“Tortured Poets Department”: Literatur im Krieg
Was macht der Krieg Russlands gegen die Ukraine mit Literatur und Kunst? Und welche Rolle spielt die Kultur für das Überleben in Zeiten des Krieges? Die Schriftstellerin IRYNA SLAVINSKA schreibt in ihrem literarischen Essay über den Schmerz und die Hoffnung, die in Zeilen ukrainischer Autor*innen liegen.
Im Februar 2022 konnte ich nicht lesen. Buchstäblich. Ich konnte kein Wort verstehen, ich konnte mich auf keinen Text konzentrieren. In den ersten Märztagen nahm ich dann einen großen Gedichtband zur Hand und schlug ihn auf einer beliebigen Seite auf. Mir gelang es, zwei sehr kurze Gedichte – geschrieben von großen ukrainischen Dichtern des 20. Jahrhunderts – zu lesen. Beide starben sehr jung, nachdem sie vom NKWD, dem Volkskommissariat für innere Angelegenheiten der Sowjetunion, gefoltert worden waren. Sie wurden in Sandarmoch erschossen, einem Waldgebiet in Karelien, nur 580 km von St. Petersburg entfernt. Josef Stalin ließ in seinem Krieg gegen die ukrainische Kultur in den Dreißigern viele herausragende Talente foltern und töten. Diese Generation ukrainischer Dichter*innen, Dramatiker*innen und Schriftsteller*innen, die die Kultur- und Kunstszene in der Ukrainischen Sowjetrepublik in den Zwanzigern zum Aufblühen gebracht hatten und daraufhin vielfach verhaftet und hingerichtet wurden, nennen wir heute die Erschossene Renaissance (ukr. Rozstriljane vidrodžennja). Dieser Begriff wurde vom Literaturkritiker Jurij Lavrynenko geprägt, der auch die maßgebliche Anthologie ihrer Werke zusammenstellte.
Heute ist meine Fähigkeit zu lesen zurück. Doch ich kann nur noch Gedichte oder Essays lesen. Je kürzer desto besser.
Ich stehe vor meinem Bücherregal und allen meinen Büchern.
Ich sehe mir das lyrische Debüt von Victorija Amelina an. Ihr allererster Gedichtband „Zeugnis ablegen“ (ukr. „Svidčennja“) wurde post mortem veröffentlicht. Amelinas Gedichte unterscheiden sich stark von ihren Romanen, aber ich erkenne dieselbe subtile Aufmerksamkeit für Details und die feinen Nuancen der Gefühle. Die Schriftstellerin wird dieses Buch nicht für mich signieren. Sie wurde in Kramatorsk getötet. Eine russische Rakete zielte auf ein vermeintlich äußerst gefährliches Objekt – eine Pizzeria im Stadtzentrum. Zivilist*innen starben, darunter auch die bekannte junge Autorin. Ihre späteren, reiferen Meisterwerke werden wir niemals lesen können.
Ich schaue mir ein weiteres lyrisches Erstlingswerk an, „Gedichte aus der Schießscharte” (ukr. „Virši z bijnyci”) einen Gedichtband von Maksym Kryvcov, ein 33 Jahre alter Dichter. Für immer 33. Gefallen im militärischen Einsatz in der Region Charkiw. Er hatte noch die Gelegenheit, sein erstes Buch zu sehen und zu berühren. Mein Exemplar wurde jedoch bereits nach seinem Tod geliefert. Auch Krywzows spätere Meisterwerke werden wir nicht lesen.
Der Band „Langsamer Mann“ (ukr. „Povil′na ljudyna” ) enthält Gedichte von Mykola Leonovyč. Dieser ist nicht nur Dichter, sondern auch ein preisgekrönter Designer. Ein Porträt von Leonovyč ist auf dem Buchumschlag zu sehen. Er gilt seit April 2023 in der Nähe von Awdijiwka als vermisst. Der Gedichtband wurde von seiner Frau herausgegeben und von seinem Verlag veröffentlicht. Ob wir jemals seine späteren Werke lesen und sehen werden können?
Meine Betrachtung der Texte toter oder vermisster Schriftsteller*innen verdeutlicht am wohl eindringlichsten den Einfluss des Krieges auf die ukrainische Kultur. Bereits seit der russischen Besatzung der Krym im Jahr 2014 werden ukrainische Künstler*innen von den russischen Besatzern entführt, gefoltert und getötet. Der auf der Krym verhaftete Filmregisseur Oleg Sencov verbrachte ab 2014 fünf Jahre in einem russischen Gefängnis. Der Schriftsteller und Journalist Stanislav Asjejev aus dem Donbas war von 2017 bis 2019 in einem Foltergefängnis in Donezk inhaftiert. Das Gelände und die Gebäude des Gefängnisses, in Sowjetzeiten urspünglich als Fabrik für Isoliermaterial erbaut, beherbergte vor 2014 das bekannte Zentrum für zeitgenössische Kunst „Izoljacija“. Heute sind hier Ukrainer*innen, darunter Künstler*innen und Kulturschaffende, eingesperrt.
2022 kamen neue Namen von jenen hinzu, die die russiche Besatzung und die Kriegshandlungen nicht überlebten. Jurij Kerpatenko aus Cherson war Dirigent eines Sinfonieorchesters. Er wurde in seiner eigenen Wohnung erschossen, nachdem er sich geweigert hatte, ein großes Konzert in der besetzten Stadt Cherson zu Ehren der russischen Besatzer zu dirigieren. Ich frage mich, ob in dem Konzertprogramm auch Werke von Tschaikowsky vorgesehen waren. Oh, die große russische Kultur und ihre tödliche Schönheit!
Mehr als 120 Künstler*innen starben bisher durch den Krieg – manche als Zivilist*innen, andere als Soldat*innen. Eine genaue Zahl gibt es nicht, aber wir kennen so viele Namen von Gefallenen. Soll ich diese Liste der Märtyrer*innen fortsetzen?
Viel lieber würde ich einen optimistischen Essay über die dynamische ukrainische Kulturszene und ihre Widerstandsfähigkeit in Kriegszeiten schreiben. Und die Kulturszene in der Ukraine ist in der Tat lebendig und widerstandsfähig. Die Theater sind voll, Premieren ständig ausverkauft. Auch literarische Veranstaltungen, Konzerte und Kunstausstellungen sind sehr beliebt. Sind die Menschen in der Ukraine auf der Suche nach Ablenkung und finden diese in der Kunst und Kultur? Vielleicht. Meiner Meinung nach vermittelt Kultur auch die Fähigkeit, sich wieder enger mit der eigenen ukrainischen Identität zu verbinden. Und gerade in Zeiten des Krieges sucht man nach einer klaren Antwort auf die Frage: Wer bin ich?
Seit 2022 sind insbesondere auch klassische ukrainische Werke wieder beliebter und wirken fast zeitgenössisch – und das nicht nur wegen der schönen Sprache oder des persönlichen Schreibstils einiger lange vergessener und wiederentdeckter Autor*innen. Klassische Texte, Musik und Kunstwerke können uns auch relevante Modelle für unsere derzeitige Lebenssituation liefern. Denn die Vollinvasion ist nicht der erste Krieg Russlands gegen die Ukraine. Und so kann auch ein Theaterstück aus den 1920er Jahren als wertvolles Vorbild für die Widerstandsfähigkeit der Ukrainer*innen dienen. Ein Roman aus den 1850er Jahren kann ein gutes antikoloniales Argument liefern und selbst ein Gedicht aus den 1790er Jahren gibt im heutigen Alltag in der Ukraine neue Hoffnung und Inspiration. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass unsere Soldaten sogar in der Nähe der Front Bibliotheken einrichten.
Frühere Generationen ukrainischer Künstler*innen überlebten zwei Weltkriege, Repressionen, ungerechte Verfolgungen, Zwangsmigration und Besatzung. Ihre Erfahrungen sind für unsere heutige Realität inmitten des Krieges relevant. Deshalb ist es wichtig, die Stimmen der toten Dichter*innen zu hören. Ebenso wie die Stimmen unserer zeitgenössischen Autor*innen – ob tot oder lebendig.
Einer meiner Lieblingsschriftsteller*innen Martin Pollack schreibt über „Kontaminierte Landschaften“. Damit bezeichnet er Orte des Massen- und Völkermords, die verbrecherische autoritäre Regime versuchen zu vertuschen. Nur die Erinnerung stellt ein Heilmittel gegen das Vergessen dieser Verbrechen und deren Orte dar. In Zeiten des Krieges ist jedes ukrainische Bücherregal und dessen Silhouette ein Zeuge der Landschaften der Ukraine – auch der kontaminierten. Die Worte, die Zeilen, die Verse, die Texte, die Erfahrungen, die Namen der Gefallenen, der Lebenden, der Verschwundenen. Erinnerung ist oft so zerbrechlich. Und gleichzeitig so mächtig.
Iryna Slavinska ist eine ukrainische Journalistin, Schriftstellerin und Radiomoderatorin. Sie ist Mitglied des PEN Ukraine. In ihren Essays im „Book of Air and Alerts“ (ukr. „Povitrjana j tryvožna knyžka“) beschreibt sie den Alltag in ukrainischen Städten im Krieg.