Ist die Auswanderungsregion Mitteleuropa Geschichte?
Ob in Spitälern, am Bau oder in der Schule: In Mittel- und Osteuropa fehlt es an Fachkräften. Die Antwort auf diese Herausforderung ist gezielte Einwanderung – ein Phänomen, das in diesen EU-Ländern bis vor Kurzem noch unvorstellbar war, wie MALWINA TALIK erklärt.
Im Westen wurde Mittel- und Osteuropa lange Zeit vor allem mit Emigration assoziiert. In der jüngeren Geschichte der Region führten politische Ereignisse wie der ungarische Volksaufstand 1956, der Prager Frühling 1968 und die Ausrufung des Kriegsrechts in Polen 1981 zur Flucht vieler Menschen. Nach dem Ende des Kommunismus sorgten in den 1990er Jahren hohe Arbeitslosigkeit und Inflation für einen erneuten Anstieg der Auswanderung. Der EU-Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten 2004 erleichterte schließlich die Migration enorm. Viele zog es zu besser bezahlten Jobs ins EU-Ausland.
Während die massive Auswanderung den Fachkräftemangel in den westlichen EU-Ländern abschwächte, hinterließ sie einen Braindrain in den Herkunftsländern. Zwischen 2011 und 2020 stieg laut dem Atlas der Demografie, einer interaktiven Datenbank der Europäischen Kommission, der Anteil der im EU-Ausland lebenden Rumän*innen im erwerbsfähigen Alter von 14 % auf 23%. Auch in Bulgarien stieg diese Zahl von 7% auf 11% und in Polen von 4% auf 9%.
Wirtschaftlicher Aufschwung
Mittlerweile gehört die Arbeitslosigkeit in Mitteleuropa zu den niedrigsten in der EU, die Wirtschaft ist stabil und der Wohlstand steigt allmählich. Doch seit Jahren mangelt es spürbar an Fach- und Hilfskräften. Einheimische sind oft nicht mehr bereit, in Jobs zu arbeiten, die deutlich unter ihrem Qualifikationsniveau liegen. Viele Regierungen versuchten zunächst, emigrierte Staatsbürger*innen wieder für ein Leben im eigenen Land zu gewinnen. Mithilfe von Programmen wie »Gyere haza, magyar« (dt. »Komm nach Hause, Ungar*in«) oder »Powroty« (dt. »Rückkehrer*innen«) in Polen sollte die Heimkehr attraktiver gemacht werden. Diese Kampagnen informierten über Anstellungsmöglichkeiten, Formalitäten bei der Rückreise und Anreize für Rückkehrer*innen wie vorübergehende Steuersenkungen.
Einige nutzten diese Angebote und zogen zurück in ihre Herkunftsländer – insbesondere auch nach dem Brexit und während der COVID-19-Pandemie. Doch die Zahl der Heimkehrer*innen reicht für die Bedürfnisse der mittel- und osteuropäischen Wirtschaften bei weitem nicht aus. So benötigt Bulgarien mehr als 269.000 zusätzliche Arbeitskräfte. Das entspricht laut Vladislava Gubalova vom slowakischen Think Tank GLOBSEC etwa 9 % der derzeitigen Erwerbsbevölkerung.
Auch der Krieg in der Ukraine führte zu Veränderungen auf den Arbeitsmärkten. Infolge der russischen Aggression im Osten des Landes im Jahr 2014 kamen zahlreiche Ukrainer*innen in ihre EU-Nachbarländer. In Polen erhielten viele eine Arbeitserlaubnis und wurden wesentlicher Bestandteil der boomenden polnischen Wirtschaft. Ungarn zeigte sich ebenfalls interessiert an ukrainischen Arbeitskräften. Die ungarische Fluggesellschaft WizzAir betrieb laut dem ungarischen Forscher Ferenc Németh kurz vor Beginn der Vollinvasion sogar Direktflüge zu touristisch weniger attraktiven Zielen wie Saporischschja. Mit der Eskalation des Krieges im Jahr 2022 kehrten jedoch die meisten ukrainischen Männer zurück in ihre Heimat, was den Fachkräftemangel weiter verschärfte.
Mitteleuropa blickt nach Osten
Ersatz für die fehlenden Arbeitskräfte suchen die Länder Mitteleuropas mittlerweile weit über die Grenzen Europas hinweg. Immer mehr Migrant*innen aus Nicht-EU-Ländern ziehen in die Region. Laut dem Polnischen Statistischen Hauptamt stellten Ausländer*innen im Jahr 2023 rund 6,6 % aller Arbeitskräfte im Land. Die meisten stammen weiterhin aus den Nachbarstaaten Ukraine und Belarus, zuletzt aber vermehrt auch aus Indien, Kolumbien, Nepal, den Philippinen und Usbekistan. Die Anzahl der neuen Arbeitsgenehmigungen für Ausländer*innen aus Asien und Südamerika verfünffachte sich in Polen zuletzt, von 55.000 im Jahr 2019 auf 275.000 im Jahr 2023. Das bestätigt der Bericht »Migration 2.0. Poland in the Global Fight for Talent from Asia and Latin America« der Universität Warschau und der auf die Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer*innen spezialisierten EWL Group.
Als größte Wirtschaft der Region zieht Polen besonders viele Arbeitskräfte an, doch dieser Migrationstrend lässt sich in ganz Mittel- und Osteuropa beobachten. Für Drittstaatsangehörige sind die Länder nicht nur aufgrund ihrer EU-Mitgliedschaft und der höheren Lebensstandards, sondern auch aus finanzieller Sicht attraktiv – und das obwohl die Gehälter in Polen, der Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien laut Eurostat im EU-Vergleich zu den niedrigsten gehören. Trotz allem ist das monatliche Nettogehalt vieler Ausländer*innen in Polen laut »Migration 2.0« drei- bis viermal höher als in ihren Herkunftsländern.
Einwanderung abseits des Rampenlichts
Während mit der stillen Zustimmung der Regierungen der Fachkräftemangel zunehmend über Einwanderung gedeckt wird, sind viele Länder Mittel- und Osteuropas in der Öffentlichkeit für ihre migrationskritische oder gar einwanderungsfeindliche Rhetorik bekannt. So wird von jungen männlichen Geflüchteten oft behauptet, dass sie Wirtschaftsmigranten und keine »echten« Geflüchteten sein könnten. Ironischerweise ist genau diese Personengruppe dringend erforderlich für die boomenden Volkswirtschaften der Region. Laut »Migration 2.0« machen männliche Arbeitskräfte 75 % der neuen ausländischen Beschäftigten in Polen aus. Diese sind vor allem in den Bereichen Industrie, Dienstleistungen und Hotellerie tätig, 36% arbeiten auch als Handwerker. Ungarn, das sich öffentlich ebenfalls lautstark gegen Immigration ausspricht, vereinfachte zuletzt das Einwanderungsverfahren für qualifizierte Arbeiter*innen aus 15 Ländern, darunter Indonesien, die Philippinen, Kirgistan, Russland und Belarus. In Ungarn werden ausländische Arbeitskräfte insbesondere in chinesischen Batterie- und deutschen Autofabriken sowie im Bereich des Bauwesens eingesetzt.
Da der hohe Bedarf an Arbeitskräften und die zusätzlichen Visaverfahren bei Drittstaatsangehörigen große Herausforderungen für die Konsulate der mitteleuropäischen Staaten im Ausland bedeuten, wird die damit verbundene Arbeit oft an externe Firmen delegiert. Diese begleiten den meist drei bis sechs Monate dauernden Prozess von der Beantragung der Arbeitserlaubnis über die notwendigen Visaverfahren bis hin zur Einstellung der Migrant*innen in Europa. Die Verfahren sind kostspielig und können ein Vielfaches der Monatseinkünfte der Antragsteller*innen in ihren Herkunftsländern ausmachen. Es ergeben sich zudem häufig Umstände, die Korruption ermöglichen oder erleichtern. So auch im Fall eines Visaskandals, der 2023 Polen erschütterte und bei dem auch Mitarbeiter*innen des polnischen Außenministeriums ins Visier der Behörden gerieten.
Wohin führt die neue Wende?
Fast die Hälfte der Migrant*innen aus Asien und Südamerika plant laut »Migration 2.0« länger als zwei Jahre in Polen zu bleiben. Für die Zukunft wird deswegen eine nachhaltige Integrationspolitik für Migrant*innen und ihre Familien benötigt. Das vermeidet die Bildung paralleler Gesellschaften und schützt Migrant*innen vor Diskriminierung und Rassismus im Alltag.
Wir können hierbei von jenen eingewanderten Menschen lernen, die schon seit Jahrzehnten in der Region leben. Bei den regionalen Wahlen im April 2024 wurde Cao Hong Vinh als erste polnisch-vietnamesische Abgeordnete gewählt. Vietnames*innen leben seit der Zeit des Kommunismus in Polen, Tschechien und Ungarn. Vinh setzt sich aktiv für mehr interkulturelle Assistent*innen in Schulen ein, die in Zeiten steigender Einwanderung von großer Bedeutung sind. Neben einer Verbesserung der arbeitsrechtlichen Lage, der Integrationsangebote und des Zugangs zu Sprachkursen muss sich aber auch die oft von Vorurteilen und Diskriminierung geprägte Einstellung in der Aufnahmegesellschaft verändern.
Viele Mittel- und Osteuropäer*innen haben selbst Erfahrung mit Migration und pendeln mittlerweile zwischen ihrer Heimat und ihrem neuen Wohnort oder haben internationale Familien. Sie kennen die Herausforderungen, die Auswanderung und das Leben in einem fremden Land mit sich bringen, aus erster Hand. Auch sie können daher eine zentrale Rolle bei der Entwicklung einer positiven Einstellung gegenüber ausländischen Fachkräften spielen, indem sie durch das Teilen ihrer Erfahrungen und anhand ihres eigenen Beispiels für die Situation von Migrant*innen sensibilisieren.
Malwina Talik ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am IDM sowie freiberufliche Forscherin und Übersetzerin. Davor war sie als Expertin für wissenschaftliche Zusammenarbeit bei der Polnischen Akademie der Wissenschaften / Wien und Referentin für Öffentlichkeitsarbeit bei der Polnischen Botschaft ebenso in Wien tätig.