Zeitenwende(n): Eine Frage der Perspektive
Russlands Vollinvasion in der Ukraine läutete eine sicherheitspolitische Zeitenwende ein. Doch was bleibt von dem Begriff fast drei Jahre nach seiner Prägung durch den deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz? ULRICH SCHNECKENER erläutert in seinem Kommentar, warum die Metaphorik der Zeitenwende auch problematische Seiten hat.
Mit seinem Auftritt vor dem Deutschen Bundestag am 27. Februar 2022 – drei Tage nach dem Beginn der russischen Vollinvasion in der Ukraine – verhalf der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz dem Begriff Zeitenwende zu einer globalen Karriere. Seither wurde das deutsche Wort in mehrere Sprachen eingebürgert und die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) kürte „Zeitenwende“ 2022 zum „Wort des Jahres“.
In Reaktion auf Russlands Drei-Fronten-Angriff auf die Ukraine erklärte Scholz damals: „Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts, oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen.“ Scholz bezog die Zeitenwende auf die deutsche wie auch auf die europäische Ebene und erteilte sich selbst einen Handlungsauftrag: „Angesichts der Zeitenwende, die Putins Aggression bedeutet, lautet unser Maßstab: Was für die Sicherung des Friedens in Europa gebraucht wird, das wird getan.“
Doch worin besteht die Zeitenwende konkret? Was soll aus ihr folgen? Und sind die getroffenen Maßnahmen ausreichend? Fast drei Jahre nach Beginn der russischen Invasion bleiben diese Fragen offen und sind zunehmend umstritten. Scholz verweist auf die Kursänderungen in der nationalen Verteidigungspolitik und auf die Rolle Deutschlands als zweitgrößter militärischer Unterstützer der Ukraine (gemessen an absoluten Zahlen). Andere hingegen, darunter auch Stimmen innerhalb des Regierungslagers, halten die Zeitenwende bereits wieder für abgesagt, weil die Unterstützung nicht nur zögerlich erfolge, sondern auch hinter dem zurückbleibe, was möglich und erforderlich wäre. Wiederum andere, nicht zuletzt die Populisten der Alternative für Deutschland (AfD) und des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), wollen die Zeitenwende möglichst rasch rückgängig machen. Sie fordern sofortige „Friedensgespräche“ mit Putin, ein Ende der Waffenlieferungen für die Ukraine sowie den Wiederbezug von russischem Gas.
Wessen Welt ändert sich?
Sieht man über den parteipolitischen Tellerrand hinaus, so erweist sich die Metaphorik der Zeitenwende als ambivalent – gerade mit Blick auf die verfehlte deutsche Politik gegenüber Putins Russland. Dazu möchte ich drei Gedanken beisteuern: Erstens impliziert der Begriff, wie Scholz treffend feststellt, eine scharfe Trennung von Davor und Danach. Er steht für eine tiefe, irreversible historische Zäsur und für damit einhergehende umwälzende Veränderungen. Der russische Angriffs- und Eroberungskrieg fällt zweifellos in diese Kategorie. Gleichwohl: Wer wann welches Ereignis zu einer Zeitenwende erklärt, hängt nur in Teilen vom realen Geschehen selbst ab, sondern zuvorderst von der eigenen Wahrnehmung und Positionierung. Das Ausrufen einer Zeitenwende ergibt sich nicht umstandslos aus einem Ereignis, sondern ist eine Interpretation durch die jeweiligen Akteure.
So fand aus der Sicht der Ukraine – und anderer mittel- und osteuropäischer Staaten – die eigentliche Zeitenwende bereits 2014 statt, als Russland die Krym annektierte und in den Donbas im Osten der Ukraine einmarschierte. Damals wäre in der deutschen Politik kaum jemand, auch Scholz nicht, auf die Idee gekommen, diesen Begriff zu verwenden. Wenn nun von Zeitenwende die Rede ist, verweist das zunächst auf die fundamentale Erschütterung des eigenen, bis dato wenig hinterfragten Weltbildes. Denn es ist die eigene Welt, die plötzlich nicht mehr als dieselbe erscheint wie davor. In Putins Kopf, geprägt von anti-westlichen Feindbildern und neo-imperialen Vorstellungen, dürfte die Welt hingegen auch heute immer noch dieselbe sein.
Kehrtwende nach gescheiterter Russland-Politik
Zweitens erfüllt das Signalwort Zeitenwende eine legitimatorische Funktion. Wenn sich die Welt so grundlegend verändert, können außerordentliche Maßnahmen, die für notwendig und alternativlos gehalten werden, vor der eigenen Bevölkerung leichter gerechtfertigt werden. Dies gilt umso mehr, je tiefgreifender die Abkehr von früheren Positionen und Glaubenssätzen ist, die in der Gesellschaft breit verankert sind. Der deutsche Bundeskanzler hatte im Februar 2022 allen Grund zu einem solchen Kurswechsel. Offenkundig war die bisherige deutsche Sicherheits-, Energie- und Russlandpolitik gescheitert. Diese basierte vor allem auf zwei Leitsätzen: Zum einen gebe es Sicherheit in Europa nur mit und nicht ohne Russland, zum anderen führe wirtschaftliche Verflechtung, vor allem Geschäfte im Energiesektor, zu Stabilität.
Dieser von der ehemaligen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier vertretene Ansatz wurde auch nach 2014 im Kern nicht korrigiert. Im Gegenteil: Durch den Ausbau der Abhängigkeit von Gasimporten, den Bau von Nordstream II und den Verkauf von Energie-Infrastrukturen an vom Kreml kontrollierte Konzerne wurden die wirtschaftlichen Verflechtungen mit Russland sogar noch intensiviert. Deutschland trug unbeabsichtigt, aber fahrlässig mit dazu bei, Putins Regime jene Ressourcen zu verschaffen, die nun im Krieg gegen die Ukraine eingesetzt werden. Wem die eigene Politik dermaßen brutal auf die Füße fällt, der muss wohl von einer Zeitenwende sprechen, um argumentativ eine drastische Kehrtwende einzuleiten.
Dialektik der Zeitenwende?
Das führt zum dritten, wohl problematischsten Punkt: Die Rede von der Zeitenwende birgt die Gefahr, die eigene Fehlleistung zu relativieren oder zu bemänteln. Wenn denn die Welt vorher eine andere war, dann war die eigene Politik womöglich gar nicht so verkehrt. Wenn sich gewissermaßen „über Nacht“ alles ändert – was angeblich niemand vorsehen konnte – gibt es rückblickend wenig aufzuarbeiten und kaum Lehren, die aus dem eigenen Handeln gezogen werden könnten. Die Betonung eines radikalen Bruchs verstellt somit den Blick auf außenpolitische Pfadabhängigkeiten und kausale Zusammenhänge. In dieser Lesart wirkt der Begriff Zeitenwende wie ein schaler, selbstgerechter Versuch, sich für das eigene Politikversagen und den Mangel an politischer Urteilsfähigkeit zu exkulpieren. Das wiederum erleichtert es, in alte Denkmuster und Parolen zurückzufallen, statt sich selbstkritisch mit der eigenen Verantwortlichkeit auseinanderzusetzen.
Dies war sicher nicht von Scholz intendiert, als er den Begriff in die Welt setzte. Wer aber heute die deutsche Debattenlage, nicht zuletzt in den TV-Talkshows, verfolgt, muss fürchten, dass genau dieser Effekt bereits eingesetzt hat. Längst sind wieder jene Stimmen in Politik und Gesellschaft lauter geworden, die pauschal auf einen „Frieden“ mit Russland drängen und sei es zum Preis neuer, gewaltsam gezogener Grenzen in Europa. Dies geschähe zum wiederholten Male über die Köpfe der ukrainischen Betroffenen hinweg, ganz so wie es in der unseligen Tradition deutscher Politik steht, die stets primär auf Moskau blickte und erst in zweiter Linie auf die von Putin bedrohten Nachbarstaaten. Damit würde sich jedoch die von Scholz avisierte Zeitenwende auf geradezu dialektische Weise in ihr Gegenteil verkehren.
Ulrich Schneckener ist seit 2009 Professor für Internationale Beziehungen & Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Osnabrück und seit 2016 Vorsitzender des Vorstandes der Deutschen Stiftung Friedensforschung (DSF). Er ist Mitglied im Internationalen Rat des IDM. In seiner Forschung beschäftigt er sich unter anderem mit globaler und europäischer Sicherheitspolitik und mit Fragen der EU-Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik.