Keynote: “70 Years IDM – Locating the Future” in Novi Sad

 

Keynote: “70 Years IDM – Locating the Future” in Novi Sad

24 April, 14:50 CEST 

in the framework of the event series  

“70 Years of the IDM – Locating the Future” 

Melanie Jaindl hold a keynote speech at the 10th International Danube Conference on Culture, titled “Culture for All – The Danube as a Cultural Bridge”. In her keynote she stressed the importance of cross-border cooperation in the cultural sector, and why culture must not be neglected in the work of think tanks like the IDM. In this regard, she also presented the latest issue of Info Europa: Kulturführer Mitteleuropa (Culture Guide Central Europe), which annually highlights cultural developments in the region and counts as one of the main publications of the IDM.  

Time and Date: 24 April 2023, 14:50 CET 

Place: Novi Sad, Museum of Vojvodina, Congress Hall 

The Danube Conference on Culture 2023 is organized by: 

  • Museum of Vojvodina
  • Provincial Secretariat for Culture, Public Information and Relations with Religious Communities
  • Provincial Secretariat for Regional Development, Interregional Cooperation and Local Self-Government of AP Vojvodina
  • Ministry of Science, Research and Arts Baden-Württemberg
  • Government of Lower Austria / Working Community of the Danube Regions
  • European Danube Academy
  • Danube Cultural Cluster

The Conference is also supported by: Institut français, SCCNS The Factory

Customized Gods: Die Wiederverzauberung Mittelosteuropas

Von der Kirchenbank ins Yoga-Studio: Der Historiker und Anthropologe ALESSANDRO TESTA erforscht die vielen Gesichter moderner Religiosität. Wie säkular ist Mittelosteuropa heute tatsächlich? Wo suchen die Menschen nach Sinn? Einblicke in den Trend zum Glauben nach Maß.

Eines hatten die Gesellschaften Mittelosteuropas in den Jahren vor 1989 gemeinsam: den Mangel an religiösen Ausdrucksformen im öffentlichen Raum. Ganz im Gegensatz zum Beginn des Jahrhunderts, als noch häufig religiöse Zeremonien stattfanden und die Kirchen voll waren. Die Gründe für diese Veränderungen lagen in der generellen Säkularisierung sowie im Versuch der kommunistischen Regime den Staatsatheismus durchzusetzen. Dabei kam es über die Jahrzehnte zu einer konstruierten Säkularisierung. Der staatliche Atheismus war allerdings nie eine »spontane«, volksnahe Umsetzung der von Karl Marx oder Vladimir Lenin postulierten Thesen. Denn tief im Inneren blieben die Massen auch unter der kommunistischen Führung überwiegend religiös, insbesondere in Ländern wie Polen, Ungarn oder Jugoslawien.

Religiöse Wiederbelebung?

Heute beobachten wir in der Region eine große Vielfalt an religiösen und spirituellen Praktiken: Dazu zählen etwa Formen der Volksmagie im ländlichen Ostböhmen, die Hingabe der Prager*innen zum Wiederaufbau der katholischen Mariensäule inmitten der Altstadt, oder die heidnische Wiederbelebung in Ungarn und ihre Nähe zum Neonationalismus. In der Slowakei und in Tschechien finden der Buddhismus und Yoga-Praktiken viel Anklang, besonders unter Unternehmer*innen. Und in Polen ist der Katholizismus nach wie vor sehr präsent, was zu Protesten gegen den kirchlichen Einfluss auf die Politik führt. Seit der Wende werden in Rumänien vermehrt orthodoxe Tempel gebaut, während in Tschechien sogenannte »Pseudoreligionen« oder »Parodiereligionen« aufkommen, darunter die »Kirche des Bieres« oder der »Pastafarianismus«. Manchmal entstehen auch »erfundene Religionen«, die auf populärkulturellen Massenprodukten wie Filmen basieren. Dazu zählt der »Jediismus« und der »Matrixismus«, die beide besonders in Tschechien erfolgreich sind.

Doch was steckt hinter dieser religiösen Wiederbelebung in post-sozialistischen Ländern? Welche Formen der Spiritualität haben sich seit 1989 herausgebildet? Diese »postsozialistischen Religionsfragen« beschäftigen die Forschung seit mehr als zwei Jahrzehnten. Zwischen 2020 und 2022 leitete ich ein ERC CZ-Forschungsprojekt, das die Entstehung und das Wiederauftauchen inoffizieller und alternativer religiöser Phänomene in den postkommunistischen Ländern Mittelosteuropas untersuchte. Dabei legten wir den Fokus auf interdisziplinäre Methoden und neue Ansätze. Mein Team und ich lernten die Menschen hinter der »Wiederverzauberung« kennen, beobachteten ihre Rituale und sprachen mit ihnen über ihre Überzeugungen. So habe ich zum Beispiel eine Reihe älterer Frauen und Männer interviewt, die an der Prager Mariensäule beteten, und traf mehrere junge Männer, die in Hlinsko die Masopust-Prozession (Fasching) organisierten.

Maßgeschneiderter Glaube

Einige der genannten Beispiele deuten auf eine spirituelle Wiederbelebung hin. Andere wiederum auf einen allgemeinen Trend zur Abnahme der Religiosität in post-säkularen Gesellschaften. Doch unabhängig davon, aus welchem Blickwinkel wir diese Phänomene betrachten, lassen sie einen tiefgreifenden Wandel in Mittelosteuropa nach dem Fall des Kommunismus erkennen. Die Religionsfreiheit, die Demokratie und die darauffolgende neoliberale Politik haben das religiöse Leben beeinflusst. Gleichzeitig führten die digitale Revolution und die Konsumkultur zur Erosion traditioneller, gemeinschaftsorientierter, kirchlicher Formen des Glaubens. Infolgedessen beschleunigte sich die Individualisierung der Religion, zum Beispiel durch Formen ritueller Kreativität, die von den Praktizierenden »maßgeschneidert« werden, um ihre eigenen religiösen Bedürfnisse außerhalb eines dogmatischen oder gemeinschaftlichen Rahmens zu befriedigen. Symptomatisch dafür ist der Trend zum Neo-Schamanismus und Neo-Heidentum. Die Individualisierung ist vielleicht der sichtbarste und am tiefsten verwurzelte Aspekt im religiösen Leben des gesamten Westens.

Religiös, aber anders

Jahrzehntelang postulierte die Religionssoziologie und -anthropologie Max Webers Theorie der »Entzauberung der Welt«, also den Niedergang der Religion in der modernen Welt. Doch im Gegenteil dazu beobachten wir in Industriegesellschaften in den letzten Jahrzehnten eher einen komplexen, vielschichtigen Wandel der religiösen Gefühle, Überzeugungen und Praktiken. Es entstanden mehrere Theorien, darunter die der »Wiederverzauberung«, um die steigende Bedeutung von Religion in Europa zu erklären. Statt auf der Idee der Säkularisierung zu beharren, ziehen es viele Wissenschaftler*innen vor, den gegenwärtigen Zeitgeist in der Welt als eine globalisierte »Postsäkularität« zu charakterisieren: eine Zeit, die nicht weniger religiös, sondern vielmehr anders religiös ist.

»Wiederverzauberung« scheint ein geeignetes Konzept zu sein, um die Veränderungsprozesse seit 1989 zu charakterisieren. Es verweist auf die kulturelle Praktik, ein Objekt, eine Handlung, eine Darstellung oder eine Beziehung mit einer magischen, spirituellen, transzendenten oder unheimlichen Dimension aufzuladen. Es scheint, dass immer mehr jüngere Mittelosteuropäer*innen einen Drang nach religiöser Besänftigung verspüren, nach mehr als nur materiellen existenziellen Antworten und nach Selbstbesinnung. Manchmal spielen sie auch nur mit religiösen oder religionsähnlichen Symbolen, denn die Macht der Religion, der Magie und anderer verzauberter Wirklichkeiten findet sich heute nicht nur in den üblichen Ritualen oder Kontexten, sondern hat sich auch auf Gegenstände, Gefühle und Lebensstile sowie auf die Popkultur übertragen. Viele greifen heute auf diese wiederverzauberten Darstellungen und Praktiken zurück, weil diese Phänomene sinnstiftend sind. Sie sind auf dem »religiösen Markt« erhältlich und leicht auf die Bedürfnisse des spätmodernen Individuums anzuwenden.

 

Alessandro Testa hat in Italien und Frankreich studiert und war Lise-MeitnerPostdoc an der Universität Wien. Aktuell ist er Professor an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Karlsuniversität in Prag.

 

Euphorie aus der Dose

Die Straßen bis zum Stadion sind voll mit ihnen: Graffitis, die Loyalität zu lokalen Fußballklubs ausdrücken. In ihrem Text beschreibt MELANIE JAINDL die Euphorie, die ihre Schöpfer*innen bewegt und erklärt, welche Konflikte sich hinter den Wandbildern von Ljubljana bis nach Skopje verbergen.

Was, wenn Wände sprechen könnten? Welche Geschichten würden sie uns wohl erzählen? Es ist ein spannendes Gedankenexperiment, oft aufgegriffen in Musik und Literatur. Doch was, wenn ich Ihnen sage, dass sie das schon die ganze Zeit tun? Die Wände einer Stadt machen sich zwar nicht mit Lauten bemerkbar, doch aufmerksamen Passant*innen verraten sie vieles über die Menschen, die tagtäglich an ihnen vorüberziehen.

Nacht und Nebel

Sticker, Schablonenmuster und Tags, aber auch große Graffiti-Pieces mit künstlerischem Charakter – für viele zeugen sie bloß von Vandalismus, für den slowenischen Kulturwissenschafter Mitja Velikonja sind es allerdings subkulturelle Ausdrucksformen von politischem Dissens und Zugehörigkeit. Seit über 20 Jahren erforscht er ihre kulturelle und politische Bedeutung: »Sie erfüllen eine kritische öffentliche Funktion, indem sie ästhetische Harmonie zerstö ren.« Vor allem Fußballfan-Graffitis sind in europäischen Städten nicht zu übersehen. Die Anhänger*innen lokaler Vereine tragen den Anspruch auf »ihre« Stadt öffentlich aus. Markiert ein konkurrierender Verein ihr Territorium, wird das Graffiti in kürzester Zeit gecrosst (Szenebegriff für übermalen/durchkreuzen). Diese »Graffiti-Kriege« werden vorzugsweise nachts ausgetragen, im Schutz der Dunkelheit vor polizeilichen Konsequenzen und Rival*innen.

Alle für einen

In Europa zählt Fußball zu einem nahezu unantastbaren Kulturgut. Betrachtete Karl Marx noch Religion als »Opium des Volkes«, schreibt der links-anarchistische Autor Gabriel Kuhn dem Fußball diese Bezeichnung zu. Auf dem Spielfeld treten Arbeiter*innen gegen Arbeiter*innen an – das lenkt vom Klassenkampf ab. Gleichzeitig waren es vor allem Arbeiter*innen, die den Fußball professionalisierten, denn vielen blieb keine Zeit, ihn als reines Hobby zu verfolgen. Immerhin mussten sie Geld verdienen. Heute können nur wenige vom Fußballspielen leben, allerdings schafft nun die daran anknüpfende Industrie Arbeitsplätze, und noch mehr Profit. Die immense Kommerzialisierung wurde von den oberen Schichten im Westen vorangetrieben. Maskuliner Körperkult gepaart mit Masseneuphorie im Stadion und bei Public-Viewing-Veranstaltungen, dazu eine Prise Lokalpatriotismus und voilà: Geboren wurde ein Kulturphänomen, ebenso banal wie auch politisch.

Doch eine Mannschaft ist nichts ohne ihre Fans. In seinen Büchern über Fußballfan-Graffiti unterscheidet Velikonja drei Gruppen: die normalen, unorganisierten Fans, radikalere Ultras und schließlich die gewaltbereiten Hooligans. Obwohl gelegentliche Ausschreitungen bei Spielen überall vorkommen, erlangen sie in den Communitys der jugoslawischen Nachfolgestaaten immer wieder traurige Berühmtheit. Die bis heute bestehenden ethnischen Spannungen, die während der Kriege in den 1990er Jahren ihren Höhepunkt erreichten, entladen sich oft beim Aufeinandertreffen rivalisierender Fangemeinden. Die Ekstase der Fans wandelt sich dann zum Blutrausch. Einer dieser Kämpfe machte sogar Geschichte.

Das Spiel, das niemals stattfand

Am 13. Mai 1990 traf das Team Roter Stern Belgrad im Zagreber Maksimir-Stadion auf das kroatische Heimteam Dinamo. Bis heute zählen die beiden Teams zu den beliebtesten Mannschaften in der Region. Mit dabei sind auch ihre Ultras, die kroatischen Bad Blue Boys und die serbischen Delije. Bereits tagsüber kam es zwischen ihnen zu Schlägereien in der Stadt. Als Delije-Anhänger*innen vor Anpfiff die Tribüne demolierten, stürmten die Bad Blue Boys das Spielfeld und lieferten sich ein Gefecht mit der jugoslawischen Polizei, rund 150 Personen wurden verletzt. Der gesamte Gewaltexzess wurde live im Fernsehen ausgestrahlt. Bis heute stilisieren die Bad Blue Boys diesen Tag als den wahren Kriegsbeginn. Tatsächlich marschierten viele der Ultras aus den jugoslawischen Republiken kurz darauf an vorderster Kriegsfront und gründeten Paramilizen. Heute weist eine Gedenktafel am Maksimir-Stadion auf den Vorfall vor über 30 Jahren hin.

Wettbewerb abseits des Stadions

Verglichen mit diesen Gewaltausbrüchen wirkt das Crossen von Gegner*innengraffiti und der damit verbundene Adrenalinkick wie ein Kavaliersdelikt. In seinen Gesprächen mit slowenischen Ultras stellte Velikonja fest, dass sich die Fans von verbreiteten Vorurteilen abgrenzen wollen. So zum Beispiel von ihrer vermeintlichen Einbindung ins organisierte Verbrechen, die zumindest teilweise bei den Fanclubs der südlichen Nachbar*innen besteht. Das heißt allerdings nicht, dass die slowenischen Ultras weniger radikal oder nationalistisch sind.

»Die Fans beteuerten oft, dass sie gegnerische Fans nicht als Feinde, sondern als Konkurrent*innen sehen. Sie teilen ihren Lebensstil und ihre Werte«, schreibt Velikonja. So verabreden sich Hooligans manchmal im Vorfeld von Spielen zu Schlägereien – quasi als Wettbewerb außerhalb des Spielfeldes. Das Vorurteil, sie alle seien politisch rechts, treffe laut Velikonja nicht zu: »Scheinbar mühelos verbinden sie politische Extreme in ihrer Fankunst, auch wenn der Großteil trotzdem eher rechts ist.« Eine bedeutende Minderheit ist aber auch links und tritt gegen Homo- und Transphobie ein. Sie alle verbindet eine Form des Lokalpatriotismus und die Ablehnung der Überkommerzialisierung von Fußball durch die FIFA und UEFA. »Fußball kann man nicht vom Sofa aus schauen«, erklärte ein slowenischer Ultra im Interview mit Velikonja. Ihre wahren Feinde seien vielmehr die Medien, die Polizei und gewisse Klubmanager*innen.

Diese Zu- und Abneigungen spiegeln sich an den Wänden wider. Graffiti ist eine Vereinnahmung des öffentlichen Raums, der wie auch der Fußball immer stärker kommerzialisiert wird. Über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten, doch ein genauer Blick auf die Schriften und Bilder an städtischen Außenwänden lohnt sich. Sie werden vieles über die Menschen, die dahinter leben, erfahren.

 

Melanie Jaindl ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am IDM. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen den Westbalkan, Migration und Asyl, intersektionaler Feminismus und soziale (Un-)Gerechtigkeit.

Warum suchen wir den Rausch, Herr Kastenbutt?

URKHARD KASTENBUTT leitet das Institut für Sucht- und Gesundheitsforschung in Osnabrück. Im IDM-Interview mit DANIELA APAYDIN spricht er über die Veränderungen im Umgang mit Rauschmitteln und das Spannungsfeld zwischen Kultur, Kontrolle und Konsum von Drogen.

Wir führen dieses Interview mitten im Fasching, einer traditionell rauschhaften Zeit. Wie stehen Sie als Sozial- und Suchtforscher zu dieser Tradition?

Ich halte Feste, die sich vom profanen Alltag abgrenzen, für wichtig. Sie vertreten eine Körperlichkeit, die gerade in unserer virtuellen Welt an Bedeutung verliert und auf digitale Weise nicht hergestellt werden kann. Außerdem setzen sie Formen sozialer Kontrolle für einen gewissen Zeitraum außer Kraft. Die Soziologie spricht von einer rauschhaften Vergemeinschaftung. Diese Ausnahmezustände gefährden nicht die gesellschaftliche Ordnung, sondern bestätigen im Endeffekt nur ihre Notwendigkeit.

Viele nehmen solche Feste aber auch zum Anlass, sich grenzenlos zu betrinken.

In den letzten Jahren gibt es in einigen europäischen Ländern etliche Bemühungen, wieder zu den ursprünglichen Karnevals- oder Fastnachtsfeiern zurückzukehren – weg vom übermäßigen Alkoholkonsum und hin zu mehr Familienfreundlichkeit. Dabei ist gegen einen leichten Rausch nichts zu sagen. Vielmehr geht es um die selbstkritische Wahrnehmung des persönlichen Trinkverhaltens, also der Frage, ob ich solche Feste nicht lieber bewusst erleben will.

Sehen Sie im Rausch ein menschliches Grundbedürfnis?

Ja, der Konsum von psychoaktiven Substanzen und das Erlebnis des Rausches lassen sich in vielen Ländern der Welt als kulturelle Phänomene beobachten. Schon bei den Griech*innen und Römer*innen spielte der Konsum von Wein eine bedeutende Rolle, um im Rausch den Gottheiten näher zu sein. Von den eurasischen Reitervölkern, den Skythen, ist bekannt, dass sie sich durch das Erhitzen von Hanf in ihren Dampfbädern berauschten. Der Rausch spielte also schon lange eine bedeutende Rolle, um den Anforderungen und Belastungen des Alltags zeitweise zu entfliehen und in eine andere Erlebniswelt einzutauchen.

Gehen Gesellschaften – global gesehen – unterschiedlich mit den Erfahrungen von Ekstase um? Welche Rolle spielt etwa das Christentum in unserem Umgang mit Alkohol? Immerhin hat schon Jesus Wasser zu Wein verwandelt.

Der Alkohol war bereits lange vor Christus ein Symbol zahlreicher Mythologien und Religionen. Vor ca. 8000 Jahren wurde in Mesopotamien, auf dem heutigen Gebiet um den Irak und Syrien, Wein angebaut. So gesehen ist der Alkohol nicht allein Folge des christlichen Erbes. Er ist aber seit Jahrhunderten die bevorzugte
Droge im sogenannten christlichen Abendland. Über die kulturellen und sozialen Kontexte von Rausch und Ekstase liegen leider nicht viele Studien vor. Die meisten orientieren sich an medizinischen Aspekten. Es gibt in der Suchtforschung also reichlich Nachholbedarf, vor allem was die soziologischen Aspekte in Ostmittel- und Südosteuropa angeht.

Kann und muss der Staat den Rausch kontrollieren?

Das Bedürfnis nach rauschhaftem Erleben lässt sich nicht verbieten. Versuche, die Menschen daran zu hindern, sind vielfach gescheitert. Denken wir etwa an die Alkohol-Prohibition zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA. Daraufhin produzierten und verkauften die Menschen Alkohol illegal, was mit etlichen sozialen und gesundheitlichen Problemen einherging. Staatliche Kontrollen können also äußerst kontraproduktiv sein. Zwar gibt es heute gesetzliche Normen, was den Konsum bestimmter Drogen anbelangt, nur greift der Staat nicht direkt in die Freiheitsrechte ein.

Ist das so? Immerhin wird der Umgang mit gewissen Drogen mit Freiheitsstrafen geahndet, während wiederum andere wie Alkohol erlaubt sind.

Der Konsum gewisser Drogen allein ist in vielen europäischen Ländern rein rechtlich nicht strafbar. Dagegen sind aber alle Tätigkeiten rund um den Gebrauch solcher Substanzen strafbar, wozu der Besitz, der Anbau, die Herstellung, der Erwerb und der Handel gehören.

Was kann ich mir unter Rauschkompetenz vorstellen?

Moderne Gesellschaften haben heute eine lockere Einstellung gegenüber dem Rausch, etwa in Bezug auf Alkohol oder Cannabis. Das war aber nicht immer so. Während die Menschen im Mittelalter den Rausch für einen selbstverständlichen Bewusstseinszustand hielten, hat sich das im Übergang zur Neuzeit verändert. Die Menschen entwickelten Schamgefühle und Moralvorstellungen gegenüber ihrem Trinkverhalten. Der Zwang zur Kontrolle von Affekten stand dabei im Mittelpunkt des Geschehens. Auch heute steht die Selbstkontrolle im Vordergrund, aber eben in einem anderen Zusammenhang, der weniger auf Moral, sondern auf einem reflektierten Umgang mit Substanzen beruht.

Das heißt, die Verantwortung für einen gemäßigten Umgang mit Rauschmitteln liegt beim Individuum?

Genau, jedoch verfügen nicht alle Menschen über solche Kompetenzen. Dies wird deutlich, wenn man sich mit dem Missbrauch von Alkohol und seinen Risiken beschäftigt. So betreibt ein relativ großer Teil der Bevölkerung innerhalb der EU einen gesundheitsriskanten Alkoholkonsum, auch wenn ein solches Verhalten noch nicht auf eine Suchtmittelabhängigkeit hindeutet. In Deutschland konsumieren rund 7,9 Millionen Menschen Alkohol in gesundheitsriskanter Form. 1,6 Millionen Deutsche gelten als alkoholabhängig und sind behandlungsbedürftig.

Sie sind schon seit den 1980er Jahren in der Bildungsarbeit tätig. Ändert sich denn der Umgang mit Drogen von Generation zu Generation?

Jugendliche beginnen meistens mit dem sogenannten Probierkonsum von Tabak und Alkohol, der mit Neugier und Experimentierdrang verbunden ist. Die meisten hören aber auch bald wieder auf oder konsumieren kontrolliert. Besorgniserregender ist das relativ junge Phänomen des »Koma-Saufens«, da solch ein Verhalten zu lebensbedrohlichen Alkoholvergiftungen führen kann. Alkoholkonsum findet auch immer jünger statt. So macht bereits die Hälfte der 12-Jährigen in Deutschland erste Erfahrungen mit Alkohol. Auch der Mehrfachkonsum von Drogen ist ein wachsendes Problem unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Manchen reicht der Konsum einer Substanz nicht mehr aus, um den gewünschten Kick zu erzeugen. Der parallele und zeitnahe Gebrauch unterschiedlicher psychoaktiver Substanzen ist äußerst gesundheitsschädlich.

Haben sich auch die Auslöser für den Drogenkonsum verändert?

Noch vor gut vierzig Jahren spielten autoritäre Formen der Erziehung sowie Minderwertigkeitsgefühle eine große Rolle für Suchtentwicklung. Durch den Verlust traditioneller Normen und Werte fehlt heute dagegen vielen Jüngeren die Orientierung. Ist die ältere Generation der Drogenkonsument*innen in einem zu engen »seelischen Korsett« aufgewachsen, sind heutige Jugendliche schon früh auf sich allein gestellt. Bei der jüngeren Generation der Suchtkranken geht es vor allem um Probleme der sozialen Integration und Bindung. Hinzu kommen Belastungen in der Schule, am Arbeitsplatz oder in den sozialen Netzwerken, was bei vielen Betroffenen mit Zukunftsängsten einhergeht. Zusammen schürt das Frustrationen und Gefühle der Hilflosigkeit, das ist vollkommen anders als in früheren Generationen. Der österreichische Neurologe und Psychiater Viktor E. Frankl bezeichnete ein solches Lebensgefühl als »existentielles Vakuum«. Und gerade in der jungen Generation der Suchtkranken haben Sinnlosigkeits- und Entmutigungsgefühle zugenommen, wobei sich viele von ihnen nach einer authentischen und intakten Gemeinschaft sehnen, die sie vielfach in ihrem sozialen Umfeld nicht gefunden haben.

Wo sollte die Suchtprävention künftig stärker ansetzen?

Jugendliche sollten dabei unterstützt werden, ihre Identität stabil und positiv entwickeln zu können. Dabei geht es etwa um die Förderung der individuellen Konfliktfähigkeit, damit junge Menschen im Umgang mit Drogen kritischer und damit widerstandsfähiger werden. Eine solche Prävention sollte nach Möglichkeit schon im Elternhaus beginnen und sich in der Schule fortsetzen, wobei auch Jugendkultureinrichtungen in die Prävention miteinzubeziehen sind. Auf diesem Gebiet muss noch viel mehr geschehen.

Wie stehen Sie angesichts dieser Herausforderungen zur Entkriminalisierung von Cannabis?

Als Suchtforscher begrüße ich es, dass der geringfügige Besitz von Cannabis in Deutschland nicht mehr unter Strafe gestellt werden soll. Man sollte die Begriffe Entkriminalisierung und Legalisierung aber nicht gleichsetzen. Auch wenn Cannabis entkriminalisiert wird, sind die Produktion und der Vertrieb von Cannabis immer noch illegal. Auch stellen der Besitz und der Konsum der Droge in Deutschland weiterhin eine Ordnungswidrigkeit dar. Es kann also zu Geldbußen kommen. Bei einer Legalisierung würde es legale Optionen geben, Cannabis käuflich zu erwerben, es zu besitzen und zu konsumieren. Das muss aber noch gesetzlich geregelt werden.

 

Dr. phil. Burkhard Kastenbutt ist Erziehungs- und Sozialwissenschaftler und leitet das Institut für Sucht- und Gesundheitsforschung in Osnabrück. Zusätzlich zu seiner langjährigen Bildungsarbeit in und mit Suchtselbsthilfegruppen ist er als Dozent am Fachbereich Kultur- und Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück tätig.

Daniela Apaydin ist Historikerin und Chefredakteurin des Themenhefts Info Europa des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM).

Die endlose Flucht vor der Realität von Jerzy Afanasjew

Der Krieg gegen Drogen gleicht einem ewigen Katz- und Mausspiel: Sobald eine Substanz verboten wird, kommt schon eine neue auf den Markt. In seinem Gastbeitrag zeigt der Aktivist JERZY AFANASJEW die Vielfalt des europäischen Drogenmarktes auf und fordert bessere Behandlung statt Bestrafung.

In einem verlassenen Bunker außerhalb der belarussischen Hauptstadt Minsk tanzen sich rund ein Dutzend Jugendaktivist*innen den Schweiß von der Stirn. Auf der Wand ist ein Graffiti mit der Aufschrift »PLUR« – Peace, Love, Unity, Respect. Es ist das Rave-Äquivalent zu den Zehn Geboten. Inmitten von Partylicht und Rauch taucht plötzlich ein Kommando der SOBR auf, eine Spezialeinheit der belarussischen Polizei. Sie kommt in voller Montur und mit Drogenspürhunden. So schildert Piotr Markielau diesen Freitagabend im Jahr 2018. Zusammen mit Freund*innen gründete er Legalize Belarus, eine lokale Organisation zur Reform der Drogenpolitik im Land. Die Polizei fand an diesem Abend keine Drogen. Vielmehr bewerteten Markielau und andere die Razzia als Versuch, pro-demokratische Aktivist*innen einzuschüchtern.

Anfang der 2010er Jahre wurden die sogenannten »Legal Highs« zu einem weit verbreiteten Phänomen. Dabei handelt es sich um synthetische Substanzen, die die Wirkung illegaler Drogen nachahmen sollen. Sie werden oft als Badesalze, Lufterfrischer oder Reinigungsmittel verkauft. Da die Substanzen meist nicht in Betäubungsmittelgesetzen erwähnt werden, sind sie zwar nicht illegal, aber deswegen kaum weniger gefährlich. Als Antwort auf ihre Verbreitung in Belarus errichtete der Diktator Aljaksandr Lukaschenka neue Arbeitslager und prahlte in einer Fernsehansprache damit, dass die Inhaftierten »darum beten werden, zu sterben«. Familienangehörige bezeichnen sie »Vernichtungsanstalten«. 2020 waren mehr als 12,000 Menschen in ihnen inhaftiert, die meisten wegen geringfügigen Drogenbesitzes, Artikel 328. Das geben zumindest ihre Mütter an, die sich in der Bewegung Mütter 328 zusammenschlossen. Die Strafen sind brutal, schon eine kleine Menge Marihuana kann zu neun Jahren Gefängnis führen. Jugendliche im Alter von 14 Jahren werden zu acht Jahren in Strafkolonien verurteilt, junge Erwachsene zu zehn Jahren oder mehr. Eigentlich dürften nur Dealer*innen strafrechtlich verfolgt werden. Doch wenn zwei Freund*innen beim Rauchen eines Spliffs erwischt werden, wird eine*r von ihnen wegen Beschaffung angeklagt.

Florierender Schwarzmarkt

Was das Regime dabei zu vergessen scheint: Es ist gerade die autoritäre Politik in Belarus, die junge Menschen zu illegalen Drogen greifen lässt, insbesondere Marihuana und neuartige Aufputschmittel. In der selbsternannten letzten Diktatur Europas »greifen die Leute zu Drogen, um der Realität zu entkommen«, sagt Markielau. »Die Situation in Belarus ist schrecklich, das Regime lässt sich mit dem Stalinismus vergleichen. Die Menschen sind deprimiert und die Gehälter sind niedrig. Alles ist grau, und immer mehr gehen weg.« Die klassischen Dealer*innen gibt es in Belarus aufgrund des Polizeistaates nicht wirklich, aber der Schwarzmarkt findet seine Wege. Einfache, dennoch hochtechnologische, verschlüsselte Nachrichten-Apps oder DarknetMarktplätze sind beliebte Hilfsmittel. Der Drogenhandel erfolgt durch die Weitergabe von Koordinaten für geheime Verstecke. Die Ware wird meistens vergraben und mit einem Magneten versehen.

Markielau zufolge wurde Legalize Belarus nicht dazu gegründet, eine Cannabisindustrie aufzubauen. Vielmehr verstehen die Aktivist*innen darunter eine Menschenrechtsplattform zur Unterstützung von stigmatisierten, gewaltlosen Gefangenen. Nachdem er selbst mehrfach bei demokratischen Protesten verhaftet wurde, etwa weil er ein Protestschild fotografierte, traf Markielau eine für ihn schwierige Entscheidung und ging ins Ausland – so wie 200.000 seiner Landsleute in den letzten zwei Jahren. Laut ihm würden viele von ihnen Cannabis oder andere Drogen nehmen, denn sie konnten zwar der Diktatur entkommen, doch nicht ihren Lastern. Isoliert in fremden Ländern und ohne Unterstützungsnetzwerke falle es vielen schwer, von psychoaktiven Substanzen loszukommen. »Jede Droge hat unterschiedliche Wirkungen und Nebenwirkungen. Bier trinke ich manchmal aus sozialen Gründen. Cannabis hilft mir, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren und macht mich weniger ängstlich. Hin und wieder nehme ich LSD. Und ein- bis zweimal im Jahr nehme ich Ketamin zur Behandlung von Depressionen«, erklärt Markielau die Gründe seines Konsums.

Not macht erfinderisch

Europas Drogenmarkt wächst. Allein in den vergangenen 25 Jahren wurden nach Angaben der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD) 880 völlig neue psychoaktive Substanzen festgestellt. Es überrascht nicht, dass das Verbot gewisser Drogen nicht zu den gewünschten Ergebnissen führte – denn jedes Jahr werden neue Verbindungen entwickelt und auf den Markt gebracht. Meist in China synthetisiert und daraufhin trotz Fehlens wissenschaftlicher Daten konsumiert, scheinen die neuen Psychoaktiva symptomatisch für den unwiderstehlichen Drang zu sein, andere Bewusstseinszustände zu erleben. Auch nach mehreren Wellen der Kriminalisierung gibt es noch immer einen beträchtlichen Online-Markt für Legal Highs.

Zuerst kamen die extrem starken und gefährlichen »Analoga« von TH C, dem Hauptwirkstoff von Marihuana. Gleichzeitig erschienen Aufputschmittel wie Mephedron. Weniger populär, aber ebenfalls bekannt sind verschiedene Alternativen zu Psychedelika und Dissoziativa. Als die Gesetze verschärft wurden, strömten immer neue Ersatzstoffe aus asiatischen Fabriken auf den Markt, was an ein Katz- und Mausspiel zwischen Herstellern und Regulierungsbehörden erinnert Im Laufe der Jahre orientierten sich die Hersteller von Legal Highs weniger an Partygeher*innen und konzentrierten sich dafür mehr auf Depressiva (»Downer«) wie Xanax oder sogar Heroinalternativen. Für den niederländischen Aktivisten der Gruppe Stichting Legalize! Carl-Cyril Dreue besteht die Attraktivität von Legal Highs in der Kombination von einem einfachen Zugang wie im Supermarkt und dem Vertrauen in die Qualität. »Natürlich ist es nicht dasselbe wie illegales Zeug, aber es ist auch in Ordnung.«

Denn wenn Ärzt*innen nicht bereit seien, ein Rezept auszustellen (in der Regel aus gutem Grund), greifen manche Menschen zur Selbstmedikation: Dissoziativa gegen Depressionen, Stimulanzien gegen ADHS, oder Benzodiazepine gegen Angstzustände. »Menschen nehmen Drogen aus einem bestimmten Grund. Wenn man leidet, möchte man, dass der Schmerz verschwindet. Offensichtlich gibt es viel Leid.« Als Dreue etwa vor Jahren »einen Scheißjob in Amsterdam« hatte, nahm er »Benzos«, um ihn zu vergessen. Glücklicherweise bemerkte er, dass er damit nur die Symptome, aber nicht ihre Ursache behandelte. Kurz darauf wechselte er seinen Job. Nicht zuletzt ist auch Spaß ein wichtiger Grund Legal Highs zu konsumieren. Wenn jemand nicht an Substanzen wie MDMA herankommt, ist der Anreiz zum Experimentieren groß. Manche suchen auch Alternativen zum teuren Alkohol.

Zurück zu fremden Wurzeln

Andere suchen nach Erfahrungen, die in der traditionellen Pflanzenmedizin verwurzelt und meist in Südamerika beheimatet sind. Am bekanntesten sind die geistig und körperlich »reinigenden« Ayahuasca-Zeremonien, bei denen die Teilnehmenden ein starkes, psychedelisches Gebräu trinken. Maciej Lorenc, ein polnischer Soziologe, Übersetzer und Schriftsteller, wollte eine derartige Zeremonie mit eigenen Augen sehen und nahm an einem »spirituellen Retreat« teil: »Weiße Menschen verkleiden sich als Indigene. Sie halten sich nicht streng an die Regeln der Ayahuasca-Rituale. Es ist eine Art New-AgePuzzle, man hört von Reinkarnation, Kristallen, Astrologie. Verschiedene religiöse und spirituelle Traditionen werden miteinander vermischt.«Seinen Beobachtungen zufolge kann man die Zeremonien keiner bestimmten Gruppe zuschreiben. Es kann sein, dass dort Prominente neben Arbeiter*innen liegen, die einzige Bedingung ist die Zahlung von 100–500 Euro.

Der Innovationsfaktor solcher Zeremonien hat nachgelassen, sodass mittlerweile ein ganzes Trippy-Buffet für Liebhaber*innen von indigenen psychedelischen Köstlichkeiten entstanden ist: Changa (rauchbar), Yopo (schnupfbar), Sassafras (natürliche Vorstufe zu MDMA/ »Ecstasy«) und sogar extrem überteuerter Kakao (mit angeblich energetisierender Wirkung). Der Global Drug Survey zufolge sind die Hauptgründe für das Experimentieren mit Psychedelika Wellness, psychische Gesundheit und persönliche Herausforderungen.

Behandlung statt Bestrafung

In den letzten Jahren hat sich eine sogenannte »psychedelische Renaissance« entwickelt, insbesondere seit 2019, als das Imperial College im Vereinigten Königreich und die Johns Hopkins University in den Vereinigten Staaten spezialisierte wissenschaftliche Zentren zur medizinischen Erforschung der Substanzen gründeten. Studien zeigen, dass die psychedelisch unterstützte Psychotherapie beeindruckende Ergebnisse erzielt, etwa bei der Behandlung von Posttraumatischen Belastungsstörungen mit MDMA und klinisch resistenter Depressionen mit Ketamin oder Psilocybin. In Europa und den USA ist Ketamin bereits für psychiatrische Zwecke erhältlich, MDMA wird voraussichtlich 2024 und der Wirkstoff Psilocybin aus Zauberpilzen gegen 2026 legal zugänglich sein.

Um nachhaltige Ergebnisse zu erzielen, arbeiten Wissenschafter*innen an der Erstellung von Sicherheits- und Wirksamkeitsprotokollen für diese Pharmakotherapien. Dazu gehören auch ausführliche Sitzungen zur Vor- und Nachbereitung sowie eine ganztägige Behandlungsbetreuung. Selbst die besten Ergebnisse sind schwer aufrechtzuerhalten, da die Patient*innen unweigerlich in ihr alltägliches Umfeld zurückkehren und einen Rückfall erleiden können. Nichtsdestotrotz »ist der medizinische Weg wahrscheinlich wirksamer und sicherer als der illegale«, so der Soziologe Lorenc.

Nach über 50 Jahren Krieg gegen die Drogen verlieren immer noch viele ihre Freiheit wegen ihres Konsums. Und das nicht ohne Grund: Trotz der ernsten Risiken von Sucht, Überdosierung oder Inhaftierung können Drogen vorübergehend menschliche Bedürfnisse wie Selbstmedikation, Realitätsflucht oder Experimentieren befriedigen. Ein neuer Ansatz ist längst überfällig. Es ist verrückt, dieselben Fehler immer zu wiederholen und ein anderes Ergebnis zu erwarten. Psychoaktive Substanzen werden niemals verschwinden. Sie sind in unserer Natur verankert. Ein Motto des spanischen Analyselabors für Substanzen Energy Control besagt: Drogen sind wie Energie. Sie können nicht zerstört, sondern nur kontrolliert werden. Die Gesellschaft muss den Schwerpunkt verlagern – weg von der Bestrafung der Konsument*innen hin zu mehr Aufklärung, Behandlung und Tests zur Drogensicherheit. Wenn Milliarden von Menschen damit einverstanden sind, sich ein COVID-Abstrichstäbchen in die Nase stecken zu lassen, können wir sicher auch solche Herausforderungen in Angriff nehmen.

 

Jerzy Afanasjew ist Aktivist und setzt sich seit Jahren für mehr Aufklärung im Umgang mit Drogen ein. Er studierte am Institut für Angewandte Sozialwissenschaften der Universität Warschau und arbeitete u.a. zu Fragen psychoaktiver Substanzen bei der Social Drug Policy Initiative in Polen. Er stellt Tests zur Überprüfung der Zusammensetzung und Sicherheit von Substanzen her und gibt Kurse zum Thema.

Barfuß über glühende Kohlen

Der Anthropologe DIMITRIS XYGALATAS erforscht ekstatische Zeremonien auf der ganzen Welt. In Nordgriechenland traf er auf eine Gemeinde der Anastenaria, die das Ritual des Feuerlaufs praktizieren. In seinem Gastbeitrag erklärt er den Sinn hinter dem kollektiven Leiden.

In einem kleinen Dorf im ländlichen Griechenland versammelt sich eine Gruppe von Menschen in einem unscheinbaren rechteckigen Gebäude mit einem Terrakotta-Ziegeldach. Es hat die Größe eines Einfamilienhauses, besteht aber aus einem einzigen Raum, der groß genug ist, um ein paar hundert Menschen zu fassen, wenn sie sich dicht aneinanderdrängen. An diesem Tag ist es bis auf den letzten Platz gefüllt. In der Mitte sitzen ein paar Leute im Kreis und schwingen lethargisch zur Melodie einer Leier. Um sie herum befindet sich eine Menschenmenge, die die Szene schweigend beobachtet. Bald beginnen die Menschen im inneren Kreis zu singen. Doch die Stimmung ist nicht festlich. Ihre Gesichter sind düster, sie atmen schwer. Gelegentlich stoßen sie kalte Schreie aus, als würden sie von einer unsichtbaren Macht gequält. Der Raum macht einen kargen Eindruck. Außer ein paar Holzbänken gibt es keine Möbel. Auf einem kleinen Regal an der Wand stehen zwei mit roten Tüchern bedeckte Ikonen, ein Weihrauchfass und ein paar Kerzen. In der gegenüberliegenden Ecke sitzen eine Handvoll Musiker*innen. Bald vibriert der Raum von den Klängen zweier großer Ziegenfelltrommeln. Nach und nach stehen die Menschen auf und beginnen zu tanzen. Zunächst bewegen sie sich sehr langsam, machen nur wenige Schritte. Doch als das Trommeln intensiver wird, folgen ihre Körper dem Rhythmus und geben sämtliche Kontrolle ab. Die Ikonen werden unter den Tänzer*innen herumgereicht. Das scheint eine starke Wirkung auf sie zu haben. Sie weinen, schreien und wirbeln mit rollenden Augen durch den überfüllten Saal. Die Darbietung ist so stark, dass sie auch viele Zuschauer*innen zu Tränen rührt.

Als die Musik nach fast einer Stunde aufhört, scheinen die Tänzer*innen kurz vor dem Zusammenbruch zu stehen. Aber nach einer kurzen Pause wird der ganze Prozess wiederholt, wieder und wieder, und das fast drei Tage lang. In der letzten Nacht verlässt die Gruppe den Raum, um den Tanz draußen fortzusetzen, dieses Mal jedoch barfuß über einer Grube mit glühenden Kohlen.

Diese Szene habe ich zum ersten Mal im Jahr 2005 miterlebt, als ich mit den Recherchen für meine Doktorarbeit in Anthropologie begann. Der Schauplatz war das Dorf Agia Eleni, Heimat einer AnastenariaGemeinde. Das sind orthodoxe Christ*innen in Nordgriechenland und Bulgarien, die für ihre besondere Verehrung der Heiligen Konstantin und Helena bekannt sind. Diesen Heiligen wird nachgesagt, dass sie ihre Anhänger*innen zum Tanz zwingen, von ihnen Besitz ergreifen und sie schließlich unversehrt durch das Feuer führen.

Wenn sich der Himmel öffnet

Die Feuerlauf-Zeremonien spielten eine wichtige Rolle dabei, die Gemeinschaften der Anastenaria zusammenzuhalten, auch wenn sie im Laufe der Jahrhunderte mit Krieg, Exil, Verfolgung und anderen Problemen zu kämpfen hatten. Die Gläubigen betrachten ihre Rituale als Schlüsselmomente und unverzichtbaren Teil ihres Daseins. Dennoch ist der Feuerlauf eine turbulente Erfahrung, die von den Tänzer*innen mit den Worten »Anstrengung«, »Kampf« und »Leiden« beschrieben wird. Anastenaria bedeutet im Griechischen »die Seufzer«, was auf das emotionale Stöhnen während des Tanzes zurückzuführen ist.

Nicht selten berichten die Betroffenen von einem veränderten Bewusstseinszustand, in dem sie außergewöhnliche Visionen erleben. Eine Frau erzählte mir: »Als ich tanzte, öffnete ich die Augen, und die Decke war weg. Da war nichts mehr! Ich sah den Himmel, klar und blau. Ich sah die Engel in weißen Kleidern. Sie tanzten und sangen die große Doxologie*. Ich tanzte weiter und rief: Der Himmel hat sich geöffnet, und die Engel sind herabgestiegen! Sie singen!«

Als Anthropologe, der sich seit mehr als zwei Jahrzehnten mit Ritualen beschäftigt, bin ich bei verschiedenen ekstatischen Zeremonien auf ähnliche Erzählungen gestoßen. Oft werde ich gefragt, ob die Praktizierenden psychotrope Substanzen verwenden. Sind ihre Visionen etwa auf die Einnahme eines Halluzinogens zurückzuführen? Bewältigen sie die Schmerzen, die mit vielen dieser Rituale verbunden sind, dank des Konsums von Alkohol oder eines anderen Betäubungsmittels?

Zweifellos ist der Einsatz von Rauschmitteln in vielen Kulturen seit langem ein wichtiger Bestandteil religiöser Zeremonien. Im antiken Griechenland wurde etwa bei Riten ein Gebräu namens Kykeon verabreicht, von dem man annahm, dass es eine Trance herbeiführt. Auf mehreren Pazifikinseln wird bei wichtigen Ritualen ein psychoaktives Getränk aus der Wurzel der Kava-Pflanze getrunken. Und in Nordamerika sind Halluzinogene wie Peyote und Ayahuasca bei vielen Indigenen die zeremoniellen Drogen der Wahl.

Durch die Beeinflussung der Gehirnchemie können solche Substanzen starke Gefühle der Ekstase und Transzendenz hervorrufen, weshalb sie oft als Entheogene* bezeichnet werden, ein griechisches Wort, das soviel bedeutet wie »das Göttliche im Inneren erzeugen«. In einem 1962 in Boston durchgeführten Experiment brachten Forscher*innen eine Gruppe von Theologiestudierenden am Karfreitag in eine Kapelle und baten sie, vor dem Gottesdienst eine Substanz einzunehmen. Die eine Hälfte der Studierenden, die nach dem Zufallsprinzip ausgewählt wurde, erhielt den psychoaktiven Wirkstoff Psilocybin, der in sogenannten Magic Mushrooms enthalten ist. Die andere Hälfte nahm ein Placebo zu sich, mit einem Wirkstoff versetzt, der zwar ähnliche körperliche Empfindungen wie Hitze, Kribbeln und Juckreiz hervorruft, aber keine halluzinogenen Eigenschaften besitzt. Diejenigen, die die Droge einnahmen, berichteten von tiefgreifenden religiösen Erfahrungen in der Kapelle, und viele von ihnen empfanden diese Erfahrungen später als lebensverändernd. Die Personen aus der Kontrollgruppe erlebten dagegen nicht viele Phänomene der mystischen Typologie, und wenn, dann nur in geringem Ausmaß. Andere Studien haben seitdem ähnliche Wirkungen festgestellt.

Rituale ohne Drogen

Drogen sind allerdings nicht der einzige Weg zu spirituellen Erfahrungen. Manchmal können diese auch physiologisch herbeigeführt werden, und zwar durch die Funktion von gewissen Ritualen, den Körper und den Geist zu manipulieren. Indem sie die Bewegungen und die Körperhaltung der Praktizierenden, die Atmung oder die Sinneseindrücke steuern, wirken sie als natürliche Entheogene. Die Rituale, die ich untersucht habe, gehören meist zu dieser letzteren Art. Die Teilnehmenden an diesen Zeremonien nehmen keine Drogen. Tatsächlich müssen sie in der Regel für mehrere Tage vor der Zeremonie auf die Einnahme sämtlicher Substanzen, einschließlich Alkohol, verzichten. Die Auswirkungen der Zeremonien auf das Bewusstsein ähneln jedoch oft verblüffend jenen von chemischen Rauschmitteln. Nehmen wir zum Beispiel das Thimidi, ein schmerzhaftes hinduistisches Ritual, bei dem die Menschen nach einer anstrengenden, mehrstündigen Prozession unter der brennenden Sonne barfuß über glühende Kohlen laufen. In einer Studie über dieses Ritual auf Mauritius stellten meine Kolleg*innen und ich fest, dass sich die Teilnehmenden trotz der körperlichen Anstrengung nicht müde, sondern euphorisch fühlten. Diese Effekte deuten auf eine Erhöhung des Endorphinspiegels hin – Neurochemikalien, die für ein Phänomen verantwortlich sind, das als »Runner’s High« bekannt ist: das ekstatische Hochgefühl, das nach längerer Anstrengung auftritt und von dem Marathonläufer*innen oft berichten. Endorphine stehen unter anderem auch im Zusammenhang mit sozialer Bindung, was die verbindende Kraft dieser Rituale erklären könnte.

Andere Studien stellten fest, dass selbst einige der schmerzhaftesten Rituale positive Gefühle auslösen können. Beim Thaipusam Kavadi, das von Angehörigen des Volks der Tamilen auf der ganzen Welt durchgeführt wird, durchbohren Menschen ihre Körper mit Nadelspießen. Danach treten sie eine lange Pilgerreise an, bei der sie schwere Schreine auf dem Rücken tragen. Manche legen die Strecke sogar in Schuhen aus spitzen Nägeln zurück. Andere ziehen riesige Wägen an Haken, die an der Haut ihres Rückens befestigt sind. Mit Hilfe von tragbaren Sensoren konnten wir feststellen, dass diese Rituale außerordentlich viel Stress verursachen. Auffallend ist jedoch, dass sich dieser Stress schnell in positive Gefühle verwandelt. Je mehr Nadeln die Menschen in ihre Haut steckten und je mehr sie während der Prozession litten, desto mehr stieg ihr psychisches Wohlbefinden einige Wochen später.

Krankheit oder Heilung?

Es ist kein Zufall, dass ekstatische Rituale häufig als kulturelles Heilmittel für verschiedene Krankheiten verschrieben werden, insbesondere im Zusammenhang mit Angststörungen. Durch körperliche und sensorische Hyperstimulation kann das Belohnungssystem des Gehirns aktiviert werden, welches den Gehalt an Neurotransmittern wie Dopamin und Serotonin reguliert. So kann sie gesteigerte Empfindungen, eine bessere Stimmung und ein allgemeines Gefühl des Wohlbefindens erzeugen. Dieses System hat sich entwickelt, um unser Überleben zu sichern, etwa durch Nahrungsaufnahme und Paarung. Der oft erlebte Dopaminschub führt zu Glücksgefühlen und einem Gefühl tiefer Sinnhaftigkeit. Wenn der Serotonin- und Dopaminspiegel im Ungleichgewicht ist, kann es andererseits zu Angstzuständen, Depressionen und anderen psychischen Störungen kommen. Die meisten Antidepressiva zielen daher auf die Wiederherstellung des Serotonin- und Dopaminspiegels im Gehirn ab.

Es ist jedoch wichtig zu wissen, dass die Wirkung ekstatischer Rituale ebenso wie die ihrer pharmakologischen Gegenstücke stark vom Kontext abhängt. Erwartungen sind ausschlaggebend. Trance kann gelenkt, erlernt und herbeigeführt werden, und ein Großteil der tatsächlichen Erfahrung wird durch Interpretation gefiltert. Eine Halluzination allein zu erleben kann beängstigend sein, aber im Zuge einer gemeinschaftlichen Zeremonie kann sie wünschenswert sein. Was in einem Kontext als Krankheit angesehen wird, betrachten wir unter anderen Umständen als Segen. Die Anastenaria glauben, dass die Heilsuchenden leiden, weil sie von den Heiligen auserwählt wurden. Ihre Symptome sind nicht Ausdruck von Krankheit, sondern ein mühsamer, aber lohnender und ehrenvoller Weg, die Berufung der Heiligen anzunehmen.

*Doxologie: Fachwort der Liturgie, bezeichnet das Rühmen der Herrlichkeit Gottes, oft als Abschluss eines Gebets

*Entheogene: spirituell nutzbare halluzinogene Substanzen, Psychedelika

 

Dimitris Xygalatas ist Anthropologe und Kognitionswissenschaftler an der Universität von Connecticut, wo er das Labor für experimentelle Anthropologie leitet. Er erforscht u.a. Rituale und andere Formen der Gruppenzugehörigkeit und betrieb dafür mehrere Jahre lang Feldforschung in Südeuropa und im Indischen Ozean.

IDM Short Insights 24: Will the upcoming elections change the Visegrad Group?

Two out of four Visegrad countries (V4) will hold parliamentary elections later this year. How may the elections in autumn change the power balance in the V4 and its standing in EU? How does the recent decision of Poland and Hungary to ban grain imports from Ukraine fit into our scenario building? Regardless of what scenario proves to be true, we should not expect that the format will cease to exist. Even though is true that it will operate in survival mode until all V4 countries are governed by parties sharing a common ideological line.

Two out of four Visegrad countries – also called the V4 – will hold parliamentary elections later this year. The snap elections in Slovakia are scheduled for 30 September 2023, and the parliamentary election in Poland will happen sometime between 15 October and 5 November 2023 

The outcomes of these elections can potentially shift the dynamics of cooperation within the grouping, the balance of power among partners, and the group’s standing in Europe. It is important to watch them as, although formerly dynamic, V4 cooperation has nowadays plunged to new lows. The V4 is now divided on at least two issues. 

The first one is Russia’s aggression against Ukraine that led to a severing of ties between V4 countries. It is difficult to grasp how a relatively big country like Hungary bordering Ukraine could refuse to contribute its fair share to restoring peace in Europe, especially as others have assumed considerable risk in doing so. Likewise, how can Budapest flirt with China and even side with Russia on some matters?  

The second issue is related to the state of democracy and in particular upholding the rule of law in Poland and Hungary. If not expressed explicitly, the Czech Republic and Slovakia are concerned about political developments in Warsaw and Budapest. What is more, they are losing patience with paying a price for a damage done by the Polish-Hungarian tandem on the V4’s reputation in Brussels.   

Three scenarios for the future of V4 relations 

Depending on which party coalitions will be governing in Warsaw and Bratislava, at least three scenarios are possible: 

First, Hungary becomes even more isolated in the group. This could happen if the current opposition led by the Civic Platform wins the elections in Poland, and Slovakia selects a government similar to the one it has now. In this format, three out of four V4 partners will maintain unity on Russia policy, and will maintain a pro-Atlantic and pro-European course, paying more respect to democracy and rule of law at home. This scenario is not likely. 

Second, the V4 is divided into two camps: the Czechs and the Slovaks on one side, and the Poles and the Hungarians on the other side. This would mean that the national interests from before the war in Ukraine are restored. For this to happen, the elections both in Poland and Slovakia would have to bring no changes in the political scene, and Hungary would have to make a U-turn on its Russia policy. This scenario is also not very likely. 

Third, and the most likely scenario is that Prague gets isolated. This will happen when the current government of the united right led by the Law and Justice (PiS) wins the elections in Poland, and the Eurosceptic SMER-SD party of former Prime Minister Robert Fico forms the government, as the current polls seem to suggest. In this case, the Czech Republic will seal Prague’s pro-Western shift, strengthen its position in the EU, and keep implementing a foreign policy based on Vaclav Havel’s values, accentuating respect for human rights and civil society. The currently isolated Hungary would in this case receive support from Slovakia. It is not clear how the Polish-Hungarian relations would develop given their difference on Russia. However, any policy alignment is possible given the recent Polish-Hungarian unity in banning grains import from Ukraine.  

Regardless of what scenario proves to be true, we should not expect that the format will cease to exist. In the three decades of the Visegrad group’s existence it has produced multidimensional cross-border ties and enhanced people to people contacts. It is true that it will operate in survival mode until all V4 countries are governed by parties sharing a common ideological line. But their relations and common history are too deep and too close to be easily given up on. 

This might be of inerest to you:  

Martinek, K. Brudzinska, In the Eye of the Storm: Political Turmoil in Slovakia, IDM Blog, 19 December 2022

Apaydin, Ukrainian-Hungarian relations are complicated, and not only because of the war. IDM Blog, 3 March 2023

Brudzinska for Judy Asks: Is Hungary a Reliable EU and NATO Member?, Strategic Europe Blog of Carnegie Europe, 30 March 2023

“Erhard Busek als Wissenschaftsminister” von Friedrich Faulhammer

Am 26. April findet die Präsentation des Buches ‘Einheit in Vielfalt – Erhard Buseks Welten’ statt, u.a. mit Beiträgen von unseren Vorstandsmitgliedern Lukas Mandl und Rudolf Schicker. Friedrich Faulhammer, der ebenfalls zu den Autor*innen gehört, wird einen Impulsvertrag halten. Weitere Informationen finden Sie in der Einladung.

Mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber können Sie schon jetzt das Kapitel unseres Vorsitzenden “Erhard Busek als Wissenschaftsminister”, auf dem IDMBlog lesen. 

Erhard Busek als Wissenschaftsminister

Polens Präsident in Wien: Gegenpol oder Brückenbauer?  

Anlässlich des heutigen Staatsbesuches des polnischen Präsidenten Andrzej Duda in Wien betrachtet unsere Kollegin Malwina Talik die politischen Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Länder. 

Auf der Landkarte sind Polen und Österreich nicht weit voneinander entfernt, außenpolitisch allerdings schon: Polen ist ein aktives NATO-Mitglied, das auf die enge Zusammenarbeit mit den USA setzt, Österreich hingegen ein militärisch neutrales Land; Polen führte seit Jahren eine (über)vorsichtige Politik gegenüber Russland, Österreich pflegte bis Februar 2022 eher freundschaftliche Beziehungen. Der heutige Staatsbesuch des polnischen Präsidenten Andrzej Duda in Wien bietet also genügend Anlass, sich die politischen Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Länder genauer anzusehen. Der polnische Präsident wird sich mit seinem Amtskollegen, dem österreichischen Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen, und mit Bundeskanzler Karl Nehammer treffen. Dabei sollen vor allem die europäische Politik in Bezug auf den russischen Invasionskrieg in der Ukraine, bilaterale Beziehungen sowie Erinnerungspolitik um das KZ Mauthausen-Gusen und die Schlacht am Kahlenberg besprochen werden. 

 

Wer ist der polnische Präsident? 

Wenn es um das Vertrauen der polnischen Bevölkerung in ihre Politiker*innen geht, ist Andrzej Duda laut Umfragen auf Platz zwei – vor ihm der liberale Bürgermeister Warschaus Rafal Trzaskowski. Duda war bis zu seiner überraschenden Wahl zum Präsidenten 2015 Mitglied der konservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS). Sein Sieg gegen den amtierenden liberal-konservativen Präsidenten Bronislaw Komorowski war das erste Signal, dass die Präferenzen der Wähler*innen nach rechts rutschen. Auf den Erfolg des ausgebildeten Juristen folgte der nächste für PiS: Im selben Jahr kam die Partei unter der Parole „Guter Wandel“ an die Macht. Im Laufe seiner zwei Amtszeiten pflegte Duda gute Beziehungen zum US-Präsidenten Donald Trump. Insgesamt dreimal besuchte er ihn im Weißen Haus, einmal empfing er ihn in Polen. Aus Angst vor Russland und um die militärische Sicherheit durch die Präsenz der US-Armee in Polen zu verbessern, schlug er sogar vor, eine US-Militärbasis namens “Fort Trump” im Land zu gründen – dieses Vorhaben wurde schlussendlich aber nicht verwirklicht. 

 

Die alte Angst vor Russland 

Während für Österreich der unprovozierte Angriff Russlands auf die Ukraine ein Schock war, stellte er für Polen eine nachvollziehbare Erfüllung der schlimmsten Albträume dar. Die Russland-Politik beider Länder bildet zwei Gegenpole, was insbesondere nach dem  Georgienkrieg 2008 spürbar wurde. „Es ist uns bewusst, dass heute Georgien, morgen die Ukraine, übermorgen die baltischen Staaten und später vielleicht mein Land, Polen, an der Reihe sind“, rief 2008 der mittlerweile verstorbene polnische Präsident Lech Kaczyński bei einer Kundgebung in der Hauptstadt Georgiens, nachdem russische Truppen das Land angriffen. Diese Worte spiegelten pointiert die Wahrnehmung der polnischen politischen Elite über den Kreml wider. Polen protestierte heftig gegen den Bau von Nord-Stream II, nach der Annexion der Krim durch Russland und dem Ausbruch des Konflikts in der Ostukraine 2014  reduzierte esschrittweise seine Energieabhängigkeit von Russland. Während 2014 noch 95% des Öls aus Russland importiert wurde, waren es am Vorabend des Krieges nur mehr 62%. Infolgedessen sind die Energiepreise nach der Invasion zwar auch in Polen gestiegen, aber nicht so stark wie in Österreich. 

 

Enger Verbündete der Ukraine 

Polen gilt als starker Befürworter der Ukraine in der EU, erst letzte Woche hat Andrzej Duda den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Warschau empfangen. Als Nachbarland der Ukraine hat Polen den Krieg ante portas – vor der eigenen Haustür und beherbergt die größte Anzahl an Geflüchteten. Da zu den Nachbarländern auch Lukaschenkas Belarus und die russische Exklave Kaliningrad zählen, spielt die eigene Sicherheit eine größere Rolle als je. Das Gefühl, dass die Ukraine „für uns kämpft“ ist sehr präsent. Das ist einer der Gründe, warum Polen, auf eigene Aufrüstung setzt und für weitere militärische Hilfe für die Ukraine plädiert. Neutralität hin oder her, Polen hofft auf Engagement seitens Österreichs: „Wir sind uns bewusst, dass Österreich ein neutrales Land ist, aber es kann politische und humanitäre Unterstützung leisten“ steht es in der Pressemitteilung der Präsidentschaftskanzlei. 

Was Polen und Österreich weiters unterscheidet ist ihre Position zu der Anwesenheit der von der sanktionierten russischen Spitzpolitiker*innen an internationalen Treffen und Konferenzen. Polen verweigerte Russlands Außenminister Sergei Lawrow eine Einreise zum OSZE-Außenminister-Treffen in Lodz. Diese Entscheidung kritisierte der österreichische Außenminister Alexander Schallenberg. Dies lies Andrzej Duda nicht ohne Kommentar: „Es tut mir leid, solche Stimmen zu hören. Wenn wir berücksichtigen, dass dies von einem europäischen Politiker eines Landes gesagt wird, das der Europäischen Union angehört, zerbricht für mich zweifellos die europäische Einheit.“ Die russische Delegation, in der auch sanktionierte Diplomat*innen waren, konnte im Februar 2023 nach Österreich einreisen – trotz internationaler Kritik. Diese Meinungsunterschiede sind zweifellos ein weiterer Grund, warum sich Polen für einen hochrangigen Besuch in Wien entschied. 

 

Brückenbauer? 

In Polen ist das Image von Österreich als Brückenbauer kaum bekannt. Das Land versucht aber eine ähnliche Rolle einzunehmen, z.B. mit von polnischen Regierungen initiierten Formaten wie der Östlichen Partnerschaft oder der Three Seas Initiative (3SI), die vorwiegend ehemalige kommunistische Länder miteinbezieht. Interessanterweise ist Österreich das einzige „westliche“ Land in der 3SI.  

Beim Thema Migration vertreten beide Länder hingegen wieder ähnliche Meinungen: Während Polen illegale Pushbacks ausübt und Zäune und Mauern an der Grenze zu Belarus baut, setzt Österreich auf immer strengere Abschiebungspolitik. “Illegale” Migration wurde auch als ein Grund zitiert, um Rumänien und Bulgarien den Schengenbeitritt zu verweigern, weil laut Österreich die beiden Länder unzureichend ihre Grenzen schützten. 

Trotz Unterschieden gibt es also auch viele Gemeinsamkeiten in der Politik beider Länder. Die Frage besteht, ob diese als positive Entwicklungen betrachtet werden sollten. Die jüngsten Reden des österreichischen Bundeskanzlers zeigen, dass die konservativen Parteien in den Regierungen Polens und Österreichs sich in vielen Bereichen annähern statt sich wie Gegenpole abzustoßen. 

Malwina Talik: President Macron is only one of European leaders and his sentiment is not shared across the EU

“The EU is not on the same page regarding its approach towards the US. Some countries like Poland or the Baltic states are proponents of the very close Euro-Atlantic alliance. With his statement Macron represents the position of some EU politicians but not of the EU as whole.”

commented Malwina Talik  on Macron’s remarks that Europe must reduce its dependency on the United States and avoid getting dragged into a confrontation between China and the US over Taiwan.

Read the whole interview for the Eurasia Diary here.