Wo Bildung mit Würde beginnt

In Brno definiert ein Bildungsinstitut für Frauen Lernen in Zeiten von Krise und Umbruch neu. KAMILA BOGDANOVA sprach mit Direktorin BARBORA ANTONOVÁ, um zu erfahren, wie “Vesna” Soforthilfe in nachhaltige Selbstermächtigung verwandelt.

Dieser Artikel wurde in Info Europa 2/2025: Zukunftsfit durch Bildung veröffentlicht. Die gesamte Ausgabe ist hier abrufbar.

Mit niederschwelliger Beratung, materieller Unterstützung, Bildung und Gemeinschaft möchte der Verein “Vesna” Frauen und ihre Familien in allen Lebenslagen  unterstützen. Herkunft, Sprache oder sozialer Status sollen dabei keine Rolle spielen. Barbora Antonová, seit 2022 Direktorin von “Vesna”, betont: “Wir kontrollieren die Papiere unsere Besucher*innen nicht. Das ist für uns auch eine Frage der Würde – viele alleinerziehende Mütter kamen mit dicken Dokumentenmappen, weil sie es gewohnt waren, ihre Not ständig beweisen zu müssen. Das fanden wir einfach absurd.” 

“Vesna” wurde ursprünglich im späten 19. Jahrhundert gegründet, in einer Zeit wachsender Frauenbewegungen im gesamten Habsburgerreich. Die Initiative begann als Chor, doch entwickelte sich bald zu einem Netzwerk von Schulen. Nach dem Ersten Weltkrieg gab es in Brno 16 von “Vesna” organisierte Mädchenschulen. Einige konzentrierten sich auf Gesundheitswesen, Pflege oder sogar auf berufliche Ausbildung im industriellen Bereich. 

Obwohl Vesna im Laufe des 20. Jahrhunderts – etwa während der NS-Zeit und unter der kommunistischen Herrschaft – mehrfach aufgelöst wurde, blieb der Name im lokalen Gedächtnis lebendig. In den 1990er Jahren wurde der Verein von der Dissidentin und Pädagogin Hana Zlatušková wiederbelebt. 2021 knüpfte ihre Enkelin Kamila Zlatušková gemeinsam mit einer Gruppe Freiwilliger an dieses Erbe an. Am 7. Februar 2022 wurde das heutige Frauenbildungsinstitut offiziell gegründet und führt seitdem die Arbeit von “Vesna” fort. 

Inklusive Soforthilfe 

Die russische Vollinvasion in der Ukraine brachte eine Welle neuer Herausforderungen mit sich. “Vesna” reagierte schnell: „Wir hatten bereits gute Netzwerke – aus der COVID-Pandemie und aus der Zeit um 2015, als Brno eine starke zivilgesellschaftliche Reaktion auf die Flüchtlingskrise zeigte“, erinnert sich Antonová. “Vesna” begann, Gruppen für geflüchtete ukrainische Kinder anzubieten, gefolgt von Tschechischkursen, Programmen zur Vorschulvorbereitung und Gemeinschaftsveranstaltungen. „Wir haben viele Aktivitäten umgesetzt – und so paradox es klingen mag: Erst durch die ukrainischen Frauen und ihre Kinder fanden wir wieder zurück zum ursprünglichen Bildungsauftrag von ‘Vesna’“, reflektiert sie. 

Wesentlich war, dass “Vesna” ukrainische Frauen nicht nur unterstützte, sondern sie aktiv integrierte. „Wir haben sie ganz bewusst als Kursleiterinnen beteiligt – sie unterrichteten Kunst, Musik, Tanz und leiteten Sprachkurse. Einige von ihnen sind heute fest bei uns angestellt. Eine Kollegin gehört inzwischen sogar zu unserem Leitungsteam“, berichtet Antonová. 

Die dringend benötigten Bildungsangebote für geflüchtete Ukrainerinnen stießen jedoch auf bürokratische Hürden. „Vesna“ konnte zunächst keine Fördermittel beantragen, da viele Ausschreibungen vorsahen, dass Organisationen seit mindestens zwei Jahren bestehen müssen. Nach einer Phase mit Übergangslösungen wurde die Regelung schließlich vom tschechischen Regierungsbeauftragten für Menschenrechte gelockert. Dies wurde notwendig, da viele Graswurzelinitiativen erst als unmittelbare Reaktion auf die Vollinvasion und damit einhergehenden Fluchtbewegungen entstanden waren. 

Bildung und Begegnung 

Zwischen 2023 und 2024 setzte “Vesna” das EU-finanzierte Projekt „Společně silné – Vesna jako kotva integrace“ (dt. „Gemeinsam stark – Vesna als Anker der Integration“) um. Die Integration ukrainischer Familien sollte erleichtert und die Entstehung isolierter Gemeinschaften verhindert werden. Durch gemeinsame Aktivitäten, Sprachkurse, materielle Unterstützung und persönliche Begleitung förderte das Projekt natürliche Begegnungen zwischen tschechischen und ukrainischen Familien. Im Juli 2024 begann das Folgeprojekt, das bis Mitte 2025 geplant ist und niederschwellige Beratung, Wohnhilfen, psychische Gesundheitsdienste und Schulungen zur Arbeitsmarktintegration anbietet. 

EU-Fördermittel machen jedoch nur einen Teil der Finanzierung von “Vesna” aus. „Unser allererster finanzieller Unterstützer war die tschechische Hilfsorganisation ‘People in Need’“, sagt Antonová. „Auf Basis einer Projektbeschreibung und unserer Vorhaben erhielten wir 2022 1,5 Millionen tschechische Kronen (rund 60.000 Euro). Damit konnten wir endlich die Leute bezahlen, die bis dahin unentgeltlich gearbeitet hatten.“ Zudem bemüht sich “Vesna” um Unterstützung von staatlicher Seite und von privaten Stiftungen. „Wir versuchen auch, mehr bildungsbezogene Fördermittel einzuwerben, denn bisher kam das meiste Geld aus dem sozialen Bereich,“ erklärt Antonová. 

Gegenüber dem Umgang tschechischer Entscheidungsträger*innen mit sozial benachteiligten Gruppen, egal ob aus dem In- oder Ausland, bleibt Antonová kritisch: “Als der Krieg begann, kamen viele Ukrainerinnen aus der Mittelschicht, gut ausgebildet und engagiert. Drei Jahre später drohen viele von ihnen, in soziale Ausgrenzung zu rutschen. Hier haben auch staatliche Institutionen versagt. Denn es gab keine wirklichen Anreize oder Programme, um diese motivierten Frauen in die sogenannte wissensbasierte Wirtschaft zu integrieren.“ Doch das Engagement von Organisationen wie “Vesna” gibt Hoffnung. In einem ehemaligen Schulhaus in der Údolní-Straße in Brno entsteht derzeit ein neuer Bildungsraum – kooperativ, inklusiv und auf gegenseitiger Hilfe basierend. „Wir wollen einfach Würde ermöglichen. Und die beginnt mit Bildung,“ ist Antonová überzeugt.  

Barbora Antonová engagierte sich in Bereichen wie Inklusion, Palliativpflege, LGBT+ sowie Minderheitenfragen und war kurzzeitig politisch aktiv. 2021 gründete sie die Initiative „Wardrobe for Families“ in Brno, seit 2022 ist sie Direktorin des Frauenbildungsinstituts “Vesna”. 

Kamila Bogdanova ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM) in Wien. Sie hat Internationale Beziehungen in Prag und Brno studiert und beschäftigt sich mit der Politik in postsowjetischen Ländern sowie in Mittel- und Osteuropa.