Die europäische DNA der Städte entdecken
Die Initiative der Kulturhauptstadt Europas ist fester Bestandteil der Kulturpolitik der EU. Márton Méhes sprach mit SUZANA ŽILIČ FIŠER über aktuelle und frühere Kulturhauptstädte sowie ihre Erfahrung als Mitglied der internationalen Auswahljury.
Frau Žilič Fišer, wir unterhalten uns kurz nach der Eröffnungszeremonie der beiden diesjährigen Kulturhauptstädte Chemnitz und Nova Gorica/Gorizia. Nach all Ihren persönlichen Erfahrungen: Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie heute den Auftakt feiern?
Ich hatte die Gelegenheit, viele Kulturhauptstadt-Eröffnungen zu erleben, die sich stark voneinander unterschieden. 2012 hatte es bei der Eröffnung in Maribor (Slowenien) -10 °c. und in Guimarães (Portugal) eine Woche später +20°c. Für mich ist klar: Man kann Städte nicht miteinander vergleichen. Wir können einige Elemente der Eröffnungsprogramme vergleichen, aber nicht die ganze Eröffnung. So war auch die von Chemnitz 2025 ganz anders als die von Nova Gorica/Gorizia 2025.
Die Zeremonien waren beide sehr offiziell, aber auch stark auf die Bürger*innen fokussiert. Die große Aufmerksamkeit der Bevölkerung und der Medien ist natürlich auch ein wichtiges Ziel. In beiden Städten wurde offensichtlich, dass es eine starke politische Unterstützung von nationalen und lokalen Politiker*innen gibt. Dementsprechend wurden an beiden Orten beträchtliche finanzielle Mittel in das Eröffnungswochenende investiert. Die Städte wirkten sehr lebendig, es gab zahlreiche attraktive Veranstaltungen und jeweils auch eine Hauptzeremonie, die Kultur als Motor des Wandels feierte.
Es wäre nicht fair von mir, auch nur eine Eröffnungsfeier aus meiner 15-jährigen Erfahrung als die beste hervorzuheben. Überall haben viele Menschen zusammengearbeitet und eine Menge Zeit und Energie investiert. Die Zeremonie muss nicht immer unbedingt glänzend sein, sondern die Kultur der jeweiligen Stadt und des Landes im europäischen Kontext widerspiegeln.
Nova Gorica ist die zweite Kulturhauptstadt in Slowenien. Lässt sich das Projekt mit dem von Maribor vergleichen?
In Nova Gorica gibt es eine größere politische Unterstützung als damals in Maribor. Ich bin froh, dass die Politik verstanden hat, dass die Kulturhauptstadt ein gesamtnationales Projekt sein sollte – auch im finanziellen Sinn. Maribor bereitete das Projekt während der politischen und wirtschaftlichen Krise vor, und es war die erste Kulturhauptstadt in Slowenien – noch dazu die erste im ehemaligen Jugoslawien.
Interessanterweise lag in beiden Städten der Schwerpunkt auf dem Miteinander: In Maribor lautete der Slogan »Zavrtimo skupaj« (dt. »Gemeinsam drehen«), Nova Goricas Hauptidee ist »Insieme« (»Zusammen«) im Sinn des alten Songs von Toto Cutugno. Ganz besonders ist auch, dass Nova Gorica die Kulturhauptstadt gemeinsam mit der italienischen Stadt Gorizia veranstaltet – all diese Aspekte fließen in die Aktivitäten ein.
Maribor war vor 13 Jahren Kulturhauptstadt. Wie stark hat das Projekt diese Stadt geprägt?
Jede Stadt wird durch den Titel verändert. Viele der Veränderungen sind planbar, aber einige geschehen als Teil der natürlichen Veränderung in der Atmosphäre der Stadt. Das Jahr 2012 setzte in Maribor neue Maßstäbe für die Kunst und machte viele Bürger*innen kulturell anspruchsvoller.
Die Zusammenarbeit zwischen den Kultureinrichtungen in Slowenien und auf internationaler Ebene, die durch die Kulturhauptstadt ihren Anfang nahm, ist heute noch Teil der künstlerischen Aktivitäten der Stadt. Die Initiative hat uns gelehrt, wie man auf verschiedenen Ebenen zusammenarbeitet. Maribor hat die kreative Energie weiterentwickelt und auf andere Bereiche des öffentlichen Lebens übertragen. Die Kulturhauptstadt hat auch die kulturelle Infrastruktur, darunter das Puppentheater, die Vetrin-Villa, den Hauptplatz, verändert.
Wie würden Sie die Zeit beschreiben, die Sie als offizielles internationales Jurymitglied verbracht haben?
Diese sechs Jahre in der Jury haben mir geholfen, die Entwicklung vieler europäischer Städte zu verstehen. Während des Bewerbungsverfahrens habe ich mehr als 200 europäische Städte besucht, von Norden bis Süden, von Westen bis Osten und von Hauptstädten bis hin zu kleinen Städten. Diese Erfahrungen gaben mir Einblicke in die europäische DNA. Die Kulturhauptstädte haben viele Elemente gemeinsam. Sie stehen vor ähnlichen Fragen, aber erzählen auch sehr unterschiedliche Geschichten. Daher haben sie auch unterschiedliche Antworten auf dieselben Fragen.
Wir sind immer auf der Suche nach neuen Geschichten und Themen, »Copy-Paste« ist unerwünscht. Die Initiative ist erfolgreich, wenn die lokale Gemeinschaft und das kreative Potenzial so weit wie möglich einbezogen werden. Meine Erfahrung zeigt, dass nicht alle Bewerbungen dem Potenzial einer Stadt entsprechen und daher nicht realistisch sind. Das ist ein riesiges Problem für die erfolgreiche Umsetzung. In Bezug auf Ostmitteleuropa denke ich, dass eine engere Zusammenarbeit zwischen den Städten der Region sehr vorteilhaft wäre. Während der vergangenen Jahre habe ich außerdem verstanden, dass jede Kulturhauptstadt ein politisches Projekt ist. In der Vorbereitungszeit, die in der Regel sechs Jahre dauert, wechseln in vielen Ländern die Regierungen oder wichtige Politiker*innen, aber das Kulturhauptstadtprojekt soll bestehen bleiben. Das Dilemma ist: Die Politik sollte es nicht an sich reißen, aber eine starke politische Unterstützung ist erforderlich.
Wie sieht es mit der Zukunft der Kulturhauptstädte aus: Hat die Initiative eine Chance, weitere zehn oder gar 40 Jahre zu bestehen?
Auf jeden Fall! Es ist eine sehr wichtige europäische Initiative, von der sowohl die Städte als auch die EU insgesamt profitieren. Sie hilft uns allen bei der Beantwortung der wichtigsten Fragen Europas.
Prof. Dr. Suzana Žilič Fišer ist Leiterin des Instituts für Medienkommunikation an der Universität Maribor und interna tionale Kulturexpertin. Sie war Mitglied der internationalen Auswahljury für die Kulturhauptstadt Europas und fungierte als Generaldirektorin für die Kulturhaupt stadt Maribor 2012.
Dr. Márton Méhes ist Direktor des Collegium Hungaricum Wien und Dozent der Andrássy Universität Budapest. Er war an den Programmen Pécs 2010, Novi Sad 2022 und Veszprém-Balaton 2023 sowie den Bewerbungen von Debrecen und Piran-Istrien beteiligt. Von 2015 bis 2018 war er Redakteur des Kulturführers Mitteleuropa.
Lesen Sie hier die gesamte Ausgabe von Info Europa.