Das Boot ist voll? Dann schaffen wir endlich sichere Häfen!

Seit Jahren finden die EU-Mitgliedstaaten keine menschenwürdige und faire Alternative zur »Festung Europa«. In ihrem Kommentar erinnert MELANIE JAINDL an historische Parallelen und sprachliche Grenzüberschreitungen im Umgang mit Menschen auf der Flucht.

Die dritte Nacht bricht an. Sie sind gestrandet, »in der bitteren Kälte, halb verhungert und ohne ein Dach über dem Kopf, zwischen den Wachen aller drei Länder, die sie nicht betreten dürfen.« Ein kleines Boot schenkt ein wenig Hoffnung. Doch niemand wusste, dass aus drei Nächten drei Monate werden. AugenzeugInnen berichten von rund 60 Menschen, Kinder sowie Alte, »entweder in den engen, von Ratten und Ungeziefer befallenen Räumen unter Deck, oder oben, wo sie den Launen des Wetters ausgesetzt sind.« Während die Regierungen von Sättigung sprechen, bleibt es an der Zivilbevölkerung zu helfen. Sie kümmern sich um das Notwendigste: bringen Decken und Lebensmittel. Hilfsorganisationen werden indessen an ihrer Arbeit gehindert, erhalten keine Unterstützung, werden gar kriminalisiert. Das Boot verharrt drei Monate lang auf See, ohne Aussicht auf einen Hafen, in den es einlaufen könnte. »Wir sind im Mondlicht gegangen und gegangen und gegangen, bis wir auf ungarisches Staatsgebiet gelangten,« erzählt einer der Vertriebenen. Sie wollten nicht weg, doch das Leben, dass sie so mühsam und liebevoll aufgebaut hatten, änderte sich schlagartig. Bleiben bedeutete den sicheren Tod. Sie tragen nur das Nötigste mit sich und die Angst, zurückgeschickt zu werden. Eine Angst, die sich schließlich bewahrheitete. »Denn um uns Juden kümmerte man sich damals nicht.«

Immer wieder »Nie wieder«?

Es sind Geschichten einer Flucht, die wir so ähnlich in den vergangenen Jahren oft hörten. Ähnliches geschieht auch gerade jetzt, draußen im Mittelmeer, vor geschlossenen Grenzzäunen entlang der Balkanroute, auch entlang der Donau. Der internationale Strom bot Staatenlosen schon immer einen Ausweg. So auch den Jüdinnen und Juden aus den burgenländischen Gemeinden Pama, Kittsee und Gols, die 1938 aus ihrer Heimat vertrieben wurden und auf einem Schleppkahn in der Donau ausharrten, weil die benachbarten Länder Tschechoslowakei und Ungarn sie nicht aufnahmen. Ihr Schicksal wurde auf der Konferenz von Évian besprochen. Dort beriet die Staatengemeinschaft darüber, wie eine Auswanderung der deutschen und österreichischen jüdischen Gemeinschaft ermöglicht werden kann. Denn die Zustände in ihrer Heimat verschlimmerten sich von Tag zu Tag. Doch die Konferenz brachte keine Ergebnisse – kaum ein Staat war bereit, mehr Menschen aufzunehmen.

Auch in den 2010er Jahren hielt der Westen Konferenzen ab. Bis heute bringen sie aber wenig außer Schuldzuweisungen oder Mitleidsbekundungen. Egal ob im Rahmen der EU oder der Vereinten Nationen, niemand will sie – die Flüchtlinge, die AusländerInnen, Muslimas und Muslime. Schworen wir uns nicht »Nie wieder«? Obwohl nicht lange her, fühlt sich dieses Versprechen weit entfernt an. Seit 2014 verstarben oder verschwanden 25.000 Menschen im Mittelmeer, allein bis September dieses Jahres waren es fast eineinhalbtausend. So die Zahlen des UNHCR, die Dunkelziffer ist wahrscheinlich weitaus größer. Doch es sind nicht nur Zahlen, es sind 25.000 Lebensgeschichten. Geschichten, die mit FreundInnen, Kindern, Eltern, Großeltern, Cousinen und Cousins, KlassenkameradInnen, LehrerInnen und weiteren Angehörigen verflochten sind. Es ist der zweijährige Alan Kurdi, dessen Foto um die Welt ging und über dessen Tod so viele PolitikerInnen bestürzt waren. Dennoch einigten sie sich auf keine Lösung, um weitere Todesfälle zu verhindern. Sowie jener des 22-jährigen Saleh aus Palästina, in dessen Heimat 1938 viele der burgenländischen Jüdinnen und Juden vom Donau-Boot Zuflucht fanden. Einige harren auch heute wieder auf Booten und Inseln aus, wie die jüdischen BurgenländerInnen vor über 80 Jahren. Der einzige Unterschied: Heute umgibt sie Salz- und nicht Süßwasser.

Der ehemalige Bürgermeister Palermos, Leoluca Orlando, sprach in diesem Zusammenhang von einem Genozid vor den Grenzen Europas. Auch wenn diese Wortwahl drastisch ist, das dahinterstehende Leid wird einer »Union der Menschenrechte« nicht gerecht. Tatsächlich ist das Mittelmeer für Flüchtende und MigrantInnen der weltweit tödlichste Seeweg. Und es ist falsch, diese Verluste als Unfälle zu bezeichnen, oder gar als Eigenverschulden durch Leichtsinnigkeit. Sie sind die direkte Folge von Gewalt und Konflikten in den Herkunftsländern und die Konsequenz einer europäischen Migrations- und Grenzpolitik, die sichere Fluchtrouten unmöglich macht.

Gleiche und Gleichere

Wir EuropäerInnen sind stolz auf unsere Menschenrechte und ungehinderte Mobilität. Doch denen vorm Stacheldrahtzaun verwehren wir sie. Ist es Rassismus, Islamophobie, Klassismus? Noch vor einem Jahr schauten viele weg, als AfghanInnen, SyrerInnen und MalierInnen vor den östlichen EU-Grenzen in den Wäldern erfroren. Kurz darauf öffnete die EU die Grenzen für flüchtende UkrainerInnen. Wenn der politische Wille da ist, können wir flüchtenden Menschen effektiv helfen. Leider scheinen eine weiße Hautfarbe und christliche Konfession die günstigeren Voraussetzungen für diesen Willen zu sein. Am Papier sind alle gleich sein, aber in der Praxis sind manche gleicher.

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán behauptete kürzlich, dass die UngarInnen »keine gemischte Rasse« werden wollten. Sprache wird schnell Realität, und mit Aussagen wie diesen erreichen wir sehr gefährliches Terrain. Doch nicht nur Ungarn verfällt in alte Narrative. Viele PolitikerInnen sprechen heute wieder von Sättigung. Erst kürzlich erklärte der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer, das Maß sei voll. Tatsächlich gab es damals und gibt es auch heute genug Platz: Seit den 1950ern wuchs die Bevölkerung in Europa um 200 Millionen Menschen. Und laut der UN-Bevölkerungsabteilung werde sie bis zum Ende des Jahrhunderts um 100 Millionen schrumpfen. Doch genau jene Länder entlang der Donau, die dieser Trend am stärksten betrifft, wehren sich am lautesten gegen Immigration. Zugleich wandern viele ihrer eigenen BürgerInnen aus, um bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen zu suchen.

Europas Regierungsspitzen pochen gerne auf die Einhaltung von EU-Recht, doch immer nur jenes, dass gerade ihren nationalen Interessen nützt. Im Zentrum der Fluchtdebatten stehen die Themen Grenzschutz oder Dublin III, und nicht der effektive Schutz von Vertriebenen und die Einhaltung der Menschenrechte. Die EU-Grenzschutzagentur FRONTEX soll laut Nehammer »in die Pflicht genommen werden«, aber nicht wegen ihrer Involvierung in illegale und gewaltsame Pushbacks, sondern ihrer angeblichen Nachlässigkeit darin, einen wirkungsvollen »Schutzwall für die Mitgliedsstaaten« zu bilden. Die brennende Frage an uns EuropäerInnen lautet allerdings: Wovor müssen wir uns tatsächlich schützen – vor flüchtenden Mitmenschen oder der Flucht vor unserer Verantwortung?

BFG Fotoarchiv / © Roth

Jenseits von Gut und Böse

Pragmatischere Stimmen reden gern von den Chancen durch Migration: Aufgenommene zahlen ins Pensionssystem ein – eine Notwendigkeit in den alternden und schrumpfenden Gesellschaften. Unter ihnen seien auch hochqualifizierte Leute, brauchbares Human Capital. Doch auch dieses Narrativ ist gefährlich. Menschenleben sind keine Güter. Ihr Wert berechnet sich nicht über den vermeintlichen Nutzen oder Schaden, den sie für die Aufnahmegesellschaft bringen.

Auch wenn es verschiedenste Ansichten zu den Themen Flucht und Migration gibt, hat unser Umgang damit wenig mit persönlicher Moral zu tun. Asyl ist keine Wohltätigkeit, sondern ein Menschenrecht basierend auf einer Konvention, auf die sich der Westen bewusst seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges stützt. Flucht ist jenseits von Gut und Böse. Egal ob Süß- oder Salzwasser, die Donau oder das Mittelmeer, die Aufnahme von Menschen in Not ist ein Teil der europäischen DNA und unseres Menschenrechtssystems, das seinen Wert verliert, wenn wir es nicht aufrechterhalten.

Die Quellen und Zitate zu den vertriebenen burgenländischen Jüdinnen und Juden stammen aus der digitalen Edition »BeGrenzte Flucht. Die österreichischen Flüchtlinge an der Grenze zur Tschechoslowakei im Krisenjahr 1938«, herausgegeben von Michal Frankl und Wolfgang Schellenbacher (2018): begrenzte-flucht.ehri-project.eu

Alfred Lang, Barbara Tobler, Gert Tschögl:
Vertrieben. Erinnerungen burgenländischer Juden und Jüdinnen. Wien, Mandelbaum 2004.

 

Autorin: Melanie Jaindl

Insignien der (Ohn)Macht

Viktor Orbán spielt erneut mit seinem Veto auf EU-Ebene gegen die Zeit. Daniela Apaydin hält die EU-Taktik aus Zuckerbrot und Peitsche allerdings für kein nachhaltiges Mittel, um die verfahrene Situation mit Ungarns Ministerpräsidenten zu lösen. Das Problem dahinter ist wie immer viel komplizierter. Was das mit uns selbst und dem Nikolaus zu tun hat, erklärt sie in ihrem Kommentar.

Hin und wieder passiert es dann doch. Die große Politik und das Leben der kleinen Leute prallen so stark aufeinander, dass sie miteinander verschmelzen. Und das mitten im Wohnzimmer. Dann gelingt es, dass die großen Themen auf den gedeckten Festtagstischen landen und dort hin und her gewälzt werden, trotz all der Frustrationen mit der Politik oder auch gerade weil unverschämte und korrupte Politiker*innen an diesem kalten Dezembernachmittag das Blut schnell aufkochen lassen. Gestern war so ein Moment.

Zwischen zerquetschten Mandarinen, halbnackten Schokonikoläusen und verschmierten Kinderfingern saß der ungarische Ministerpräsident und wurde von den umhersitzenden Familienmitgliedern herumgereicht, analysiert und kommentiert. Ich saß unter ihnen und hatte noch das Ö1-Interview meiner ehemaligen Professorin Ellen Bos (Andrássy Universität) im Ohr. Sie wurde bei der Anrufsendung von einem Zuhörer gefragt, ob die EU noch Handschlagqualität habe, wenn laufend neue Kritikpunkte an Orbáns Politik dazukommen würden und dadurch Ungarns Bemühungen, diese zu erfüllen, nicht anerkannt werden.

Hintergrund der Debatte war das gestrige Treffen der EU-Finanzminister*innen, bei dem sie darüber entscheiden sollten, der Empfehlung der Kommission zu folgen und Fördermittel für Ungarn in Höhe von 7,5 Milliarden Euro einzufrieren. Diese hatte zuvor festgestellt, dass die Regierung in Budapest die bisher identifizierten Schwachpunkte im Rechtstaat nur unzureichend durch notwendige Reformen ausgebessert habe. Dabei ging es unter anderem um die Forderung nach der Schaffung einer Kontrollbehörde, der Ungarn zwar nachkam, die aber derzeit nach Ansicht vieler Expert*innen politisch abhängig sei. Zu den 17 Punkten zur Verbesserung der Rechtsstaatlichkeit kommen noch Maßnahmen, die garantieren sollen, dass die umfassenden EU-Förderungen aus dem Wiederaufbaufonds unter kontrollierten und fairen Bedingungen verteilt werden und nicht in den Taschen korrupter Politiker*innen und regierungsnaher Unternehmer*innen landen.

„Mit Zuckerbrot und Peitsche gegen Ungarn“, titelte daraufhin das Ö1-Magazin – eine Formulierung, die uns von der EU-Politik dort in Brüssel schnell zurück ins Wohnzimmer transportiert. Hier wird nun bei Kaffee und frisch gebackenen Keksen diskutiert, warum einer von 27 Regierungschef*innen die ganze Union in Geiselhaft halten könne. Ob und welche Bestrafung angemessen sei. Denn Viktor Orbán blockiert mit seinem Veto dringende Entscheidungen, u.a. jene über weitere Hilfen für die Ukraine im Umfang von 13,3 Milliarden Euro. Andere argumentieren, dass es doch Orbáns Recht sei, eine Entscheidung nicht mitzutragen und die Vorwürfe der mangelnden Rechtsstaatlichkeit übertrieben seien. So hätten doch auch viele andere EU-Mitgliedsstaaten Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz.

Es dauert auch nicht lange, bis die jüngsten Korruptionsvorwürfe in Österreich genannt werden und ein allgemeines Kopfschütteln einsetzt. Es ginge hierzulande mittlerweile so weit, dass Werbeagenturen ihre Inspirationen aus der österreichischen Innenpolitik schöpfen könnten.

Nachdem alle den Werbespot des Möbelhauses gesichtet hatten, kommt das Gespräch doch wieder auf Ungarn und die Rolle der EU zurück. Zwischen den verschwindenden Vanillekipferln taucht ein Widerspruch nach dem anderen auf. Warum ist die EU nur so unfähig und greift nicht ein, wenn ein Regierungschef im Nachbarland versucht, Putins Politik nachzuahmen? Kann die EU nicht eingreifen, wenn kritische Lehrer*innen gekündigt und Geschichtsbücher umgeschrieben werden? Zugleich wird festgestellt, dass die EU doch ohnehin nicht dazu da sei, über die Köpfe nationaler Parlamente und Regierungen hinweg Regeln aufzustellen.

War es nicht blauäugig zu denken, die unterschiedlichen Länder dieses Kontinents könnten sich nach 1989 so weit angleichen, dass gleiche Chancen in Europa vorherrschen? Dass sie alle demokratisch werden und die Korruption verschwindet? Sind nicht sowieso alle Politiker*innen korrupt, wenn sie die Gelegenheit dazu bekommen? Und wurden die Grenzen nicht viel zu früh geöffnet?  Wie immer bei solchen Diskussionen an Küchen- oder Wohnzimmertischen, wo unterschiedliche Meinungen, Wissensstände und Erfahrungen aufeinanderprallen, gerät das eigentliche Thema schnell aus den Augen. Zu komplex erscheinen die Probleme, zu verfahren „das System“, zu hilflos und unbedeutend fühlen sich die Diskutant*innen, die versuchen, die Sache irgendwie zu ordnen.

Gut, dass es Rituale und Traditionen gibt, die seit jeher unseren Alltag ordnen und unser Zeitempfinden prägen. Auch an diesem Nachmittag betritt wieder der weißbärtige Mann und seine grimmigen Begleiter das Wohnzimmer, begleitet vom obligatorischen Schauer über die Rücken der Kinder. Für viele ist es auch heute noch ein wichtiges Ritual, das die Generationen miteinander verbindet: Ein beeindruckend großer, scheinbar allwissender Mann liest aus seinem roten Buch die guten und schlechten Taten vor. Schuldbewusste, doch auch neugierige Augen blitzen zwischen den Armen und Beinen der Erwachsenen hervor. Was, wenn die schlechten Taten letztlich überwiegen? Was, wenn in dem großen Korb dieses Jahr kein Geschenk wartet?

Als Kind hinterfragen wir nicht, woher dieser Mann seine Macht nimmt, warum er über Gutes und Schlechtes, Belohnung und Bestrafung entscheiden kann. Er macht es einfach und alle Erwachsenen rundherum scheinen damit einverstanden zu sein. Im Gegenteil, die eigenen Eltern nutzen die Macht des Nikolaus oft schon Tage davor, um Streitigkeiten zwischen den Geschwistern rascher zu beenden und aufgeräumte Kinderzimmer einzufordern.

Es ist eine dieser prägenden Erfahrungen, wonach es in dieser Welt Kräfte gibt, die einen für gute Taten belohnen und schlechte bestrafen. Am Ende wird aber doch immer ein Auge zugedrückt. Im Scherz nennen wir das dann eine typisch österreichische Tradition. Die Gestalt einer gnädigen Autorität prägt unser Weltbild in vielen Bereichen und wird durch die religiöse Erziehung oft noch verstärkt. Dieses Weltbild beeinflusst unser Denken, selbst wenn wir längst keinen Kirchenbeitrag mehr bezahlen.

Betrachten wir den aktuellen Konflikt zwischen der EU und Viktor Orbán aus einem traditionellen Gesichtspunkt, dann wäre die Lösung vielleicht ganz einfach: Wir übergeben die Macht der Entscheidung über Belohnung und Bestrafung eines europäischen enfant terrible der Autorität der Europäischen Kommission. Wir erwarten, dass sie alles überblickt, fair entscheidet, letztlich aber auch ein Auge zudrückt, bevor es wirklich hart auf hart kommt.

Doch in der Realität ist weder der Nikolaus noch die EU allmächtig, allwissend und unfehlbar. Sie ist voller Schwächen und Widersprüche, die sich nicht einfach von selbst auflösen werden. Viktor Orbán nimmt mit seinem Spiel auf Zeit hohe Kosten auf sich. Nicht getroffene Entscheidungen kosten in der Ukraine Menschenleben. Doch auch in Ungarn werden die Fördergelder dringend gebraucht. Orbáns vermeintlicher Gegenspieler ist sein eigenes Spiegelbild, denn Ungarn sitzt bei diesen Entscheidungen mit am Tisch.

Die Macht wird in Europa geteilt, weshalb sich auch kein Regierungschef für immer der Verantwortung entziehen kann. Es geht bei dieser Frage nicht um Belohnung oder Bestrafung. Wir hier am Wohnzimmertisch müssen uns von der Vorstellung trennen, dass Europas Zukunft von einer Politik aus Zuckerbrot und Peitschen gestaltet wird. Wir gemeinsam, nicht die Kommission oder die Verträge, bestimmen letztlich die Grenze zwischen Gut und Böse. Wir müssen die Regeln im großen roten Buch selbst schreiben und ein System gestalten, dass die Pflichten und Verantwortung fair verteilt. Dafür müssen wir uns von einem Politik-Verständnis lösen, das alte Bilder fortschreibt.

Ich war stolz als meine Nichte den Nikolaus-Stab tapfer in die Hand nahm und sich von den düsteren Gestalten neben ihr nicht einschüchtern ließ. Hin und wieder sollten wir uns auch als Erwachsene ein Beispiel nehmen und die „große Politik“ selbst in die Hand nehmen – etwa indem wir uns mehr für Europa und seine Menschen (und Politiker*innen) interessieren und uns trotz der Komplexität darüber informieren. Denn auch wenn wir uns für aufgeklärt halten mögen, unsere Demokratie hat noch viele Schritte der Entzauberung vor sich. Die Entzauberung des Krampus in Budapest ist einer davon.

 

Sie haben eine andere Meinung? Schreiben Sie uns! E-Mail: d.apaydin(at)idm.at

Danubius Awards 2022

Danubius Award 2022 to the Bulgarian scientist Prof. Dr. Diana Mishkova, Danubius Mid-Career Award to Ukrainian scientist Assoc. Prof. Dr. Tamara Martsenyuk and Danubius Young Scientist Awards to 13 promising researchers from the Danube region. 

The “Danubius Award” 2022 goes to Bulgarian Prof. Dr. Diana Mishkova, History Professor and Director of the Centre for Advanced Study (CAS) in Sofia, Bulgaria. With her work focusing on modern and contemporary history of Eastern Europe, the modernization of South-Eastern Europe, European societies, and European peripheries as well as national identities, she has contributed profoundly to research on the Balkans. She is o the funding director of CAS Sofia, that is supported by numerous international sponsors, such as the Wissenschaftkolleg Berlin (Institute for Advanced Study Berlin). Prof. Dr. Mishkova has already received several awards for her scientific work and is involved in different international projects – currently in the Horizon 2020 project “PREVEX – Preventing Violent Extremism in the Balkans”.

Ukrainian scientist Assoc. Prof. Dr. Tamara Martsenyuk has been awarded the “Danubius Mid-Career Award” 2022. She is an Associate Professor at the National University of Kyiv-Mohyla Academy. In her studies, she focuses on gender research, social inequality issues, gender policies, social movements, and empowerment. In addition to numerous stays abroad and the participation in international research projects, she also brings her expertise to national policy forums and NGOs. Her research is currently focusing on the topic “Women’s involvement in Russia’s War against Ukraine”. 

 
In addition, 13 young scientists from the Danube Region will be awarded with the Danubius Young Scientist Award 2022 for their scientific work.

By presenting these Awards, the Austrian Ministry for Education, Science and Research (BMBWF) is contributing to the implementation of the EU Strategy for the Danube Region (EUSDR) adopted by the European Council in 2011. Through the awarding of outstanding scientific achievements, the Danube region is made visible as a research area and the perception of its multidisciplinary challenges and potentials is strengthened.

“The Danube Region provides many opportunities for cross-border and regional cooperation among universities as well as research organizations. And there are, indeed, plenty of common challenges along the Danube and beyond which we need to jointly address and develop solutions for Federal Minister for Education, Science and Research Prof. Martin Polaschek pointed out on the occasion of the award ceremony on 10 November 2022 at the University of Maribor.

“The role of scientists and researchers has changed profoundly in the last decade. On the one hand, scientists and researchers are in a high demand to deliver fast results and provide evidence for critical policy decisions, and they have become indispensable in explaining and communicating the current knowledge available. On the other hand, we see a worrying rise in skepticism towards science and research as well as towards democracy in general, which creates a wide range of problems for and in our societies. We need to work together to counter this skepticism, and I am confident that all of you present and especially the awardees of today can and will contribute with their work towards demonstrating and communicating the relevance of science and research“, Polaschek continued.

The award ceremony in Maribor took place in the presence of Barbara Weitgruber, Head of the Department from the BMBWF, and Friedrich Faulhammer, Chairman of the Institute for the Danube Region and Central Europe (IDM).

In her introduction, Barbara Weitgruber highlighted the solidarity with Ukraine as partner country of the EUSDR: “We will continue our support to the Ukrainian researchers, who have come or aim of coming in the EU, as well as to those remained in Ukraine. In addition to that, we hope for an early beginning of the reconstructions, and we are getting ready for appropriate support measures”. 

Friedrich Faulhammer added: “I am really pleased that once again we are working together with the Ministry for Education, Science and Research to honor scientists, who are significantly contributing to the development of knowledge and understanding within the Danube region in their various fields of research. This year, I am particularly pleased that we can also highlight the scientific work of Ukrainian female researchers, as they are currently forced to work under the conditions caused by the unjustified Russian attack on their country”.

The “Danubius Award” was established in 2011 to honor researchers who have outstandingly dealt with the Danube Region in their academic or artistic work. The prize is granted every year on a rotating basis for achievements in the humanities, cultural and social sciences (2022) or in life sciences and is endowed with € 5,000.

The “Danubius Mid-Career Award” is endowed with € 2,200 and has been awarded since 2017 to researchers who are from 5 to a maximum of 15 years after their last formal scientific degree or have equivalent scientific experience. The prize winners were selected by an independent jury of experts chaired by Univ. Prof. Dr. Stefan M. Newerkla (University of Vienna).

Since 2014, special young talent awards, the “Danubius Young Scientist Awards” have also been awarded. The prize, which is open to all disciplines, highlights the scientific work and talent of young researchers and increases the visibility of the excellence of the research community in the Danube Region. In this way, the prizes also contribute to the fact that young scientists deal with the river and the region in a variety of ways. The young talent prizes are endowed with € 1.350, per award winner. The selection was made by an international jury of experts, whereby the candidates for the award were nominated by their respective scientific institutions. 

Austria  Daniela Apaydin  
Bosnia and Herzegovina  Marko Djukanović  
Croatia  Jelena Kranjec Orlović  
Czech Republic  Adela Grimes  
Germany  Jan Schmitt  
Hungary  Blanka Bartos  
Moldova  Nicolae Arnaut  
Montenegro  Miloš Brajović  
Romania  Mihaela Cudalbeanu 
Serbia  Zorana Miletić  
Slovakia  Tibor Zsigmond  
Slovenia  Žane Temova Rakuša  
Ukraine  Illia Diahovchenko  

Watch the Award ceremony below

»Die Schlacht ist noch lange nicht gewonnen«

Gemeinsam mit seinen Kollegen aus Warschau, Prag und Budapest gründete Bratislavas Bürgermeister Matúš Vallo 2019 den Pakt der Freien Städte – mit dem Ziel, sich anti-demokratischen Tendenzen in der Region entgegenzustellen. Der Ukraine-Krieg zeige, wie falsch Viktor Orbáns illiberale Politik sei, so Vallo im IDM-Interview. DANIELA APAYDIN hat mit ihm über die Veränderungskraft von Städten und ihren Allianzen gesprochen.

Mit einiger Verspätung schaltet sich Matúš Vallo zu unserem Zoom-Call hinzu. Er wirkt geschäftig, entschuldigt sich für die Wartezeit. Interviewanfragen von österreichischen Medien seien eher selten, an internationaler Aufmerksamkeit mangele es aber nicht, heißt es aus dem Pressebüro. Vallo spricht fließend Englisch. Er hat in Rom Architektur studiert, in London gearbeitet und erhielt ein Fulbright-Stipendium an der Columbia University in New York. Als politischer Quereinsteiger wurde er 2018 zum Bürgermeister von Bratislava gewählt. Im Herbst kämpft der 44-Jährige um die Wiederwahl zum Bürgermeister.

Herr Vallo, der US-amerikanische Politikberater Benjamin Barber argumentiert in seinem Buch »If Mayors Ruled the World« (2013), dass BürgermeisterInnen wirksamer auf transnationale Probleme reagieren als nationale Regierungen. Manche sprechen in diesem Zusammenhang von einer »lokalen Wende« des Regierens und Verwaltens. Leisten Städte und BürgermeisterInnen wirklich bessere Arbeit?

Ich kenne das Buch, und ich glaube an dieses Narrativ. Wir haben in den letzten Jahren erlebt, wie Regierungen den Kontakt zu ihrer Basis verloren haben. Als Bürgermeister kann ich diesen Kontakt nicht verlieren, selbst wenn ich das wollte. Alle guten BürgermeisterInnen, die ich kenne, gehen gern durch ihre Stadt und treffen Menschen. Manchmal halten sie dich an und erzählen dir von einem Problem. Als BürgermeisterIn bist du ein Teil der Gemeinschaft. Du kannst nicht nur leere Versprechungen geben. Du musst Ergebnisse vorweisen können. Städte sind auch flexibler und ergebnisorientierter als nationale Regierungen. BürgermeisterInnen sorgen für die Qualität des öffentlichen Raums. So ist zum Beispiel die Anzahl der Spielplätze in einem Bezirk sehr wichtig. Das klingt simpel, aber der öffentliche Raum ist ein Schlüsselelement dafür, wie die Menschen ihr Leben gestalten.

Sie sind einer von vier Bürgermeistern, die den Pakt der Freien Städte (englisch: Pact of free Cities) unterzeichneten. Damit positionierten Sie sich gemeinsam mit Budapest, Prag und Warschau als pro-europäisches und anti-autoritäres Städtebündnis. Mit welchen Absichten sind Sie dieser Allianz damals beigetreten und wie würden Sie deren Erfolge heute bewerten?

Der Pakt wurde als ein Bündnis der VisegradHauptstädte geschlossen, um ein Gegengewicht zu den antidemokratischen und illiberalen Kräften zu bilden. Wir sind durch unsere Werte verbunden. Wir wollen den Populismus bekämpfen, Transparenz fördern und bei gemeinsamen Themen wie der Klimakrise zusammenarbeiten. Natürlich gab es schon vorher Bündnisse zu verschiedenen Themen, aber dies ist vielleicht das erste Mal, dass diese Werte im Mittelpunkt stehen.

Der Pakt der Freien Städte wurde am 16. Dezember 2019 an der Central European University in Budapest unterzeichnet. Wenig später mussten die meisten Abteilungen der Universität aufgrund politischer Repressionen nach Österreich umziehen. Erst kürzlich wurde Viktor Orbáns nationalkonservative Fidesz-Partei wiedergewählt. Ist der von Orbán propagierte Illiberalismus wieder auf dem Vormarsch? Wie reagieren die BürgermeisterInnen des Paktes darauf und wie unterstützen Sie sich gegenseitig?

Der Illiberalismus ist auf dem Vormarsch, einige führende PolitikerInnen konnten zurückschlagen, aber die Schlacht ist noch lange nicht gewonnen. Der jüngste Sieg von Viktor Orbán ist ein Beweis dafür. Wir sehen, dass die illiberale Demokratie bestimmten Gruppen oder einzelnen BürgerInnen Vorteile verschafft. Wir sehen aber auch, dass die Situation in der Tschechischen Republik anders ist und dass in Polen bald Wahlen stattfinden werden. Warschaus Bürgermeister, Rafał Trzaskowski, ist eine große Hoffnung für uns alle. Auch in der Slowakei haben wir eine pro-europäische Regierung und ich freue mich darüber, wie sie die Dinge regelt, um der Ukraine zu helfen. Von dort, wo ich jetzt sitze, sind es nur sechs Autostunden bis zur ukrainischen Grenze. Dieser Krieg zeigt auch, dass Orbán im Unrecht ist. Seine Unterstützung für Russland bedeutet auch die Unterstützung eines Regimes, das unschuldige Menschen tötet. Wo sehen Sie die konkreten Vorteile in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zwischen BürgermeisterInnen und Städten? Da gibt es zwei Ebenen: Erstens geht es darum, miteinander zu reden. Bratislava ist die kleinste Stadt unter den Gründungsmitgliedern. Daher waren wir sehr froh, als wir in den ersten Wochen des Ukraine-Krieges die Bürgermeister von Warschau und Prag um Know-how und Ratschläge bitten konnten. Ich bin nach Warschau geflogen und habe mich mit dem Bürgermeister darüber beraten, wie sich die Stadt darauf vorbereitet. Der Pakt bietet eine sehr konkrete und direkte Möglichkeit, Wissen auszutauschen. Die zweite Ebene ist die Bildung eines Bündnisses von BürgermeisterInnen mit den gleichen Werten, die auch bereit sind, auf europäischer Ebene für diese Werte zu kämpfen. Durch die Pandemieerfahrung ist die Position der Städte noch stärker als zuvor. Ich glaube, dass in vielen Ländern die Städte und ihre BürgermeisterInnen die Situation gut meisterten. Die Menschen nehmen die Städte als ihre Partner wahr. Deshalb ist es wichtig, die Kräfte zu bündeln und mit einer klaren Stimme zu sprechen.

© patri via Unsplash

In Medienberichten wurden die Gründungsmitglieder des Pakts auch als »liberale Inseln in einem illiberalen Ozean« dargestellt. Diese Metapher birgt jedoch die Gefahr, bereits bestehende Gräben zwischen der urbanen, oft liberaler eingestellten, Bevölkerung und konservativeren BürgerInnen in ländlichen Gebieten zu vertiefen.

Ich verwende diese Metapher nie, und ich versuche auch nicht, diese Spaltung vorzunehmen. Ich bin mir über meine Werte im Klaren, aber als Bürgermeister setze ich mich für Dinge ein, die allen zugutekommen, etwa Spielplätze oder bessere öffentliche Verkehrsmittel. Das ist keine Frage von konservativen oder liberalen Werten. Wir haben Prides in Bratislava, aber wir unterstützen auch die OrganisatorInnen eines großen Treffens der christlichen Jugend. Ich arbeite mit konservativen und liberalen KollegInnen zusammen. Ich weiß, dass das schwierig sein kann, aber wir versuchen, die Menschen zu verbinden. Einige PolitikerInnen nutzen die Spaltung aus, weil sie wollen, dass sich die Menschen streiten, aber ich möchte lieber für eine gute Lebensqualität arbeiten.

Wenn Sie sich von der nationalen Regierung etwas wünschen könnten, das die Städte stärken würde, was wäre das?

Unser Verhältnis zur slowakischen Regierung ist nicht ideal. Auch nach COVID sieht man uns nicht als Partner. Wir brauchen klare Regeln und mehr Finanzmittel, denn im Vergleich zu anderen europäischen Städten sind wir sehr unterfinanziert.

 

Interview mit Daniela Apaydin und Matúš Vallo. Matúš Vallo ist ein slowakischer Politiker, Architekt, Stadtaktivist, Musiker und Bürgermeister von Bratislava. 2018 wurde er als unabhängiger Kandidat mit 36,5 Prozent der Stimmen an die Spitze der slowakischen Hauptstadt gewählt. 2021 zeichnete ihn der internationale Thinktank City Mayors mit dem World Mayor Future Award aus.