Geburtenrückgang in Mittel- und Osteuropa

Vorwort des Herausgebers

Einer der Themenbereiche der EU-Erweiterung, der Emotionen hervorruft, ist die Frage der Migration von Arbeitskräften aus den Kandidatenländern in die EU. Zwar wird der ökonomische Anreiz der derzeitigen EU-Mitgliedsländer noch längerfristig bestehen bleiben, doch die Wanderung ist bekanntlich nicht nur vom Aufnahmeland abhängig, sondern in erster Linie von der Situation in den potenziellen Auswanderungsländern.

In der kommunistischen Zeit lag die Geburtenrate in den mittel- und osteuropäischen Ländern zunächst deutlich über den Werten in Westeuropa. Seit den siebziger Jahren sinken die Geburtenraten jedoch stetig – ein Trend, der sich mit der Demokratisierung noch verstärkte. Die Ursachen für dieses Phänomen werden in den folgenden Beiträgen detailliert dargestellt.

Es liegt auf der Hand, dass die Themenbereiche Migration und demographische Entwicklung untrennbar miteinander verbunden sind. Die Doppelbelastung der mittel- und osteuropäischen Staaten durch den Rückgang der Geburtenrate und die Auswanderung junger, oft der am besten qualifizierten, Arbeitskräfte steht daher im Zentrum dieser Publikation. Die Konsequenzen dieser Entwicklung sind das Fehlen qualifizierter Arbeitskräfte ebenso wie die Problematik der Finanzierung des Sozial- und Pensionswesens. Laut einer Eurostat-Studie wird der Anteil der über 65-jährigen Bevölkerung in den Kandidatenländern von derzeit 13% bis zum Jahr 2020 auf 18% anwachsen. Daher werden laut dem bekannten Bevölkerungswissenschafter Rainer Münz „viele Staaten Ostmitteleuropas […] in zehn bis 15 Jahren selbst versuchen, Arbeitskräfte anzuwerben.“

Der vorliegende Band zeigt, dass die demographischen Tendenzen einer Ost-West-Migration massiv entgegenwirken. Neben der durch die EU-Integration zu erwartenden makroökonomischen Stabilisierung in den Kandidatenländern gibt es darüber hinaus auch die Perspektive einer Arbeitskräfteknappheit. Da in den Kandidatenländern am Ende der neunziger Jahren keine massive allgemeine Auswanderungsbewegung feststellbar war, erscheinen derartige Szenarien für die Zeit nach deren EU-Beitritt damit noch unwahrscheinlicher.

Im einleitenden Beitrag haben Heinz Fassmann und Rainer Münz die allgemeinen Tendenzen analysiert und die Entwicklung in den Kandidatenländern mit jener in Österreich verglichen. Sie belegen u. a., dass die Nachbarländer Österreichs – Tschechien, Ungarn, die Slowakei und Slowenien – bereits 1999 einen positiven Wanderungssaldo aufwiesen. Zuwanderung ist auch die einzige Möglichkeit, einem enormen Bevölkerungsverlust in den Ländern Mittel- und Osteuropas effektiv entgegenzusteuern.

Die Länderberichte zeigen die zum Teil dramatischen Entwicklungen, indem sie die demographischen Daten der kommunistischen Ära mit den aktuellen kontrastieren und auf die Konsequenzen für die sozialen Strukturen des jeweiligen Landes hinweisen.

An dieser Stelle möchte ich den Autorinnen und Autoren für ihre wissenschaftlichen Beiträge herzlich danken. Mit dieser Publikation des Instituts für den Donauraum und Mittelueropa (IDM) soll einem Thema mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden, dem in der bisherigen Diskussion im Rahmen der EU-Erweiterung fälschlicherweise kaum Bedeutung zugemessen wurde.

Mag. Gerald Roßkogler

  • Titel: Geburtenrückgang in Mittel- und Osteuropa
  • Ausgabe: 4/2001