Rechtspopulismus in Europa: Zwischen Teilhabe und Zerstörung?
In ganz Europa sind rechtspopulistische Parteien auf dem Vormarsch. Auch im EU-Parlament sind sie mittlerweile in drei Fraktionen vertreten. PÉTER TECHET fragt in seinem Kommentar, ob die paneuropäische Organisation der rechten Kräfte als Zeichen für die Etablierung einer gesamteuropäischen Öffentlichkeit gewertet werden kann.
„Die Habsburgermonarchie schlägt zurück“, titelte das Medienportal „Politico“ im Sommer 2024. Anlass hierfür war ein Treffen dreier Politiker aus Staaten der ehemaligen Monarchie in Wien, bei dem die Gründung einer neuen rechtsnationalistischen Allianz angekündigt wurde. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán, der Parteivorsitzende der FPÖ Herbert Kickl und der ehemalige tschechische Ministerpräsident der ANO-Partei Andrej Babiš standen Ende Juni im Hotel InterContinental nebeneinander, um die Patrioten für Europa (kurz PfE oder Patriots) als eine neue politische Fraktion im Europäischen Parlament vorzustellen.
Das Habsburger Trio blieb jedoch nicht lang allein. Innerhalb kürzester Zeit schlossen sich weitere europäische Parteien, darunter auch Matteo Salvinis Lega aus Italien und Marine Le Pens Rassemblement National aus Frankreich, der neuen Fraktion an. Mittlerweile haben die Patriots insgesamt 84 Abgeordnete aus 13 Mitgliedstaaten im Europäischen Parlament und stellen somit nach der Europäischen Volkspartei (EVP) und der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten (S&D) sogar die drittgrößte Fraktion dar.
Rechte Kräfte: Zersplittert und isoliert?
Das eigentliche Ziel der Patriots, eine gemeinsame „Rechtsfront“ im Europäischen Parlament zu schaffen, wurde allerdings verfehlt. Rechts von der Mitte existieren nämlich noch zwei weitere Fraktionen: Die EU-skeptischen Konservativen und Reformer (EKR), zu denen etwa Giorgia Melonis Partei Fratelli d’Italia gehört, und die rechtsextreme Fraktion Europa der Souveränen Nationen (ESN), mitbegründet von der Alternative für Deutschland (AfD).
Zusammengerechnet hätten diese drei Fraktionen insgesamt 187 Mandate – und damit nur ein Mandat weniger als die stärkste Fraktion der konservativen EVP. Doch für solch einen Zusammenschluss sind die Uneinigkeiten zu groß. In Fragen der Migrations- oder Familienpolitik bestehen zwar viele Ähnlichkeiten – so setzen alle drei Fraktionen auf härtere Grenzkontrollen, sogar innerhalb der EU, und auf die Unterstützung traditioneller Familien. Doch das Verhältnis zum Krieg in der Ukraine ist jeweils von Grund auf anders. Die Patriots und die ESN sind russlandfreundlich eingestellt und drängen auf schnellen „Frieden“ mit Putin, während sich die EKR eindeutig pro-ukrainisch und pro-atlantisch präsentiert.
Darüber hinaus ist eine „Internationale der Nationalisten“, also ein globaler Zusammenschluss nationalistischer Parteien nach Art der Kommunistischen Internationale, grundsätzlich schwer vorstellbar. Der eigene Nationalismus dieser Staaten richtet sich meist irgendwann gegeneinander und verhindert langfristig eine echte Zusammenarbeit. An solchen inneren Spaltungen zerbrachen rechtsnationalistische Fraktionen im Europäischen Parlament bereits öfter. Die Identität, Tradition, Souveränität musste sich 2007 nach nur zehn Monaten auflösen, nachdem die rumänischen Nationalisten die Fraktion wegen rumänenfeindlicher Sprüche der italienischen Postfaschisten verlassen hatten. Auch die von 2019 bis 2024 bestehende rechtsradikale Fraktion Identität und Demokratie erlebte innere Streitigkeiten. So wurde im Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament die deutsche AfD ausgeschlossen, nachdem ihr Spitzenkandidat in einem Interview im Wahlkampf die Rolle der SS-Mitglieder relativiert hatte.
Die Abgrenzung von noch rechteren Fraktionen rückt auch die eigene – zumindest scheinbar – ein Stück weiter Richtung politischer Mitte und europäischem „Mainstream“. So grenzen sich die Patriots von der ESN und vor allem von der ihr angehörenden AfD ab. Die EKR wiederum nähert sich lieber der konservativen EVP an, als sich durch die Zusammenarbeit mit radikaleren Parteien und Fraktionen ins Abseits zu manövrieren. Die EVP selbst kooperiert weiterhin lieber mit den Sozialdemokraten, den Liberalen oder den Grünen im Europäischen Parlament als mit den Rechtspopulisten – doch die Kräfteverhältnisse verschieben sich langsam.
Der Cordon Sanitaire bröckelt
Die Patriots und die ESN sind im Europäischen Parlament weiterhin isoliert. Von Positionen im Präsidium und in den Ausschüssen wurden sie ausgeschlossen. Ganz anders dagegen die EKR. Mitglieder dieser EU-skeptischen Fraktion ergatterten gleich mehrere wichtige Positionen. So stellt die EKR zwei Vizepräsident*innen im Präsidium des Parlaments sowie drei Vorsitzende und zehn Vizevorsitzende in den Haupt- und Unterausschüssen. Zuletzt nominierte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Raffaele Fitto von der EKR zum für Kohäsionsfonds zuständigen Vizepräsidenten der Kommission. Linke und liberale Fraktionen kritisierten die Entscheidung, gerade einem rechtspopulistischen Politiker diese wichtige und einflussreiche Rolle anzuvertrauen.
Der Cordon sanitaire, also die strikte Abgrenzung gegenüber rechtsradikalen Kräften, bröckelt. Doch nicht nur im Europäischen Parlament, auch auf nationaler Ebene verschwindet er mancherorts zusehends. Populistische Parteien sind in vielen Ländern auf dem Vormarsch. In Italien ist Salvinis Lega Teil der Regierungskoalition, in der Slowakei kehrte 2023 die linksnationalistische Smer-Partei an die Macht zurück. In den Niederlanden stellt Geert Wilders Freiheitspartei (PVV) die stärkste Kraft in der dortigen Koalitionsregierung und in Kroatien koalieren die Rechtsnationalisten der Heimatbewegung (DP) mit in der konservativen Regierung. Zuletzt wurde Kickls FPÖ bei den Nationalratswahlen in Österreich stärkste Kraft und hat damit Chancen auf eine Regierungsbeteiligung (Stand Mitte Oktober 2024) und in Tschechien gewann die ANO-Partei von Babiš mit großem Vorsprung die Regionalwahlen.
Eine Wende lässt sich selbst in jenen europäischen Ländern beobachten, in denen die Rechtspopulisten noch in der Opposition sind. Nachdem Staatspräsident Emmanuel Macron in Frankreich eine linksgerichtete Regierung abgelehnt hatte, entstand eine neue Mitte-Rechts-Regierung ohne absolute Mehrheit im Parlament. Das Fortbestehen dieser Regierung hängt also davon ab, dass Le Pens Partei keinen Misstrauensantrag stellt. Nur in Deutschland stellt die Ablehnung der rechtsradikalen AfD noch einen Grundkonsens dar, dem sich auch die CDU/CSU unterwirft. In Finnland, Italien, Kroatien oder Österreich dagegen sind die konservativen Parteien längst bereit, auf regionaler und nationaler Ebene Koalitionen mit rechtspopulistischen Parteien einzugehen.
Aushöhlung der Demokratie
Wie düster muss also die Perspektive auf unsere europäische Zukunft sein? Die mehr als zehn Jahre andauernde Alleinherrschaft von Orbán in Ungarn ist weiterhin eher eine Ausnahme auf der politischen Karte Europas. In den meisten europäischen Ländern funktioniert die demokratische Dynamik noch. So sind Regierungswechsel auch nach einer Phase mit rechten Parteien an der Macht möglich. Das zeigen Länder wie Slowenien und Polen, in denen rechtspopulistische Regierungen 2022 bzw. 2023 erfolgreich abgewählt wurden. Außerdem regieren Rechtspopulisten in Europa – außer in Ungarn – nicht allein, sondern in Koalitionen, was eine gewisse Kontrolle mit sich bringt.
Was bedeutet die paneuropäische Organisation der Rechtspopulisten in Allianzen im Europäischen Parlament aber für das gesamteuropäische Projekt? Akzeptieren sie damit das vereinigte Europa, wenn sie auch dabei ein „anderes Europa“ propagieren? Oder dient die transnationale Kooperation bloß dem Ziel, mit vereinigten Kräften die Europäische Union von innen heraus auszuhöhlen?
So wie rechtspopulistische Regierungen auf nationaler Ebene, allen voran die ungarische, mit Vetos oder Vetodrohungen den Entscheidungsfindungsprozess in der EU lahmlegen oder zumindest verlangsamen können, so kann die starke Präsenz von rechtspopulistischen Fraktionen auch die Rolle des Europäischen Parlaments abschwächen. Das EU-Parlament zeigte sich bisher in vielen Fragen föderalistischer und kritisierte demokratiegefährdende Tendenzen in den Mitgliedstaaten deutlicher als etwa die EU-Kommission. In einem Europäischen Parlament, in dem drei rechtspopulistische Fraktionen annähernd gleich stark sind wie die Konservativen und in dem die konservative EVP selbst bereits die EU-skeptische EKR als Partnerin akzeptiert, kann sich dies jedoch schnell ändern.
Péter Techet ist promovierter Jurist und Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am IDM.