Das Baltikum in Alarmbereitschaft
Die baltischen Länder stehen seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine im Fokus der Sicherheitsfragen der NATO. Auf welche Verteidigungsmaßnahmen Estland, Lettland und Litauen setzen und welche Rolle dabei den Bürger*innen zukommt, erklärt ALEKSANDRA KUCZYŃSKA-ZONIK.
Eine über 1.600 Kilometer lange Grenze trennt die baltischen Staaten von Russland, Belarus und der russischen Exklave Kaliningrad. Bei einem möglichen Konflikt zwischen Russland und der NATO könnten Estland, Lettland und Litauen daher an vorderster Front stehen. Die hybride Kriegsführung Russlands hat das Baltikum dagegen längst erreicht. Durch wirtschaftliche und energiepolitische Maßnahmen, illegale Migration sowie Cyberangriffe, Desinformation und Propaganda versucht Russland in den baltischen Staaten Einfluss zu nehmen und die nationale Sicherheit zu untergraben. Zwar haben Litauen, Lettland und Estland 2022 traditionelle russische Medien verboten, doch über die sozialen Medien verbreiten sich russische Narrative und Interessen weiterhin.
Seine Provokationen und Destabilisierungsversuche weitet Russland auch auf die Ostsee aus. Im Frühjahr 2024 alarmierte das Land die NATO mit dem mittlerweile wieder zurückgezogenen Vorhaben, die Grenzen in der Ostsee neu ziehen zu wollen. Zudem nutzt Russland die sogenannte „Schattenflotte“, Schiffe ohne russische Flagge, um sanktionierte Waren und insbesondere Öl zu schmuggeln.
Eine besondere Rolle spielt im Baltikum auch die russische Minderheit, die in Lettland und Estland etwa 30 % der Bevölkerung ausmacht. Viele Mitglieder dieser Gruppe fühlen sich kulturell nach wie vor stark mit Russland verbunden und leben oft in der Nähe der Grenze in überwiegend russischsprachigen Gemeinschaften. Integrationsprobleme führen nicht selten zu einem gewissen Misstrauen der baltischen Bevölkerung gegenüber der ethnisch russischen Minderheit, was zu gesellschaftlichen Spannungen beitragen kann.
Aktive Beteiligung der Bürger*innen
Aufgrund ihrer unmittelbaren Nähe zu Russland, der geringen Bevölkerungsgröße und ihres kleinen Militärs gelten die baltischen Staaten als schwer zu verteidigen. Laut Angaben der jeweiligen Verteidigungsministerien umfassen die litauischen Landstreitkräfte rund 11.500, die lettische Armee 7.300 und die estnische Armee 4.200 aktive bzw. Berufssoldat*innen. Hinzu kommen jeweils Reservist*innen, Wehrpflichtige und Freiwillige.
Angesichts der rein militärischen Übermacht Russlands setzt das Baltikum auf ein Modell der umfassenden Gesamtverteidigung, das in Finnland bereits gut entwickelt ist. Neben dem Ausbau militärischer Fähigkeiten umfasst dieses Modell auch nichtmilitärische Verteidigungsaktivitäten. Strategische Kommunikation, Kooperationen zwischen öffentlichem und privatem Sektor und die Dezentralisierung von Verantwortlichkeiten sollen das Funktionieren wichtiger Institutionen auch in Kriegszeiten gewährleisten. Bürgerbewusstsein, patriotische Werte und eine verantwortungsvolle Haltung der Gesellschaft gegenüber dem Staat sollen gefördert werden und so die Widerstandsfähigkeit und Bereitschaft der Bürger*innen zur Verteidigung von sich selbst, ihren Angehörigen und des Landes sicherstellen. All das gilt als Voraussetzung für die gesamtgesellschaftliche Bewältigung von Krisen- und Kriegssituationen.
So betonen die baltischen Länder die Notwendigkeit militärischer Berufsausbildungsprogramme für Jugendliche, um diese auf eine mögliche Karriere in den Streitkräften oder in anderen dem Militär nahen Bereichen vorzubereiten. In Lettland und Estland wurde Verteidigung als neues Schulfach in den Lehrplan aufgenommen, das Erlernen von Russisch als Zweitsprache wird in litauischen und lettischen Schulen dagegen immer seltener angeboten. Über 5.000 als „Elfen” bekannte Freiwillige in Litauen und die im ganzen Baltikum tätige NGO Debunk EU betreiben Faktenchecks und bekämpfen russische Propaganda durch das gezielte Aufdecken von Desinformation. Die Verwendung von Kriegssymbolen ist verboten und Veranstaltungen und Proteste in der Nähe von Denkmälern der Sowjetarmee wurden stark eingeschränkt.
NATO-Präsenz und europäische Kooperation
Trotz Einbindung der gesamten Bevölkerung in die nationalen Verteidigungsmaßnahmen, bleibt der wichtigste Garant für die Sicherheit im Baltikum die NATO-Mitgliedschaft und die Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten. Derzeit sind insgesamt rund 10.000 NATO-Soldat*innen in den baltischen Staaten stationiert, die meisten davon in Lettland. Seit Jahren erfüllt das Baltikum das auf dem NATO-Gipfel 2014 in Wales festgelegte Ziel, mindestens 2% des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben. Im Jahr 2024 beliefen sich die Verteidigungsausgaben in Litauen auf 2,7%, in Lettland auf 2,4% und in Estland sogar auf 3,2% des BIP.
Eine wichtige Rolle bei der Koordinierung der Zusammenarbeit der baltischen Staaten untereinander – auch zu den Themen Sicherheit und Verteidigung – spielen die in den Neunzigern gegründete Baltische Versammlung und der Baltische Ministerrat. Es bestehen auch bedeutende militärische Verbände wie der trinationale Marineverband Baltic Naval Squadron (BALTRON) und die Baltische Verteidigungsakademie (BALTDEFCOL) zur Ausbildung von Militärpersonal. Polen ist ein wichtiger Partner bei der Stärkung der regionalen Sicherheit und beteiligt sich aktiv an der NATO-Mission Baltic Air Policing, einer Überwachung des NATO-Luftraums.
Deutschland ist einer der engsten militärischen Verbündeten Litauens. Derzeit ist ein NATO-Bataillon unter deutscher Führung im Rahmen der NATO enhanced Forward Presence (eFP) im litauischen Rukla stationiert. Ein potenzieller Aggressor soll so abgeschreckt und das litauische Verteidigungspotenzial gestärkt werden. Über 1.000 der rund 1.600 Soldat*innen in Rukla sind Angehörige der deutschen Bundeswehr und bis 2028 soll die Einheit um 5.000 weitere Soldat*innen aufgestockt werden. Aus einer Umfrage des litauischen Meinungsforschungsinstituts „Spinter Research” aus dem Jahr 2023 geht hervor, dass 82% der litauischen Bevölkerung die Stationierung der deutschen Brigade befürworten. In den letzten Jahren erwarb die litauische Armee außerdem Ausrüstung, darunter Militärfahrzeuge und Panzerhaubitzen, im Wert von fast einer Milliarde Euro aus Deutschland. Im Jahr 2022 eröffneten die deutschen Rüstungsunternehmen Rheinmetall und KNDS Deutschland (vormals Krauss-Maffei Wegmann) ein Servicezentrum für militärische Ausrüstung im litauischen Jonava.
Unterstützung für die Ukraine
Im Jahr 2024 haben Estland, Lettland und Litauen die Initiative „Baltische Verteidigungslinie”, die auch Teil der NATO-Verteidigungspläne ist, ins Leben gerufen. Dabei soll die Grenze zu Russland, Belarus und Kaliningrad gegen eine mögliche Invasion geschützt und eine schnelle militärische Operation eines potenziellen Gegners blockiert oder zumindest verzögert werden. Lettland plant im Rahmen dieser Initiative das Grenzgebiet durch die Umwandlung von Entwässerungsgräben zu Panzergräben und den Bau neuer Panzergräben besser zu sichern. Darüber hinaus sollen speziell ausgewiesene Lager für Sprengstoff, Minen und technische Ausrüstung errichtet werden. Estland will mehr als 400 unterirdische Bunker bauen und der litauische Aktionsplan sieht unter anderem neue militärische Befestigungen sowie die Sicherung von Straßen und Brücken vor.
Gleichzeitig soll die Unterstützung für die Ukraine ausgebaut werden. In Lettland wurde in Zusammenarbeit mit dem Vereinigten Königreich im Februar 2024 die sogenannte „Drohnen-Koalition” gegründet. Das Projekt zielt darauf ab, mithilfe innovativer Technologien eine stabile Versorgung der Ukraine mit Drohnen und eine sichere Lieferkette für Bauteile zu gewährleisten sowie die Drohnenherstellung im Westen zu unterstützen. Estland erklärte, dass es der Ukraine zwischen 2024 und 2027 jährlich mindestens 0,25% des BIP für militärische Zwecke zur Verfügung stellen wird. Zusätzlich leisten Estland, Lettland und Litauen auch im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU finanzielle Unterstützung an die Länder der Östlichen Partnerschaft (Ukraine, Georgien und Moldau) und tragen so zu deren Integration in den euro-atlantischen Raum bei.
Seit Beginn der Vollinvasion Russlands in der Ukraine hat das Baltikum seine verteidigungspolitischen und militärischen Maßnahmen zur Vorbereitung auf Kriegssituationen intensiviert. Dabei lernen die baltischen Staaten auch aus den Erfahrungen der Ukraine im Krieg gegen Russland. Eine erfolgreiche nationale Verteidigungspolitik besteht nicht nur im Aufbau einer starken Armee. Maßnahmen wie der Bau von Schutzräumen, Frühwarnsysteme, die Sicherstellung der Stromversorgung, gute Erste-Hilfe-Kenntnisse in der Bevölkerung, Bildungsmaßnahmen und die Förderung gesellschaftlicher Resilienz gegenüber Desinformation sind ebenfalls essenziell. Denn am Ende ist der Erfolg, sich bei militärischen Angriffen zu schützen und das Land wirksam zu verteidigen, abhängig von sozialem Zusammenhalt, Widerstandsfähigkeit und der Verteidigungsbereitschaft und -fähigkeit der Bürger*innen und des Staates als Gemeinschaft zu handeln.
Aleksandra Kuczyńska-Zonik ist Leiterin der Abteilung für das Baltikum am “Institute of Central Europe” und Assistenzprofessorin an der Katholischen Universität Johannes Paul II. in Lublin (Polen). Sie ist Politikwissenschaftlerin und Archäologin. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte umfassen die Politik und Sicherheit in Mittel- und Osteuropa sowie im postsowjetischen Raum, die russische Diaspora und das sowjetische Erbe.