Die Zukunft, die bereits geschah

Um den Unsicherheiten der Zukunft entgegenzutreten, bieten konservative Kräfte Lösungskonzepte aus der Vergangenheit an. In seinem Kommentar erklärt OV CRISTIAN NOROCEL warum diese scheitern werden.

Die Gesellschaften Mitteleuropas, sowohl diesseits als auch jenseits des ehemaligen Eisernen Vorhangs, stehen derzeit einem Nebeneinander sozialer und demografischer, institutioneller und ökologischer Krisen gegenüber. Oft werden diese mit apokalyptischen Begriffen beschrieben. Auf die multiplen Krisen und Ungewissheiten reagieren viele Länder Mitteleuropas – wenig überraschend – mit Isolierung. Sie sehnen sich nach dem schützenden Kokon einer Zeit mit weniger scharfen und beängstigenden Konturen: einer Zeit, die ihnen mit Sicherheit keinen Schaden zufügen kann, aus dem einfachen Grund, dass sie bereits in der Vergangenheit liegt.   

So wird der Konservatismus lautstark als das offensichtliche und auch einzige Mittel dargestellt, um vor einer vermeintlichen Apokalypse verschont zu bleiben. Mit Konservatismus meine ich hier die Sehnsucht nach der Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Status quo mit allenfalls schrittweisen, sorgfältig überlegten Veränderungen. Konservatismus hüllt die Zukunft in ein nostalgisches Gewand, es ist eine Zukunft in der Vergangenheitsform, mit vorhersehbaren Modifikationen, leicht vergessenen Niederlagen und sicheren Siegen. Solche Appelle durchdringen und mobilisieren derzeit alle Ebenen mitteleuropäischer Gesellschaften. Politiker*innen aller Fraktionen erklären sich stolz zu vermeintlichen Retter*innen ihrer Nationen, kirchliche Amtsträger*innen nutzen den Moment, um ihre gesellschaftliche Relevanz zu beweisen, und Intellektuelle sowie Meinungsmacher*innen spekulieren angesichts gesellschaftlicher Veränderungen über Unsicherheiten, die ihren eigenen Zwecken nützen. 

Mutter, Vater, Kinder – die alte neue Vorzeigefamilie 

Ein genauer Blick auf eine der gegenwärtigen Krisen, nämlich die soziale und insbesondere demografische Herausforderung, verrät, wie diese Form der konservativen Nostalgie wirkt und die Sorgen der Bevölkerung zu lindern versucht. Die Aussicht auf einen dramatischen Bevölkerungsrückgang ist in den Ländern Mittel- und Osteuropas mit starken Ängsten verbunden. Die zunehmend alternde Gesellschaft sieht zu, wie der Nachwuchs in großen Zahlen ins Ausland abwandert. Es sind die Folgen untauglicher und gescheiterter Sozialpolitik. In Lettland ging die Bevölkerung seit 1990 um etwa 30% zurück und laut einer Eurostat-Prognose wird der Anteil der über 55-Jährigen an der Gesamtbevölkerung im Jahr 2050 bei 45% liegen.  

Als Allheilmittel dieser Entwicklungen auf Mikro- und Makroebene präsentiert konservative Nostalgie die Wiederherstellung der traditionellen Familie. Doch wie kann die geweihte heterosexuelle Verbindung zwischen Mann und Frau, geleitet vom Imperativ der Zeugung zahlreicher Nachkommen, dies bewerkstelligen? Auf individueller Ebene mildert die traditionelle Familie als Lösung das Gefühl der Unangemessenheit und des Verlustes von Privilegien mancher Männer. Gleichzeitig unterbindet sie aber auch die emanzipatorischen Forderungen von Frauen und Mitgliedern der LGBTQIA+ Community. Das nostalgische Versprechen erwartet von Frauen, in die häuslichen Grenzen des Familienheims zurückzukehren und dort das Gebären und Großziehen von Kindern als ihre natürliche Berufung anzunehmen. Der Trend nimmt verschiedene Formen an. In Rumänien beispielsweise wird in Vorbereitung auf die diesjährigen Wahlen (EU-, Präsidentschafts-, Parlaments- und Kommunalwahlen) gegen die gleichgeschlechtliche Ehe mobilisiert, obwohl das Referendum zur einschlägigen Verfassungsänderung 2018 scheiterte. In Bulgarien wird die Diskussion über die Binarität der Geschlechter seit 2018 programmatisch genutzt, um die Ratifizierung des Istanbuler Abkommens gegen Gewalt an Frauen zu verhindern. 

Auf der Makroebene wird die traditionelle Familie als Lösung für den drohenden demografischen Winter in der Region angeboten. Hier lautet das nostalgische Versprechen, die richtige Art von Kindern zu gebären, das heißt genetisch makellos und entschieden heterosexuell, um die nächste Generation der ethnischen Mehrheit in dem betreffenden Land zu sichern. In Ungarn kultiviert diese Haltung den Irredentismus und eine Sehnsucht nach der Zeit vor dem Vertrag von Trianon 1920, als die meisten Ungar*innen noch auf dem gleichen Staatsgebiet lebten, und nicht wie fortan auch in Rumänien, der Tschechoslowakei und dem Königreich Jugoslawien. Diese Haltungen nützen der politischen Agenda in Budapest und rechtfertigen deren Fremdenfeindlichkeit. Die Auswirkungen der ungarischen Familienpolitik sind unterschiedlich: In Ungarn selbst scheinen die Bemühungen der Regierung, kinderreiche Familien zu unterstützen, zu fruchten, denn der demografische Rückgang scheint sich etwas zu verlangsamen. Die Gemeinschaften ethnischer Ungar*innen in den Nachbarländern dagegen wurden ernsthaft geschwächt und sogar dezimiert, da Menschen im arbeitsfähigen Alter und insbesondere die Jugend nach Ungarn abwanderten. Nach der Reihe übernehmen verschiedene rechtsextreme Gruppierungen am gesamten Kontinent diese konservativen Ideale und proklamieren Frauen aus dem „Osten“ als perfekte Ehe- und Hausfrauen und unterwürfige Gefäße ihres erträumten reinen Nachwuchses.   

Bevölkerung im unaufhaltsamen Wandel 

Nichtsdestotrotz wird kein noch so nostalgisches, konservatives Verschleiern der Zukunft als gehübschte Vergangenheit Mitteleuropa vor der nüchternen Realität des demografischen Rückgangs und der Überalterung retten. Um es klar zu sagen, diese nostalgischen Appelle sind unaufrichtig. Sie vertuschen die grässliche Realität von Gewalt an Frauen, die Verweigerung reproduktiver Gerechtigkeit und auch die brutale Ablehnung queerer Existenzen in der Region, wie beispielsweise die Errichtung sogenannter „LGBT-freien Zonen in einigen Regionen Polens zeigte. Die hasserfüllten Beschlüsse verbesserten keineswegs das Leben der Pol*innen und sorgten darüber hinaus für internationale Ächtung. Schlussendlich wurden sie mehrheitlich wieder aufgehoben. 

Konservative Plädoyers übersehen zudem das komplizierte ethnische Mosaik der Region, das es auch schon in der Vergangenheit, in die sehnsüchtig zurückgeblickt wird, immer gab. Nehmen wir jüdische und Rom*nja-Gemeinden als Beispiel, deren Existenz somit sowohl in der Geschichte als auch in der Zukunft Mitteleuropas radiert wird. Sie vergessen auch die düstere Realität von in Armut lebenden Alleinerziehenden, oder Mehrgenerationenfamilien, in denen die Großeltern für die Erziehung der Kinder zuständig sind, die die Eltern in der Hoffnung auf bessere Arbeitsbedingungen im Ausland zurücklassen mussten. 

Angesichts all dieser Tendenzen müssen wir uns vielleicht eingestehen, dass die Zukunft tatsächlich apokalyptisch erscheint. Um diese Zukunft zum Besseren zu wenden und den Bedürfnissen aller gerecht zu werden, können wir uns nicht hinter engen und vergangenen Familienbildern verstecken. Ganz im Gegenteil – wir müssen uns mit den Ungewissheiten der Zukunft auseinanderzusetzen und Veränderungen, die der Gemeinschaft dienen, annehmen. 

 

Ov Cristian Norocel ist Dozent an der Universität Lund in Schweden. Er erforscht und vergleicht rechtsextreme Politik und Anti-Gender-Bewegungen in Nord- und Mitteleuropa, insbesondere in Schweden, Finnland, Ungarn und Rumänien.