Herkulesaufgabe für die Demokratie

Wird die repräsentative Demokratie als beste Regierungsform abgelöst? Über Machtkämpfe, Vertrauensverlust und den Trend zu lokalen Antworten auf globale Probleme schreibt DANIEL MARTÍNEK in seinem Kommentar.

Die repräsentativen Demokratien Europas befinden sich in der Krise. Das zeigt sich etwa in der schwindenden Bedeutung politischer Großparteien, in niedriger Wahlbeteiligung oder in einem allgemeinen Misstrauen gegenüber PolitikerInnen und Institutionen. Die überholte und teils autoritäre Politik einiger Regierungsparteien in den Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas trägt zu diesem Trend bei. Sie ist aber auch Grund, warum sich lokale Initiativen, Bewegungen und Bündnisse als Gegenmacht zu den nationalen Regierungen formieren.

Der Charakter dieses lokalen Aufbruchs unterscheidet sich je nach den Umständen, in denen er sich entwickelt und reicht weit über die Städte hinaus bis in abgelegene ländliche Gebiete. Die Spannbreite ist groß und umfasst neben BürgerInneninitiativen, ökologischen Gruppen oder Parteien, die aus Protestbewegungen hervorgehen, auch BürgermeisterInnen-Allianzen und kommunal verwaltete Plattformen. Sie alle entstehen, um die lokale Mitbestimmung zu stärken und bei jenen Fragen mitreden zu können, auf die die Regierung ihrer Meinung nach unzureichende oder gar keine Antworten liefert. Basisdemokratische Kräfte wie diese verleihen der uralten Idee der Demokratie von unten neuen Auftrieb.

Politisches Establishment herausfordern

Es existiert keine Übersicht aller bestehenden gemeinschaftsbasierten Initiativen in der Region Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Eine solche zu schaffen wäre auch schwierig, da sich diese Initiativen in Umfang, Inhalt, Grad der Partizipation und Bedeutung unterscheiden. Strukturell können wir zwischen zwei Formen von lokalen Veränderungskräften unterscheiden: eine institutionalisierte und eine informelle. In der ersten kommen Städte, Gemeinden und kommunale Einrichtungen zu Bündnissen zusammen oder schaffen transnationale Plattformen. Dazu zählen etwa Netzwerke wie Fearless Cities, URBACT, Eurotowns oder Pact of Free Cities, die sich über nationalstaatliche Grenzen hinaus austauschen und miteinander kooperieren.

Zur zweiten Form gehören von der Zivilgesellschaft initiierte, eher spontan und anlassbezogene Bottom-up-Projekte wie BürgerInneninitiativen, die den lokalen Status quo herausfordern und Veränderungen bewirken. Zumeist stehen sie dadurch im Widerspruch zum herrschenden politischen Establishment. Werden Mitglieder lokaler Initiativen in die Stadt- und Gemeinderäte gewählt, vertreten sie dort die Interessen der Protestierenden. So werden zivilgesellschaftliche Kräfte institutionalisiert oder durchdringen bestehende Strukturen, was auch zu Konflikten führen kann. PolitikerInnen, die ihre Anfänge in Bewegungen wie Miasto jest Nasze in Warschau, Zagreb je NAŠ! in der kroatischen Hauptstadt oder Ne da(vi)mo Beograd in Belgrad machten, sind nur einige Beispiele für aktivistisches Engagement, das auch parteipolitische Wege einschlägt. Angesichts der überall wachsenden politischen, ökologischen und sozialen Probleme geht dieses Phänomen auch über Hauptstädte und urbane Räume hinaus. Gerade Umweltbewegungen mobilisieren die lokale Landbevölkerung gegen Naturzerstörungen.

Chancen und Barrieren des lokalen Aufbruchs

Solche Aktivitäten öffnen den Blick für ein neues Verständnis von Machtverteilung und Demokratie, die von einer repräsentativen in eine partizipative Herrschaftsform umgewandelt wird. Viele der genannten Initiativen teilen gemeinsame Ziele. Sie alle befassen sich mit brennenden Themen unserer Zeit und ihren Auswirkungen auf das lokale (teils auch globale) Umfeld: die Klimakrise, ausreichender und angemessener Wohnraum, soziale Ungleichheit, verantwortungsvolle Regierungsführung. Dabei fordern sie die Einhaltung von Menschenrechten, individuelle Freiheiten, Transparenz, Inklusion und Rechtsstaatlichkeit ein. Oft streben sie eine soziale, grüne und diverse Lokalpolitik an.

Mit Forderungen wie diesen und dem Ziel, dem politischen Klientelismus und Tribalismus etwas entgegenzustellen, stoßen lokale Initiativen auf den Widerstand bestehender Strukturen und Hierarchien. Ihr Anspruch, bei Entscheidungen gehört zu werden, fordert zentralistische Nationalstaaten heraus. Daher werden solche Projekte in der Regel nicht von den Regierungen unterstützt, ganz im Gegenteil, sie versuchen, diese Aktivitäten zu unterbinden.

Zukunft der Demokratie

Trotz allen politischen Drucks demonstrieren lokale Bewegungen ihre Vitalität, indem sie mit sehr begrenzten Ressourcen und unter ungünstigen Umständen für ihre Ziele eintreten. Gleichzeitig rütteln sie an bestehenden Machtverhältnissen. Eine der größten Herausforderungen besteht jedoch weiterhin darin, die Bevölkerung zu überzeugen und zu motivieren, diese neue Art der Machtverteilung zu unterstützen. Dieser Machttransfer bildet jedoch eine Herkulesaufgabe für die Länder Mittel-, Ost- und Südosteuropas, wo die Zivilgesellschaften schwach ausgeprägt und politisch gespalten sind.

Politik zu den Menschen zu bringen ist daher eine wichtige Aufgabe für lokale Initiativen. Sie müssen die Bevölkerung überzeugen, dass lokales Engagement bedeutet, ihre eigene Zukunft zu gestalten. So kann die Krise der repräsentativen Demokratie langfristig zu partizipativen Entscheidungsprozessen führen und lokale Beteiligungsprojekte fördern. Dafür ist eine engere Zusammenarbeit und ein Austausch zwischen Bottom-up-Projekten und lokalen Institutionen und Behörden notwendig. Zugleich müssen sie Allianzen über die Grenzen des Lokalen hinaus bilden, um Antworten auf globale Probleme zu finden.

 

Autor: Daniel Martinek

Route neu berechnen

Was tun, wenn eine Wanderausstellung vor geschlossenen Grenzen steht? Mit den Absagen von physischen Events wuchs das Projekt Kunst am Strom über sich und die Grenzen der analogen Welt hinaus. Ein Bericht von MÁRTON MÉHES.

Alles hat so gut angefangen: »Das internationale Kunstprojekt ‚Kunst am Strom‘ führt Kunstpositionen, KünstlerInnen und KuratorInnen aus dem Donauraum zusammen (…). Ziel des Projekts ist der Dialog von verschiedenen Kunstpositionen aus den Donauländern, die in einer Wanderausstellung (…) in acht Städten der Region gezeigt werden. Darüber hinaus werden sich KünstlerInnen und KuratorInnen aus Deutschland, Österreich, der Slowakei, Ungarn, Kroatien, Serbien, Rumänien und Bulgarien im Rahmen von Symposien begegnen, sich austauschen und Netzwerke bilden.« Soweit ein Zitat aus der Projektbeschreibung, verfasst Mitte 2019. Im Nachhinein merkt man dem Text ein gewisses Selbstbewusstsein an: Wir planen etwas und setzen es dann um – was soll da schon schiefgehen? Nur wenige Monate später, im Mai 2020, schlugen wir im Einführungstext zu unserem Ausstellungskatalog bereits ganz neue Töne an: »Angesichts der aktuellen Klimakrise und der Fragen der post-epidemischen ‚Weltordnung‘ ist der Donauraum mit der Herausforderung konfrontiert, Vergangenheitsbewältigung und die Entwicklung von Zukunftskonzepten gleichzeitig voranzutreiben. Die historischen Erfahrungen aus dieser Region könnten dabei auch hilfreich werden. Wir müssen jetzt auf Innovation und Kreativität setzen.« Unser Selbstbewusstsein ist verpufft. An seine Stelle sind offene Fragen, Herausforderungen und eine ungewisse Zukunft getreten. Die Wanderausstellung Kunst am Strom, die auf viele Treffen, Grenzüberschreitungen, Eröffnungsevents und den persönlichen Austausch setzte, war in der Pandemie-Realität angekommen.

Unerwartete Blickwinkel

Von nun an kamen sich ProjektleiterInnen, KuratorInnen und KünstlerInnen wie ein Navigationsgerät vor, das die Route ständig neu berechnen muss, und dennoch nie ans Ziel kommt. Von den ursprünglich geplanten drei Ausstellungen konnten 2020 zwar immerhin noch zwei (im Museum Ulm und auf der Schallaburg) veranstaltet werden, allerdings mit erheblichen Einschränkungen. In Ulm fand sie ohne den großangelegten Kontext des Internationalen Donaufests statt, und auf der Schallaburg musste sie wegen des erneuten Lockdowns Wochen früher schließen. Ursprünglich hätte die Schau 2021 an weiteren fünf Stationen Halt gemacht – möglich war lediglich eine Veranstaltung in Košice im Herbst 2021, unter Einhaltung strengster Hygiene- und Sicherheitsregeln. Mitte des Jahres 2021 war allen Beteiligten klar, dass das Projekt verlängert werden muss, was dann von den FördergeberInnen auch genehmigt wurde. Spätestens im Sommer hätten sich also alle zurücklehnen können, nach dem Motto »Wir sehen uns nach der Krise…« Doch bald stellte sich heraus, dass der Satz aus dem Katalog von allen Beteiligten ernst gemeint war: Wir müssen jetzt auf Innovation und Kreativität setzen. Im April 2021 fand ein Online-Symposium mit den KuratorInnen statt, um gemeinsam auf innovative, aber rasch und unkompliziert umsetzbare Austauschformen im virtuellen Raum zu setzen. Das Meeting funktionierte gleichzeitig als Ventil: KuratorInnen schilderten die Lage in ihren Städten und die teils dramatische Situation der jeweiligen Kunstszene. Im Mai folgte dann Studio Talks. Die KünstlerInnen wurden im Vorfeld gebeten, ihre Arbeit, ihre Ateliers, ihre Stadt und ihr Lebensumfeld in kurzen Video-Selbstportraits festzuhalten. Diese Videos wurden dann im Laufe der Veranstaltung gezeigt und von den teilnehmenden KünstlerInnen live kommentiert. Aus diesen Videos ist ein einzigartiges Panorama künstlerischen Schaffens im Donauraum entstanden.

Unzertrennliche Welten

Durch die gewonnene Zeit hat die Projektleitung einen Audio-Guide zur Ausstellung produzieren lassen. Auch die Facebook-Seite wurde zu einer wichtigen Präsentationsplattform weiterentwickelt. Die teilnehmenden KünstlerInnen stellten sich mit einem kurzen Werdegang sowie dem Link zu ihren Studio Talks-Videos vor. Ohne diese verstärkte Online-Kommunikation hätte das Projekt nie ein so breites Publikum erreicht. Die Studio Talks und Online-Kampagnen haben unsere physische Ausstellung nicht ersetzt. KünstlerInnen und Publikum freuen sich mehr denn je auf die Veranstaltungen vor Ort. Kunst am Strom ist durch die Pandemie vielschichtiger, informativer und spannender geworden. Eine Entscheidung zwischen »nur analog« oder »nur digital« kann es nicht mehr geben: Beide Welten sind endgültig unzertrennlich geworden und ergeben nur noch gemeinsam ein ganzes Bild.

Für das von Dr. Swantje Volkmann (DZM Ulm) und Dr. Márton Méhes geleitete Projekt Kunst am Strom wählten die KuratorInnen KünstlerInnen aus Ländern und Städten entlang der Donau aus, die zwei Generationen repräsentieren. Das Projekt wird vom Museum Ulm getragen und von mehreren Kooperationspartnern mitfinanziert.

Termine 2022:
27. April–11. Mai: Zagreb
11.–24. Juni: Timișoara
8.–21. August: Novi Sad
12. Oktober–2. November: Sofia

 

Dr. Márton Méhes (*1974) ist promovierter Germanist, ehem. Direktor des Collegium Hungaricum Wien und arbeitet heute als Lehrbeauftragter der Andrássy Universität Budapest sowie als internationaler Kulturmanager in Wien. Seine Schwerpunkte sind Kulturdiplomatie, europäische Kulturhauptstädte und Kooperationsprojekte im Donauraum.

Folgen des Ungleichgewichts: Viren im Donaudelta

Viren sind heute mehr denn je Teil unseres Lebens. Verantwortlich dafür ist vor allem die Zurückdrängung der Tier- und Pflanzenwelt. Der Biologe Alexandru TOMAZATOS forscht am Bernhard-NochtInstitut für Tropenmedizin in Hamburg und erklärt, welche Rolle gerade Vögel in der Verbreitung von Viren einnehmen.

Infektionskrankheiten, insbesondere solche, die durch sogenannte Vektoren wie Stechmücken und Zecken übertragen werden, geben zunehmend Anlass zur Sorge. Das Verbreitungsgebiet dieser Viren hat sich seit mehreren Jahrzehnten weltweit ausgeweitet, insbesondere bei dem durch Mücken übertragenen Dengue, Gelbfieber, Zika oder West-Nil-Virus. Sogenannte Arboviren (kurz für arthropode-borne viruses) sind keine richtige Klasse, sondern eine informelle Kategorie, die durch ein grundlegendes ökologisches Merkmal definiert ist: Es handelt sich dabei um Viren, die die Blutspeisung von Gliederfüßern wie Insekten (Arthropoden) »nutzen«, um einen Wirbeltierwirt zu infizieren. In fast allen bekannten Fällen haben Arboviren eine wichtige Eigenschaft gemein: Sie sind RNA-Viren mit einer sehr hohen Mutationsrate. Sie können sich also schnell entwickeln und sind sehr anpassungsfähig. Ihre Moskito-Vektoren sind zu vergleichbaren Leistungen fähig, wenn auch in einem anderen Ausmaß. Sie sind sehr anpassungsfähig und invasiv. Die Eier einiger Arten widerstehen über lange Zeiträume der Austrocknung und reisen in Altreifen, Dosen und anderen Frachtstücken um die Welt. So verließen etwa auch Tigermücke und Gelbfiebermücke ihre ursprünglichen Verbreitungsgebiete in den Wäldern Asiens bzw. Afrikas und passten sich an die neuen städtischen Umgebungen an. Beide Arten sind vom Säugetier- zum Menschenbiss übergegangen und haben sich an die Fortpflanzung in Containern angepasst. Dies hat zu großen Ausbrüchen von Dengue, Chikungunya oder Zika in tropischen und subtropischen städtischen Gebieten geführt. Die Viren gelangen aber auch nach Südeuropa, wo die Tigermücke (Ae. albopictus) sporadisch Dengue oder Chikungunya verbreiten kann, nachdem es zurückkehrende Reisende einschleppen.

West-Nil-Virus (WNV) am Vormarsch

Nach dem Dengue- gehört auch das West-Nil-Virus (WNV) zu den weltweit häufig verbreiteten Arboviren. Es kommt derzeit auf den meisten Kontinenten vor und breitet sich in den gemäßigten Regionen aus. In seinem natürlichen Zyklus wird das WNV zwischen Culex-Mücken und Vögeln übertragen. Veränderungen in der Ökologie von Vektoren oder Wirten führen zu unterschiedlichen Wechselwirkungen und beeinflussen den Viruszyklus. Wenn etwa die bevorzugten Vögel in einem Gebiet auf dem Zug sind, können die Mücken ihre Nahrungspräferenz auf verfügbare Menschen oder Haustiere verlagern. Wenn das WNV dem primären Mücken-Vogel-Mücken-Zyklus entkommt und Menschen oder Pferde infiziert, gerät es in »Sackgassen«. Es kann sich in diesen Wirten nicht in dem Maße vermehren, wie es für eine erneute Infektion einer Stechmücke erforderlich wäre. Obwohl die Mehrzahl der Infektionen beim Menschen keine Symptome zeigt, entwickeln etwa ein Prozent der Fälle Meningitis, Enzephalitis und/oder Poliomyelitis. Bei Pferden treten in der Regel häufiger neurologische Komplikationen auf, obwohl es für sie einen WNV-Impfstoff gibt.

Per Vogel ins Donaudelta

Das Donaudelta, vor allem bekannt für seine Vogelfauna, ist das zweitgrößte Feuchtgebiet Europas und ein Hotspot der biologischen Vielfalt. Es ist ein reichhaltiger Komplex von Ökosystemen, der als wichtiger Knotenpunkt für den Vogelzug zwischen Afrika und Eurasien dient. Das ausgedehnte Mosaik aus Seen und Sümpfen, die durch ein Labyrinth von Kanälen miteinander verbunden und in das weltweit größte kompakte Schilfreservat eingebettet sind, bietet Nahrung und Nistmöglichkeiten für mehr als 300 Vogelarten. Viele Vögel nehmen eine Rolle beim Transport exotischer Krankheitserreger ein, entweder als biologische Träger (z.B. als Reservoirwirte) oder als Überträger infizierter Parasiten wie Zecken. Manche Spezies finden im Donaudelta reichhaltige und vielfältige Gemeinschaften blutfressender Arthropoden, die mit neuen exotischen Krankheitserregern in Kontakt kommen oder einheimische Krankheitserreger an Vögel weitergeben können. Das West-Nil-Virus ist eines der zentralen Viren in Europa, da es in zahlreichen südlichen, mittleren und südöstlichen Ländern endemisch ist. Vor kurzem breitete es sich auch nach Norden bis nach Deutschland und in die Niederlande aus, was vor allem auf das veränderte Klima zurückzuführen ist. Aufgrund von Evolutionsstudien geht man davon aus, dass der Ursprung des Virus in Afrika liegt. Die Forschung nimmt an, dass die wiederholte Einschleppung nach Europa über den Vogelzug erfolgt. Durch die Sequenzierung seines Genoms können wir die zeitliche und räumliche Entwicklung des Virus modellieren. Diese phylogeografische Analyse von Proben aus Europa und Afrika zeigt auf, dass die am stärksten betroffenen Naturräume entlang der wichtigsten Migrationskorridore liegen und von Vögeln intensiv genutzt werden. Das ausgedehnte Netz von Zugrouten lässt sich anhand der großen Korridore, über die die Vögel das Mittelmeer im Westen (Gibraltar), im Zentrum (Italienische Halbinsel) und im Osten (Israel, Türkei, Bosporus, Donaudelta) durchqueren. Im Donaudelta haben wir festgestellt, dass das lokale West-Nil-Virus eng mit dem zirkulierenden Virus in der Ukraine und jenem im Wolgadelta verwandt ist. Zusammengenommen haben diese osteuropäischen Virusstämme einen gemeinsamen Ursprung im südlichen und östlichen Teil Afrikas. Die Balkanhalbinsel ist eine weitere Region, über die das Virus häufig nach Europa kommt. Von Griechenland aus gelangt es zu wichtigen Knotenpunkten wie Serbien oder Ungarn. Danach breitet es sich nach Österreich und von dort hauptsächlich nach Westen aus. Dabei handelt es sich um eine vereinfachte Darstellung der Virusausbreitung, da es weniger genetische Daten aus Osteuropa gibt als etwa aus dem Westen. Auch über die Überwinterung des Virus, insbesondere im Osten Europas, ist noch wenig bekannt.

Feldforschung im Donaudelta

Die Erfassung von Überträgerarten im Donaudelta ist schwierig, da die Kerngebiete nur mit dem Boot erreichbar sind. Auch lassen sich manche Arten nicht mit den üblichen Fallen einfangen. Arboviren können über lange Zeiträume hinweg unbemerkt zirkulieren. Eine stille, unbemerkte Verbreitung in suboptimalen Zeiten ist typisch für Arbovirus-Zyklen. Sobald sich die Bedingungen wieder bessern, zum Beispiel die Dichte von Stechmücken oder Vögeln zunimmt, intensiviert sich auch die Virusübertragung und kann rasch epidemische Ausmaße erreichen. Als das WestNil-Virus im Donaudelta auf sehr niedrigem Niveau im Umlauf war versuchten wir einen neuen Ansatz: Wir benutzten die gesammelten Mücken mit ihrem Blut als »fliegende Spritzen«, um zu sehen, ob wir immunologische Signale der Infektion im Blut des Wirts nachweisen konnten. Wir sequenzierten zunächst die DNA der Blutmahlzeiten der Mücken und identifizierten damit die Wirte. Dann suchten wir nach Antikörpern gegen das West-Nil-Virus und verwandten Viren in Mücken, die sich von Menschen, Pferden, Hunden und Vögeln ernährt hatten. Bei Blutmahlzeiten von Hunden und Pferden führte diese Methode zu Treffern. Interessenterweise konnten wir dabei in der Blutmahlzeit eines Hundes auch Antikörper gegen das Usutu-Virus feststellen. Seit mehr als zwei Jahrzehnten taucht dieser enge Verwandte des West-Nil-Virus immer wieder in Europa auf. In Wien verursachte Usutu Anfang der 2000er Jahre enormes Vogelsterben. Hunderttausende Vögel, darunter vor allem Amseln, verendeten. Beim Menschen traten die Symptome aber sehr selten und mild auf. In den letzten Jahren haben außergewöhnlich heiße Sommer die Entwicklung von Stechmücken und die Ausbreitung beider Viren in ganz Europa gefördert. Bei Usutu könnte die Zahl der menschlichen Fälle, einschließlich neurologischer Erkrankungen, allerdings stark ansteigen. Darüber hinaus trägt die große Verwandtschaft zwischen den beiden Viren dazu bei, dass das Auftreten dieses Virus in Europa unterschätzt wird.

Gesundheit ohne Grenzen

Die biologische Vielfalt spielt eine wichtige Rolle in der Ökologie von Krankheiten. Manche Wirte begünstigen Epidemien, andere dämpfen oder verhindern die Ausbreitung, indem sie als »Verdünnungswirte« fungieren. Unter bestimmten Bedingungen kann sich diese auch verstärken. Denn wenn der Mensch die biologische Vielfalt verringert, verändern sich auch das Verhalten der Arten und die Muster der Krankheitsübertragung, was oft gerade in dicht besiedelten städtischen Gebieten Folgen hat. Durch die Ausweitung unserer Zivilisation und die Veränderung von Landschaften kommen wir mit Viren in Kontakt, die zuvor auf ungestörte Naturgebiete beschränkt waren. So bieten wir ihnen die Möglichkeit, den Wirt zu wechseln und neue Entwicklungswege außerhalb ihres angestammten Verbreitungsgebiets und in unsere Städte zu beschreiten. Schätzungsweise 75 Prozent der menschlichen Infektionen werden mit anderen Tieren geteilt. Diese Tatsache bildet die Grundlage des One-Health-Ansatzes. Dahinter steht die Erkenntnis, dass die Grenzen zwischen der Gesundheit von Mensch, Tier und Ökosystem künstlich sind – alle drei sind voneinander abhängig.

Dobson et al. 2006. Sacred Cows and Sympathetic Squirrels: The Importance of Biological Diversity to Human Health. PLoS Medicine, doi:10.1371/journal.pmed.0030231

Tomazatos et al. 2019. Ecology of West Nile Virus in the Danube Delta, Romania: Phylogeography, Xenosurveillance and Mosquito
Host-Feeding Patterns. Viruses, 11, 1159; doi:10.3390/v11121159

 

Alexandru Tomazatos ist als Biologe in der Abteilung Arbovirologie des Bernhard-NochtInstituts für Tropenmedizin in Hamburg tätig. Er hat kürzlich seine Doktorarbeit zum Thema Entdeckung und Überwachung von Viren im Donaudelta abgeschlossen und forscht derzeit im Virus Discovery and Evolution Lab.

Bundestagswahl in Deutschland 2021

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