« sagt der Ornithologe Matthias SCHMIDT, und spricht sich für eine unabhängige und faktenbasierte ökologische Erhebung bei Windparkanlagen aus. Wird bald im Namen des heißbegehrten »grünen Stroms« der Artenschutz vernachlässigt, fragt ihn Daniela APAYDIN im IDM-Interview.

Ihre Trommeln sind nicht zu überhören. Der kühle Herbstwind lässt ihren lebhaften Rhythmus durch die Menge ziehen. Eine bunte, gutgelaunte Menschenmasse bewegt sich durch die Praterstraße, mit Musik, Megafonen und Transparenten. »Alle für das Klima«, steht darauf, aber auch »Make love, not CO2 «. Das Ziel der Menge ist das Wiener Stadtzentrum, vor ihrem eigentlichen Ziel, dem geforderten sozialen Wandel, liegen jedoch noch viele Hürden. Eltern mit Kleinkindern, SchülerInnen und Studierende, WissenschaftlerInnen, Tier – und UmweltschützerInnen, überzeugte VeganerInnen, Gewerkschaften, sogar kirchliche Einrichtungen marschieren beim Klimastreik 2021 Seite an Seite im Rhythmus der Trommeln. Ihre Dringlichkeit verbindet sie, doch in der Umsetzung und Radikalität ihrer Forderungen liegen Konflikte begraben. Jede Transformation produziert ihre Verlierer. Wie werden die Menschen links und rechts neben mir reagieren, wenn unter dem Zeichen des Ausbaus »grüner Energie« Menschen ihre Jobs verlieren, wenn Tiere zu Schaden kommen, das neue Wasserkraftwerk den Naturraum zerstört oder der Windpark die Zugvögel bedroht? Über das Spannungsfeld von Zielkonflikten habe ich kurz vor der Demo mit dem Ornithologen Matthias Schmidt gesprochen. Bei der NGO Birdlife Österreich setzt er sich besonders für den Schutz von Groß- und Greifvögeln ein. Von ihm erhalte ich später Bilder von Tieren, die von Rotorblättern getötet wurden.

Herr Schmidt, heute ist weltweiter Klimastreik-Tag. Gehen Sie auch zur Demo?

Meine Familie ist dort, ich selbst leider nicht. Birdlife ist auch offizieller Unterstützer des Klimastreiks. Ich finde gut, dass wir da ein Zeichen setzen. Die Lebensräume der Vögel sind durch den Klimawandel bedroht. Wir finden aber auch, dass es beim Klimaschutz Sensibilität braucht.

Wir sprechen von Zielkonflikten, wenn Maßnahmen zum Schutz des Klimas negative Auswirkungen auf die Artenvielfalt haben. Welche konkreten Bedrohungen birgt die Windenergie für Vögel?

Windkraftenergie kann nur ein Teil der Lösung sein. Sie darf nicht uneingeschränkt ausgebaut werden. Bei Windkraftanlagen (WKA) gibt es drei Problemfelder: Kollisionen durch die Rotoren, die Degradierung von Lebensraum sowie die Scheuchwirkung. Dabei gibt es regional viele Unterschiede und auch nicht jeder tote Vogel hat gravierende Auswirkungen auf die Artenvielfalt.

Welche Vogelarten sind in Österreich besonders von Windparks bedroht?

Für Kleinvögel im Flachland ist es weniger gravierend. Doch fast 20 Prozent der tot aufgefunden Kaiser- und Seeadler lassen sich auf WKA zurückführen. Man muss aber auch dazu sagen, dass WKA nicht die Hauptbedrohung für Vögel darstellen. Das Insektensterben, etwa durch Pestizide in der Landwirtschaft, der generelle Landverlust durch die Bodenversiegelung, die Folgen des Klimawandels… die Liste an Bedrohungen ist lang. Die am häufigsten von Menschen verursachten Todesarten bei Greifvögeln sind zum Beispiel immer noch Abschuss und Vergiftung.

Die Österreichische Bundesregierung plant bis 2030 die Windenergieproduktion von 6,3 auf 15,3 Prozent zu erhöhen. Prozentual ist eine größere Steigerung nur bei PhotovoltaikAnlagen geplant. Kann das aus Sicht eines Artenschützers überhaupt funktionieren?

Es wird sich zeigen, wie dieses Ziel zu erreichen ist. Wenn wir Ostösterreich betrachten, dann wird diese Region bereits intensiv für die Windenenergie genutzt. Dort wird nicht mehr viel möglich sein, ohne massive Auswirkungen auf den Artenschutz in Kauf zu nehmen. Die große Frage wird sein, wie es im Alpenraum weitergeht. Wir setzen uns für eine großräumige und faktenbasierte Planung ein. Leider haben wir oft erlebt, dass Betreiber unzureichende Erhebungen zum Artenschutz in Auftrag geben, die dann zu willkürlichen Ergebnissen führen. Das macht die Datenlage schwer nachvollziehbar und vergleichbar. Wir versuchen mit fachlich fundierten Leitfäden dazu beizutragen, dass sich Standards durchsetzen.

Die Energiewirtschaft fordert verkürzte Prüfungsverfahren zur Bewilligung von WKA. Außenstehenden erscheinen diese Verfahren tatsächlich sehr bürokratisch und langwierig. Können Sie sich eine Verkürzung vorstellen, bei der der Artenschutz nicht zu kurz kommt?

Eine seriöse Erhebung dauert meisten zwischen 1,5 und 2 Jahren. Die Natur lässt sich eben nicht an einem Tag erheben. Wenn ich zum Beispiel wissen will, ob in einem Gebiet der Kaiseradler brütet, kann ich die Erhebung nicht im Winter machen. Das wäre unseriös. Die Verzögerungen in Verfahren kommen aber meistens durch unzureichende oder fehlende Unterlagen in den Umweltverträglichkeitsprüfungen zustande, die dann zu Recht beeinsprucht werden. Eine Versachlichung in Form von seriösen Erhebungsstandards würde nicht nur eine bessere Bewertung zulassen, sondern aus meiner Sicht auch zu einer Beschleunigung der Verfahren führen. Grundsätzlich haben wir bei Genehmigungsverfahren Parteienstellung und erheben auch Einsprüche. Das machen wir aber nicht bei jedem Windpark, sondern nur, wenn es Konfliktpotential gibt oder wenn Methoden benutzt wurden, die keine belastbaren Aussagen zulassen.

Mir erscheint dieser Ablauf etwas fragwürdig: Firmen beauftragen vor dem Bau ihres Windparks ein Gutachten bei Technischen Büros und bezahlen diese direkt dafür?

Die Abhängigkeit der Büros von den Betreibern sehe ich als ein wesentliches Problem. Wir sollten hinterfragen, ob Firmen tatsächlich das Büro aussuchen und direkt beauftragen dürfen sollten. Kommt eine Studie zu negativen Ergebnissen, riskiert das Büro natürlich, dass es bei der nächsten Prüfung nicht mehr den Auftrag erhält. Die Behörde bzw. ein Sachverständiger muss das Gutachten dann zwar noch abnehmen und kontrollieren, eine detaillierte Prüfung ist da aber oft schwierig. Zurzeit gibt es aber keine klaren Vorgaben, wie die technischen Büros ihre Erhebung durchzuführen haben. Es hat sich gezeigt, dass viele – nicht zuletzt aus Kostengründen – mangelhafte Methoden verwenden. Wir brauchen daher Methodenstandards. Das würde auch die Verfahren vereinfachen und den Betreibern Planungssicherheit geben.

Als Laie verstehe ich angesichts dieser Mängel etwas besser, wie es zu Eskalationen rund um geplante Autobahnen und Nachdenkpausen bei Kraftwerksplänen kommen kann. Wie viele solcher Konflikte liegen in den kommenden Jahren wohl noch in der Luft? Und wie sieht es stromabwärts mit dem Windkraftausbau aus? Der Green Deal der Europäischen Kommission sollte doch auch die IngenieurInnen in Ungarn, Rumänien oder Bulgarien motivieren, oder nicht? Matthias Schmidt sieht in der Windkraft jedenfalls ein »lukratives Business«, das auch Betreiber aus Westeuropa und Österreich nach (Süd-) Osteuropa lockt. »Aktuell ist die Windkraftnutzung aber vor allem in Ostösterreich und Westungarn ein Thema. Auch im bulgarischen Osten, an der Schwarzmeerküste gibt es Windkraftanlagen, ebenso wie Konflikte zwischen dem Vogelschutz und WKA-Betreibern«, so Schmidt, der sich selbst aber eher mit Österreich beschäftigt. Ich konfrontiere ihn noch mit einem Argument, das man im Kontext von Windpark-Debatten oft hört – sicherlich keine Lieblingsfrage für Vogelfans:

Herr Schmidt, was antworten Sie jemanden, der nicht versteht, dass ein Windpark wegen eines toten Vogels nicht gebaut werden darf, und damit der Energiebedarf durch Atomoder Kohlekraftwerke ausgeglichen werden muss? Ist das im Interesse des Klimaschutzes?

Das darf nicht unser Zugang bei dieser Frage sein. Wir brauchen ein Umdenken. Artenschutz ist zwar aufwändig, aber auch sehr wertvoll für uns. Vielfältigkeit ist ein Wert, der aus vielen Individuen besteht. Je mehr Individuen verschwinden, desto fragiler werden unsere Ökosysteme, desto näher kommen wir dem Kollaps. In der Summe liegt der Unterschied. Klimaschutz kann und darf nicht uneingeschränkt auf Kosten von Arten umgesetzt werden.

Nun will aber auch keiner einen Windpark direkt neben der Vorstadtsiedlung. Was also tun?

Das ist immer eine Abwägungssache. Die Planung der Windkraft unterliegt natürlich Zwängen – Abstände zu Siedlungen, Infrastruktur, Windverfügbarkeit etc. Oft überschneiden sich die daraus resultierenden Planungsgebiete mit wertvollen Naturräumen. Der Artenschutz droht hier immer öfters buchstäblich unter die Räder zu kommen. Umso wichtiger ist überregionale Zonierung. Es bringt nichts, wenn jede Gemeinde für sich versucht einen Windpark zu bauen, sondern die Politik ist gefragt, Zonen zu definieren und durchzusetzen, die den Zielen des Artenschutzes und des Energiesektors gerecht werden. In einigen Bundesländern – etwa in Niederösterreich – gibt es diese bereits. Bei deren Erstellung waren wir auch fachlich eingebunden. Dadurch werden zwar nicht alle Konflikte gelöst, aber eine faktenbasierte Zonierung reduziert allemal das Konfliktpotential. Eine weitere Möglichkeit ist auch das sogenannte »Repowering«, also die Effizienzsteigerung von bestehenden Windparks. So kann man vermeiden, dass neue Flächen verloren gehen. Unser Ziel ist es nicht, dagegen zu sein, sondern Konflikte zu minimieren.

Matthias Schmidt wirkt optimistisch. Der Ornithologe sieht sich nicht als Aktivist, sondern als »Bindeglied zwischen Forschung und Naturschutz.« Der 41-Jährige ist überzeugt, dass Fakten und methodische Standards dabei helfen, Zielkonflikte zu lösen. Schmidt hat Biologie in Wien studiert und ist eher zufällig im Urlaub auf die Faszination für Vögel gestoßen. »Ich bin spät, aber dafür schnell in die Vogelwelt gekippt«, erzählt der Wahl-Niederösterreicher. Hierzulande hätten Fans wie er »noch immer einen Exotenstatus«. Dabei ist die Vogelwelt spannend und spektakulär zugleich. Das zeigt sich etwa am Phänomen des Vogelzugs. Dank Telemetrie können aktuell Rohrweihen auf ihren Flugwegen von Österreich nach Westafrika mitverfolgt werden (Infobox). Die Leistungen von Zugvögeln begeistern Schmidt bis heute: »36 Stunden nonstop über’s Mittelmeer. Das ist faszinierend!«

Während ich mich kurz darauf von dem Protestzug durch die Straßen treiben lasse, fallen mir die Plakate einer bekannten Tierschutzorganisation ins Auge. »Tierschutz = Klimaschutz« ist darauf zu lesen. Für Menschen wie Matthias Schmidt ist der Zielkonflikt Klimaschutz vs. Naturschutz auf sachlicher Ebene lösbar. Wie viel Zeit wird uns für diese Aushandlungsprozesse bleiben, frage ich mich. Beides darf nicht gegeneinander ausgespielt werden, das ist klar. Mit dem gleichen Ziel vor Augen und einem geteilten Verständnis für die Wichtigkeit von Biodiversität und dem Schutz von Ökosystemen wird es hoffentlich funktionieren. Der Druck von der Straße kann dabei nicht schaden, das meint auch der Ornithologe. Jeder trommelt eben anders, aber alle trommeln für’s Klima.

 

Matthias Schmidt wurde in Deutschland geboren und wuchs in Salzburg auf. Nach seinem Studium der Biologie in Wien ist er seit 2006 im Vogelschutz aktiv. Seit 2010 ist Schmidt als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei BirdLife Österreich tätig.

 

Todesursache: Mensch

Die Donau-Auen zählen zu den wichtigsten Brutgebieten der Seeadler, Kaiseradler und Rotmilane. Illegale Vergiftungen und Abschüsse gehören zu den häufigsten Todesursachen von Greifvögeln. Auch Windparks bergen Risikos. Der Ornithologe RAINER RAAB zeigt Lösungsansätze auf.

Die Rückkehr des Seeadlers nach Mitteleuropa und nach Österreich, wo er auch die Donau als Brutgebiet nutzt, ist eine Erfolgsgeschichte des Artenschutzes. Doch gerade durch illegale Handlungen des Menschen ist der Bestand immer wieder regional gefährdet. Die Vergiftung bzw. das Auslegen von Giftködern zählt zu den Haupttodesursachen von Greifvögeln in Europa. So sterben beispielsweise beim Rotmilan nach neuesten Daten des LIFE EUROKITE Projektes europaweit mehr als 25 Prozent der Individuen durch illegale Verfolgung (Stand: 30.09.2021; bei Auswertung von mehr als 500 besenderten Rotmilanen, die bereits verstorben sind). Betrachtet man nur jene Rotmilane, die erfolgreich das Nest verlassen haben, betrifft die Wildtierkriminalität in manchen Regionen sogar deutlich mehr als die Hälfte der besenderten Vögel.

Weitreichende Schäden durch Köder

Wegen der schwerwiegenden Auswirkungen auf die Populationen, gilt die Vergiftung laut BirdLife International als eines der größten Probleme von Greifvögeln. Man unterscheidet zwischen direkter Vergiftung (Giftköder), indirekter Vergiftung und sekundärer Vergiftung. Der vorbereitete Köder wird an einer Stelle ausgelegt, die für die Zielarten und häufig für andere Nichtzielarten zugänglich ist. Das Auslegen von Giftködern ist daher eine großflächige, nicht selektive und zerstörerische Kontrollmethode, die ebenso einen enormen Einfluss auf Nichtzielarten hat. Es kann sogar ein Risiko für die menschliche Gesundheit darstellen. Illegales Vergiften kann legale alltägliche Substanzen umfassen, die jedoch auf illegale Weise verwendet werden, sowie illegale Substanzen (z.B. Carbofuran oder Aldicarb). Die häufigsten Substanzen, die in Giftködern verwendet werden, sind Insektizide und in geringerem Maße Rodentizide, üblicherweise solche, die von Anwendern als hochgiftig bezeichnet werden. In Ungarn wurde Carbofuran laut MME (BirdLife Ungarn) in 85 Prozent der 476 Vögel nachgewiesen, die zwischen 2000 und 2015 durch Köder vergiftet wurden, um Raubtiere illegal zu bekämpfen. Viele der von BirdLife International entwickelten und von der EU finanzierten Artenaktionspläne (etwa 50 Vogelarten) erkennen Vergiftungen als Bedrohung an und empfehlen in den meisten Plänen für Greifvögel (z.B. Rotmilan, Kaiseradler und Geier) gezielte Maßnahmen dagegen.

Im Einklang mit Windparks

Da der Klimawandel die Lebensbedingungen für die Arten verändert, ist ein effizienter Klimaschutz Voraussetzung für eine langfristige Erhaltung gefährdeter Arten. Das Technische Büro Raab unterstützt daher den Ausbau erneuerbarer Energie im Einklang mit der Erhaltung wertvoller Lebensräume und Arten. Um diese Ziele zu erreichen, bauen wir auf eine Zusammenarbeit zwischen Landwirtschaft, Jagd und Naturschutz sowie Energieversorgern auf. Die mittlerweile millionenfach vorliegenden Telemetriedaten von besenderten Vögeln sollten bei künftigen Windparkund Photovoltaikprojekten bei der Standortwahl unbedingt mitberücksichtigt werden. Durch die Verwendung bereits vorliegender Telemetriedaten und die Modellierung der Lebensräume der relevanten Arten aus diesen Daten, kann eine Verkürzung der Genehmigungsverfahren und Umweltverträglichkeitsprüfungen (UVP) für den Ausbau erneuerbarer Energie gelingen. Dadurch kann die Artenvielfalt entlang der Donau und der Ausbau von Windkraft sowie Photovoltaik im Umfeld der Aulandschaften miteinander im Einklang stehen.

Im Einsatz für die Rotmilane

Im Dezember 2019 wurde das Projekt »Cross-border protection of the Red Kite in Europe by reducing human-caused mortality« gestartet. Es handelt sich dabei um ein Projekt des LIFE-Programms, eines Investitionsprogramms der Europäischen Union für Klima-, Natur- und Umweltschutz. Genau wie die Donau durch zahlreiche Länder Europas fließt, steht auch im Projekt LIFE EUROKITE die internationale und grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Vordergrund. Die Kernidee des Projekts, das seit Februar 2020 durch unser Büro umgesetzt wird, besteht darin, mithilfe von Telemetriedaten die Lebensraumnutzung der Zielarten (Rotmilan, Kaiseradler, Seeadler & Schwarzmilan) zu ermitteln. Dies ermöglicht eine Quantifizierung der Hauptgründe für die Sterblichkeit von Greifvogelarten in der EU. Ziel ist es, die wichtigsten vom Menschen verursachten Todesursachen zu vermeiden. Dazu gehören Schutzmaßnahmen gegen illegale Verfolgung (insbesondere durch Vergiftung), Kollisionen mit Straßen- und Schienenverkehr, Windparks und Stromleitungen sowie gegen Stromschlag an Mittelspannungsleitungen.

Schutz durch Tracking

Von der Mitteleuropäischen Gesellschaft zur Erhaltung der Greifvögel (MEGEG) wurden bzw. werden bis 2024 zusammen mit derzeit 18 Partnern, 14 Kofinanzierern und mehr als 20 Kooperationspartnern in ganz Europa mehr als 2.000 Rotmilane und zahlreiche andere Greifvögel (Seeadler, Kaiseradler & Schwarzmilan) in ca. 40 Projektgebieten in 12 Ländern mit GPS-Trackern ausgestattet, wodurch ihre Aktivitäten dauerhaft nachvollzogen werden können. Im Todesfall wird der Vogel von Teammitgliedern der lokalen bzw. regionalen Partner gesucht und die Todesursache wird nach Befolgung eines Mortalitätsprotokolls und wenn möglich, durch eine pathologische Untersuchung ermittelt. Während der Projektlaufzeit werden verstorbene, besenderte Rotmilane in bis zu 26 Ländern protokolliert. Auf diese Weise erhält man ein genaues Verständnis über die verschiedenen Todesursachen bei Rotmilanen und anderen Greifvögeln in ihrem jeweiligen Verbreitungsgebiet. Ein großer Vorteil dieser Methode besteht darin, dass die GPS-Verfolgung von Vögeln und die Post-Mortem-Analyse »in Echtzeit« funktionieren und sofortiges Handeln ermöglichen. Innerhalb des LIFE EUROKITE Projektes kann damit eine repräsentative Stichprobe aller Todesursachen in einem großen geografischen Gebiet unabhängig und digital transparent ermittelt werden. Das Ergebnis ist eine bessere Übersicht von gehäuften Todesfällen, wodurch innerhalb des Projektes LIFE EUROKITE Schutzmaßnahmen zielgerichtet umgesetzt werden.

 

Mag. Dr. Rainer Raab studierte Zoologie und Ökologie an der Universität Wien. Seit 1991 zahlreiche libellen- und vogelkundliche Arbeiten für diverse Auftraggeber – seit Februar 2001 als Technisches Büro für Biologie. Seit 2005 Umsetzung von mehreren grenzüberschreitenden LIFE-Projekten.

Ein grüner Streifen Leben

Bewegung liegt in der Natur von Lebewesen. Mit der Errichtung von Grenzen, Straßen und Städten schränkt der Mensch allerdings die Bewegungsfreiheit von Tieren massiv ein. Der Biologe Christoph LITSCHAUER erklärt anhand des Eisvogels, wie die grenzüberschreitende Vernetzung von Naturräumen funktionieren kann.

Der Alpen-Karpaten-Korridor ist ein Landschaftsstreifen zwischen den östlichen Ausläufern der Alpen und dem westlichen Teil der Karpaten. Er stellt eine wichtige Verbindung dieser beiden Biotop-Hotspots für viele wildlebende Tier- und Pflanzenarten dar. Die Beckenlandschaft zwischen den Ballungszentren Wien und Bratislava ist stark vom Menschen geprägt und wird intensiv genutzt. Große Landwirtschafts-, Siedlungs- und Gewerbeflächen sowie Verkehrsinfrastruktur zerschneiden die Landschaft und schränken die Bewegungsmöglichkeiten von Flora und Fauna erheblich ein. Dies führt dazu, dass den Arten das Wandern dem einen in den anderen Großlebensraum kaum mehr möglich ist. Mit dem Verlust von naturnahen Lebensräumen geht auch die Vernetzung der beiden Gebirgsregionen verloren. Darüber hinaus können auch wichtige Leistungen des Ökosystems für den Menschen nicht mehr erbracht werden. Die Fragmentierung der Landschaft führt für viele Tier- und Pflanzenarten zu einem Flaschenhals-Effekt. Zusätzlich ändern sich durch die Folgen des Klimawandels ihre Lebensbedingungen. Höhere Temperaturen, Änderungen in der Menge und Verteilung der Niederschläge, Verschiebungen der Blüh- und Aktivitätszeiten oder Extremwetterereignisse zwingen viele dazu, erst recht zu wandern, um passende Lebensräume zu finden. Damit sind gerade auch im Hinblick auf den Klimawandel die Schaffung und Erhaltung von ökologischen Korridoren zur Erhaltung der Biodiversität enorm wichtig.

Nicht passierbar!

Schon in der Frühzeit waren Flusstäler für die Menschen bevorzugte Siedlungsräume. Sie bieten die besten Voraussetzungen für eine dauerhafte Ansiedlung. Neben den reichhaltigen Au-Lebensräumen mit Fischen und Wild gibt es hier auch fruchtbare, für den Ackerbau geeignete Böden. Einhergehend mit der Industrialisierung wurden Flüsse vermehrt als Handelsrouten, zur Produktion und zur Energieerzeugung genutzt. Hochwässer führten, vor allem durch die steigende engere räumliche Bindung der Menschen an die Flüsse, zu teils beträchtlichen Verwüstungen. Daher entwickelte sich spätestens im 19. Jahrhundert, also in Zeiten starker Bevölkerungszunahme, der Flussbau mit starken Regulierungen. Die natürliche Dynamik der Flüsse wurde massiv eingeschränkt. Seit einigen Jahrzehnten treten immer stärker die Kehrseiten der fast überall erfolgten harten Regulierungen der Fließgewässer in den Vordergrund. Fließgewässer-Ökosysteme sind ausgesprochen artenreich. Obwohl Flüsse und Seen nur 2,3 Prozent der Landfläche der Erde bedecken und nur 0,01 Prozent des Wassers umfassen (der überwiegende Teil des Wassers auf der Erde befindet sich in den Ozeanen), beherbergen sie über 10 Prozent der bisher beschriebenen Arten, davon 30 Prozent aller Wirbeltiere. Fluss-Ökosysteme leisten uns viele Dienste: Die Versorgung mit Trinkwasser, Hochwasser- und Erosionsschutz, Nährstoffrückhalt und Schadstofffilter sowie Habitate für Pflanzen und Tiere und Erholungsraum für den Menschen. Sie zählen aber auch zu den am meisten bedrohten Lebensräumen der Erde. So nahm dem Living Planet Report 2020 zufolge der Süßwasserökosystem-Index zwischen 1970 und 2018 um 84 Prozent ab (WWF 2020). Dieser Index zeigt die durchschnittliche prozentuale Veränderung der Bestandsgröße aller erfassten Populationen von Wirbeltieren seit 1970. Die Hauptursachen für die Gefährdung liegen in der Verschmutzung von Gewässern, dem Einschleppen invasiver Arten sowie hydrologischen und morphologischen Veränderungen – also Veränderungen in der Interaktion des Gewässers mit umliegenden Lebensräumen und der Gestalt des Gewässerbettes. Die Situation der Gewässer in der Beckenlandschaft zwischen den Alpen und den Karpaten stellt sich sehr ähnlich dar wie sie weltweit im Living Planet Report aufgezeigt wird. Zahlreiche nicht passierbare Querelemente verhindern das Wandern der wassergebundenen Arten in Schwechat, Fischa und Rudava – den wichtigsten Zubringern zur Donau im Alpen-Karpaten-Korridor. Weite Strecken sind zudem hart verbaut, das heißt die Ufer der Flüsse sind mit Blockwürfen befestigt.

Vernetzung wiederherstellen

Im Zentrum des Projektes »Alpen Karpaten Fluss Korridor« steht die Vernetzung der beiden Gebirgszüge durch Fließgewässer und deren unmittelbarem Umland. Gewässer durchziehen die Landschaft wie ein blaues Netz und bilden daher oft die einzig verbliebenen vernetzenden Elemente zwischen bestehenden Schutzgebieten. Deshalb ist es vor allem aufgrund der zunehmenden Auswirkungen des Klimawandels wichtig, Flüsse und ihre begleitenden Auen zu erhalten und zu renaturieren. Als Herzstück des Projektes wurden 13 ökologische Pilot-Maßnahmen an fünf Flüssen in der Grenzregion Österreich – Slowakei (Schwechat, Fischa, Rudava, Mociarka und Malina) umgesetzt. Wichtig für die Umsetzung waren neben der direkten Beteiligung der Gemeinden und der Bevölkerung die grenzübergreifende Zusammenarbeit und die gemeinsame Entwicklung von Strategien mit dem Ziel, der Verinselung von Lebensräumen entgegenzuwirken und seltene Arten vor dem Aussterben zu schützen. Eine dieser seltenen Arten ist der Eisvogel; er wurde als »Projekt-Leitart« ausgewählt. Der Eisvogel nimmt aufgrund seiner hohen Lebensraumansprüche die Rolle einer sogenannten Indikatorart für naturnahe, dynamische Fließgewässer ein. Eine gute Nahrungsgrundlage (Fischreichtum), adäquate Habitatstrukturen (Ufergehölz als Ansitzwarten und Deckung), gute Jagdbedingungen (klares, langsam fließendes Gewässer) sowie nutzbare Brutwände (überhängende, vegetationsfreie und störungsfreie UferAbbruchkanten) sind entscheidende Faktoren für das Vorkommen und die Siedlungsdichte des Eisvogels. Die Ergebnisse einer von BirdLife im Zuge des Projektes durchgeführten Studie zeigen eindeutig, dass die höchste Dichte an Brutplätzen wenig überraschend an unregulierten Gewässerbereichen festgestellt wurde. Im abschließend erstellten Aktionsplan wurden MaßnahmenVorschläge für insgesamt 100 Standorte gelistet, um den Eisvogelbestand grenzüberschreitend zu stützen. Zwei dieser Maßnahmen wurden bereits gemeinsam mit SchülerInnen des Bundesrealgymnasiums Schwechat, der Gemeinde Schwechat sowie ExpertInnen des Nationalpark Donau-Auen und BirdLife umgesetzt. Auch bei zusätzlichen Maßnahmen für die Verbesserung der Habitate für weitere gefährdete Arten wie Würfelnatter, Nase und Co. haben die Gemeinden entlang der Flüsse des Alpen-Karpaten-Korridors engagiert mitgeholfen, Projektmaßnahmen erfolgreich umzusetzen und Naturschutz für die Bevölkerung erlebbar zu machen. Insgesamt wurden rund zwei Millionen Euro in die Umsetzung von FlussRevitalisierungen und Artenschutzmaßnahmen investiert. 85 Prozent davon wurde durch den European Regional Development Fund bereitgestellt, der Rest durch Ko-Finanzierung von Bund, Land NÖ und Schwechat Wasserverband.

Wie soll es weitergehen?

Die erfolgreiche Umsetzung des Projektes kann nur ein erster Schritt zur Verbesserung der ökologischen Konnektivität des Alpen-KarpatenKorridors sein. Um das ökologische Netzwerk der Schutzgebiete und Lebensräume für die kommenden Herausforderungen durch den Klimawandel zu stärken, sind weitere Investitionen in Grüne Infrastruktur, wie Revitalisierung von Flussgebieten, unerlässlich.

 

Mag. Christoph Litschauer studierte Biologie mit Schwerpunkt Ökologie an der Universität Wien. Nach seinem Abschluss begann er für den WWF Österreich im Bereich Gewässerschutz zu arbeiten. Von 2010 bis 2013 leitete er das transnationale Projekt »Save the Alpine Rivers!« für das Europäische Alpenprogramm des WWF. Ziel des Projekts war es, Schutzmaßnahmen für alpine Flüsse in Frankreich, Italien, Slowenien und Österreich voranzutreiben. Nach einem Sabbatical wechselte er in den Nationalpark Donau-Auen und ist dort als Projektmanager für den Alpen Karpaten Korridor zuständig.

Gefahrenzone Himmel: Vögel vor Stromschlägen bewahren

Jährlich werden tausende Vögel durch Stromschläge oder Kollisionen mit oberirdischen Stromleitungen getötet oder verletzt. Mit länderübergreifender Anstrengung soll der Himmel über der Donau für Vögel sicherer werden. Wie das geht, zeigen Marek GÁLIS und Eva HORKOVÁ in ihrem Gastbeitrag für Info Europa.

Die Donau, der so genannte »europäische Amazonas«, ist einer der wichtigsten Zugkorridore, Zwischenstopps, Schlaf- und Überwinterungsplätze für hunderte Vogelarten in Europa. Mit ihren Uferzonen und Flusslebensräumen bildet die Donau ein ökologisches Netz, das oft auch als Rückgrat für biologische Korridore fungiert. Jedes Jahr folgen Millionen Vögel auf ihrer Odyssee von und zu weit entfernten Zuggebieten dem Strom. Allein die Untere Donau und das Donaudelta beherbergen rund 360 Vogelarten, etwa den seltenen Krauskopfpelikan sowie 90 Prozent der Weltpopulation der Rothalsgans. Viele dieser Arten haben in den letzten Jahrzehnten einen dramatischen Rückgang erlebt. Durch Stromschläge und Kollisionen sterben in diesem Gebiet jedes Jahr 20 Prozent der sich fortpflanzenden Populationen von Kaiseradler, Sakerfalken und Krauskopfpelikanen. Zahlreiche Projekte des EU-geförderten LIFE-Programms widmeten sich bisher der Wiederherstellung von Wasserlebensräumen. Diese Maßnahmen haben zur Folge, dass der Vogelzug in diese geschützten Rückzugsgebiete zunimmt. Daher ist der Schutz gefährdeter Arten vor Kollisionen und Stromschlägen enorm wichtig, insbesondere um damit andere Bedrohungen, etwa durch die Folgen des Klimawandels, zu kompensieren.

Leitungen und Masten als Gefahrenquellen

Projektpartner aus sieben von zehn Donauländern, darunter Österreich, Slowakei, Ungarn, Kroatien, Serbien, Bulgarien und Rumänien, sind Teil des LIFE Danube Free Sky-Projekts, das sich darauf konzentriert, die Gefahren durch Stromleitungen zu lindern. Vögel sind vor allem in der Nähe von Gewässern und deren Umgebung in erheblichem Maße von Stromschlägen oder Kollisionen mit Stromleitungen bedroht. Das fand ein vorhergehendes LIFE-Projekt, das in der Slowakei zwischen 2014 und 2019 durchgeführt wurde, heraus. Infolgedessen konzentriert sich das aktuelle Projekt auf 23 sogenannte Besondere Schutzgebiete (BSG) sowie auf neun signifikante Gebiete für Vögel, Important Bird Areas (IBA). Der Aktionsradius ist enorm: Denn entlang der gewählten 2000 Kilometer befinden sich acht verschiedene Arten oberirdischer Stromleitungen, die allesamt eine potenzielle Gefahr für Vögel darstellen. Ein wesentliches Ziel besteht darin, direkte und indirekte Vogelsterblichkeit durch Stromschläge und Kollisionen mit den Stromleitungen innerhalb des Projektgebiets zu verhindern bzw. zu verringern. Damit trägt das Projekt dazu bei, die Biodiversitätsstrategie der EU umzusetzen, und dem Verlust der biologischen Vielfalt und der Ökosystemleistungen entlang der Donau entgegenzuwirken. Indem sichere Zugrouten und Lebensräume geschaffen werden, können sich die Populationen von 12 Zielarten* erholen und anwachsen.

Betroffene Arten

Zu einer der häufigsten Gefahren zählen Zusammenstöße mit Hochspannungsleitungen. Viele Vögel können die Leitungen nicht rechtzeitig erkennen. Das geschieht vor allem in offenen Gebieten, in denen Stromleitungen wichtige Futter-, Nahrungs- und Nistplätze kreuzen. Vogelverluste aufgrund von Kollisionen mit oberirdischen Stromleitungen können an Verteilungs- oder Übertragungsnetzen auftreten. Am stärksten gefährdet sind große, schwere Vogelarten mit geringer Manövrierfähigkeit, das heißt solche mit hoher Flügelbelastung und geringer Streckung, wie beispielsweise Trappen, Pelikane, Wasservögel, Kraniche, Störche und Schneehühner. Das Risiko von Zusammenstößen ist nachts, in der Dämmerung und bei schlechten Sichtverhältnissen generell  höher. Zusammenstöße mit hoher Geschwindigkeit haben oft tödliche Folgen für die Vögel. Neben Kollisionen gehören auch Stromschläge zu den größten Gefahren. Sie treten meist dann auf, wenn Vögel auf dem Strommast landen und gleichzeitig mit einem Draht in Berührung kommen oder wenn sie die beiden Leiter gleichzeitig berühren. Das höchste Risiko besteht bei Mittelspannungsleitungen, die für viele Vögel in offenen ländlichen Gebieten ohne Baumbewuchs sehr attraktive Sitzstangen darstellen. Die höchste Sterblichkeitsrate durch Stromschläge verzeichnen mittelgroße und große Vögel, insbesondere Adler, Falken, Geier, Milane, Falken, Eulen, Störche und Rabenvögel. Bei ihnen ist die Wahrscheinlichkeit höher, mit ungeschützten Elementen der Mastkonstruktion in Kontakt zu kommen.

Wie geholfen wird

Um so effektiv wie möglich zu helfen und die Ressourcen so effizient wie möglich einzusetzen, müssen die Maßnahmen im Rahmen des genannten LIFE-Projekts an jenen Orten ergriffen werden, die die größten Risiken für Vögel bergen. Dazu muss durch koordinierte Feldforschung der Grad der Gefährdung von Vögeln ermittelt und bewertet werden. Insgesamt werden im Rahmen des Monitorings mehr als 1150 Kilometer Stromleitungen und über 10.000 potenziell gefährliche Strommasten untersucht. Feld-AssistentInnen sammeln in den beteiligten Ländern die entsprechenden Daten. Danach kommen die am Projekt beteiligten Energieversorgungsunternehmen ins Spiel: Sie werden gemeinsam auf 245 Kilometer vorrangiger Leitungen Warnvorrichtungen installieren, um Kollisionen zu verhindern. Darüber hinaus werden mindestens 3250 Masten isoliert, um Stromschläge zu vermeiden. In Österreich isolieren die Projektpartner in Zusammenarbeit mit der ÖBB-Infrastruktur AG hunderte der gefährlichsten Bahnstrommasten in der Nähe der Donau. In Rumänien, Serbien und der Slowakei werden Jungtiere (Sakerfalken, Kaiseradler und Krauskopfpelikane) mit Sendern ausgestattet, um gefährliche Masten in ihrem Heimatgebiet und ihren bevorzugten Lebensräumen zu identifizieren. In der Slowakei werden zehn Hektar Land von Ackerland wieder zurück in Weiden verwandelt. So wird der Naturwert des Gebietes erhöht, wovon verschiedenste Vogelarten profitieren. Zudem unterstützt das Projektteam die Brutmöglichkeiten für Sakerfalken, Blauracken und Rotfußfalken, indem es in Bulgarien, Rumänien, Serbien und in der Slowakei insgesamt 370 Nistkästen anbringt.

Transnationale Zusammenarbeit unerlässlich

Um die Vögel auf ihren Zugrouten zu schützen, müssen die Stromleitungen auf den gefährlichsten Abschnitten entschärft werden, und zwar über Ländergrenzen hinweg. Im Zuge des Projekts DANUBEparksCONNECTED wurde daher eine Plattform für die transnationale Zusammenarbeit geschaffen. Sie bildet die Grundlage für die LIFE Danube Free Sky-Projektpartnerschaft, an der acht Energieunternehmen, drei Nationalparks, drei Vogelschutzorganisationen und ein Eisenbahnunternehmen beteiligt sind. Obwohl das Projekt während der Pandemie begann, funktioniert die Zusammenarbeit aller beteiligten Projektpartner sehr gut. Die meisten der Koordinierungstreffen finden immer noch online statt, doch die Hoffnung ist groß, dass persönliche Treffen bald möglich sein werden.

Projektwebseite: danubefreesky.eu
Facebook/Instagram: danubefreesky

Natura 2000 ist ein Netz von zentralen Fortpflanzungs- und Ruhestätten für seltene und bedrohte Arten und einige seltene natürliche Lebensraumtypen, die geschützt sind. Es erstreckt sich über alle 27 EU-Länder, sowohl an Land als auch im Meer. Ziel des Netzes ist es, das langfristige Überleben der wertvollsten und am stärksten bedrohten Arten und Lebensräume Europas zu sichern, die sowohl in der Vogelschutzrichtlinie als auch in der Habitatrichtlinie aufgeführt sind. 23 besondere Schutzgebiete, die an dem Projekt beteiligt sind, sind Teil des Natura-2000-Netzes.

 

Dr. Marek Gális ist Wissenschaftlicher Koordinator der Projekte LIFE Danube Free Sky und LIFE Energy. Er studierte Ökologie und Umweltstudien an der naturwissenschaftlichen Fakultät der Philosoph KonstantinUniversität in Nitra, Slowakei. Nach seiner Promotion im Jahr 2014 begann er bei der Nichtregierungsorganisation Raptor Protection of Slovakia. Er hat mehrere Artikel zum Thema Vögel vs. Stromleitungen veröffentlicht und ist aktiv am Prozess der Risikobewertung von Stromleitungen hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf Vögel in der Slowakei beteiligt.

Mag. Eva Horková ist Kommunikationsmanagerin des LIFE Danube Free Sky Projekts. Sie studierte Politikwissenschaft und internationale und diplomatische Studien an der Comenius Universität Bratislava und an der Hochschule für internationale und öffentliche Beziehungen Prag, Institut Bratislava. Mehrere Jahre lang war sie hauptsächlich in den Bereichen Projektkoordination, Management und Marketing in der Privatwirtschaft tätig. Mit dem Wunsch nach einem beruflichen Wechsel in den dritten Sektor trat sie ab November 2020 dem LIFE Danube Free Sky Team bei.

Die Verfassung bewusst stärken

Die Bundesverfassung ist die rechtliche Grundordnung der Republik Österreich. Eine Verfassung regelt die grundsätzlichen Fragen des Zusammenlebens der Menschen im Staatsverband. Zu diesen typisch verfassungsrechtlichen Fragen gehören insbesondere der Aufbau, die Organisation und die Ziele des Staates, die Grundsätze für die Ausübung der Staatsfunktionen, das Verhältnis von Staat und Gesellschaft sowie die Stellung des Einzelnen gegenüber dem Staat.

Österreich hat zwar bis heute keine geschlossene Verfassungsurkunde. Ihr Kernstück, das Bundes-Verfassungsgesetz, ist jedoch auch hundert Jahre nach seiner Beschlussfassung und neunzig Jahre nach einer großen Reform ungebrochen auf der Höhe der Zeit. Gerade die Ereignisse des Jahres 2019 haben gezeigt, dass die Regeln der Verfassung eine kluge Balance der Staatsgewalten garantieren. Die Grundprinzipien der Verfassung, Demokratie und Rechtsstaat, Bundesstaat und Republik, sind ohne Schnörkel niedergelegt. Die Staatsfunktionen Gesetzgebung, Verwaltung, Gerichtsbarkeit sind in ihren Grundzügen geregelt, voneinander getrennt und in ihren Aufgaben bestimmt. Als »Schlussstein« des Verfassungsgebäudes sind am Ende die Kontrolleinrichtungen verankert, vom Verfassungsgerichtshof bis zur Verwaltungsgerichtsbarkeit, vom Rechnungshof bis zur Volksanwaltschaft.

Die Grundrechte sind in Österreich nicht im Korsett eines einzigen Verfassungsgesetzes gewachsen. Das mag als Schwäche gesehen werden, 100 Jahre Bundesverfassung machen aber deutlich, dass darin im Gegenteil eine Stärke liegt. Liberale Grundrechte des 19. Jahrhunderts stehen neben universell inspirierten europäischen Menschenrechten der Nachkriegszeit, genuin österreichische Schöpfungen wie der Datenschutz oder das Recht auf Zivildienst neben Grundrechten des 21. Jahrhunderts in der Charta der Europäischen Union. Diese Vielfalt wird in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zu einem hohen Grundrechtsniveau verdichtet und verschmolzen.

Die Grundrechte sind auch jener Teil des Verfassungsrechts, der den größten Beitrag zum Verfassungsbewusstsein der Menschen leisten kann. Sie gewährleisten Freiheit vom Staat in den klassischen Rechten der Meinungs- und Religionsfreiheit, der Privatsphäre und des Vereinsund Versammlungswesens. Sie sichern über den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz in positiver Weise auch soziale Mindeststandards. Und sie gewähren Partizipation und politische Teilhabe im demokratischen Prozess, namentlich über das Wahlrecht, womit sich der Kreis zur Demokratie wieder schließt.

Das Jahr 2020 zeigt, wie rasch und wie intensiv Freiheitsrechte beschränkt werden können, wie schnell auch wirtschaftliche Existenzen einer großen Zahl von Menschen bedroht und vernichtet werden können. Und dass selbst die Durchführung von Wahlen über mehrere Monate verschoben sein konnte, mochte man sich weder 1920 noch 2019 vorzustellen: Artikel 26 Abs. 3 B-VG sieht die Verschiebung einer Nationalratswahl um einen Tag vor, wenn Umstände eintreten, die den Anfang der Wahlhandlung verhindern. Dass im Jahr 2020 in zwei Ländern wegen einer Pandemie Gemeinderatswahlen gleich um mehrere Monate verschoben werden müssen, lag außerhalb des Vorstellbaren.

Verfassungen und ihre Institutionen müssen auch für das zunächst Unvorstellbare gerüstet sein. Neben pflichtgemäßer Aufgabenerfüllung durch die Staatsorgane gehört zum Rüstzeug einer robusten Verfassung auch das Bewusstsein der Bevölkerung um den Wert der Verfassung, aber auch um ihre Verletzlichkeit in Krisen. Ist dieses Bewusstsein da, wird das Verletzliche geschützt und werden die Stärken in den Vordergrund gerückt. Dazu beizutragen, ist ein Auftrag für die Menschen, die im Staat Verantwortung tragen, aber auch für jene, die zur Bildung jüngerer und weniger junger Menschen beitragen können, und für jene, die in der Zivilgesellschaft maßgeblichen Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung haben, zuvörderst an die Menschen, die über die Massenmedien Verantwortung tragen und wirken.

 

Christoph Grabenwarter, Jg. 1966, ist Präsident des Verfassungsgerichtshofes und Universitätsprofessor für Öffentliches Recht. Sein beruflicher Weg führte ihn von der Universität Wien über die Universitäten in Linz, Bonn und Graz an die Wirtschaftsuniversität Wien. Grabenwarter ist u.a. Mitglied der VenedigKommission des Europarates.