Vorträge zur IDM Tagung “Das neue Humanpotenzial: Mittel-, Ost- und Südosteuropa auf dem Weg zur Wissensgesellschaft”

Date/Time
February 3, 2003 - February 4, 2003
10:00 - 16:00 CEST/CET


Michael Daxner Wien

‘DAS NEUE HUMANKAPITAL’

Tagung des IDM Wien 3. und 4. Februar 2003

‘Einige Thesen zur Situation in Südosteuropa

Für die Tagung habe ich aus einem laufenden Beratungsprojekt zu Soft Sectors (Im Auftrag des BMBWK und in Abstimmung mit dem Koordinator des Stabilitätspakts, Dr. Busek) einen signifikanten Abschnitt gekürzt und bearbeitet. Der Begriff der Soft Sectors, der zentral für die folgenden Thesen ist, beruht auf einer Setzung, wonach ‚Hard Sectors’ alle die Bereiche sind, die im Zusammenhang mit ökonomischen und politischen Infrastrukturen zusammenhängen, also in erster Linie Verteidigung, inne Sicherheit, Transport, Verkehr, Energie, und Wirtschaftssysteme, sowie, aus hier nicht weiter erläuterten Gründen Judikatur und Medien. ‚Soft Sectors’, im Gegensatz dazu, betreffen die Bereiche Soziale Sicherung, Gesundheit, Bildung, Wissenschaft und Forschung, Arbeitsverwaltung und Kultur. Eine genauere wissenschaftliche und politisch handlungsorientierte Beschreibung und Systematisierung der Soft Sectors ist zum Verständnis des folgenden Textes nicht nötig; sie wird in der endgültigen Studie (Abschluss voraussichtlich März 2003) in extenso geleistet.

Die Beschlüsse zur Erweiterung der Europäischen Union im Dezember 2002 haben überwiegend ein optimistisches und positives Echo gefunden. Allerdings mischen sich unüberhörbar Stimmen in den Chor, die nachfragten, was mit den Staaten und Gesellschaften Südosteuropas, die nicht in den Kreis der Kandidaten aufgenommen wurden, in absehbarer Zukunft geschehen würde; und wie eigentlich die Implementierung europäischer Gemeinsamkeiten auf der praktischen Ebene mit dem programmatischen Fahrplan und den Rahmensetzungen gleichziehen könnten.

Beide Fragen sind Oberflächenphänomene. Eine genaue Beschreibung der tatsächlichen Entwicklungen und Veränderungen auf dem Balkan und in Südosteuropa ergibt ein verwirrendes Bild, das durch die vielfältigen Analysen nicht wesentlich klarer wird. Damit ist ein Problem angesprochen, das die folgenden Erörterungen mitbestimmt. Es mangelt weder an tiefgreifenden Analysen noch an vernünftig strukturierten Programmen für die Region, und dennoch kann sich ein wohlwollend­distanzierter Beobachter des Eindrucks nicht erwehren, dass beides, Analysen und Programme, mit der Entwicklungsperspektive von Millionen Individuen, von jungen und alten Menschen, von Männern und Frauen, herzlich wenig zu tun hat. Würde man umgekehrt eine ähnlich wohlwollend distanzierte Beschreibung der unzähligen Einzelprojekte, die von Regierungen, NGOs und Einzelpersonen unternommen werden, im Hinblick auf diese Perspektiven untersuchen, so würde man schnell feststellen, dass diese zwar sehr wohl mit den konkreten Menschen zu tun haben, aber in einer seltsam unscharfen unübersichtlichen Weise mit der Politik verbunden sind. Die Gefahr besteht, dass diese Unübersichtlichkeit dazu verführt, in weiteren analytischen Schritten sich entweder in der Ursachenforschung einem unendlichen Regress auszuliefern, oder zu dezisionistischen Vorschlägen zu kommen, die das Rad auf einer weiteren Ebene drehen.

Mein Anliegen ist es, aus der Vernachlässigung der sogenannten „Soft Sectors“ praktische, auf die gesamte Region bezogene Konsequenzen möglicher Handlungen, Projekte und Programme zu entwerfen. Ich kann dabei nicht auf viele der Analysen verzichten, aber ich muß mich auf etwas anderes konzentrieren: Die Notwendigkeit praktischer Handlungen ergibt sich, w​enn Probleme von den Betroffenen nicht so thematisiert werden können, dass diese sie selbst, unmittelbar und mit vertretbarem Aufwand lösen können.​ Diese einfache Feststellung wird sofort weniger trivial, wenn wir uns vor Augen halten, in wie vielfältiger Weise lokale, regionale, nationale und übernationale Politik mit eben solchen Interessen, mit Einsichten und Blindheiten, mit Lebensgewohnheiten und unerträglichen Lebensumständen koinzidieren und kollidieren. Im folgenden werde ich eine Reihe von kritischen Aspekten auflisten, d.h. mich auf das konzentrieren, was nicht oder noch nicht geschehen ist, was meines Erachtens falsch läuft, und wo unmittelbar Abhilfe geschaffen werden muss. Ich versuche dabei, meine eigenen normativen Grundsätze so weit wie möglich in den Hintergrund zu stellen, um nicht in die Gefahr zu geraten, sozusagen unmittelbar aus der Kritik unerbetene oder erbetene Ratschläge zu geben. Und trotz aller Nähe zu analytischen Verfahren bleibt in diesem Abschnitt einiges bewusst auf der beschreibenden oder kritischen Ebene, und ich muss die Nachfrage und Teile der Begründungen der Rezeption meiner Beobachtungen überlassen. Angesichts der praktischen Teile meiner Arbeit an den Soft Sectors halte ich dies für ein vertretbares Verfahren. Ich betrachte, in Übereinstimmung mit meiner Studie, die gesamte südosteuropäische Region, den „Balkan“, wobei ich mich wenig mit Griechenland und der Türkei im einzelnen befasse, was an anderer Stelle ausführlicher erklärt werden kann.

1. Die drei Perspektiven: S​tabilität, Entwicklung, Selbstbestimmung​ sind die am häufigsten genannten Legitimationen für internationales politisches Handeln in Südosteuropa. Das Ziel einer Integration der Region in Europa​ist nicht autonom, sondern aus dem Mischungsverhältnis der drei Optionen konstruiert. Diese sind untereinander inkongruent und teilweise inkompatibel. Wer sich für eine Priorität unter diesen dreien entscheidet, ist im Hinblick auf seine Interessen, politischen Motive und die Autonomie seiner Zielsetzung rechenschaftspflichtig. Die Bevölkerung und die Politiker in Südosteuropa sehen mit großer Deutlichkeit, dass die direkten und indirekten Interventionen westlicher Politik nur wenig Legitimation haben, normativ auf ihren Vorbildcharakter zu verwiesen oder gar unter die Bedingungen von Kooperation und Assoziation undifferenziert alle Strukturen und Verfahrensweisen ihres politischen Raumes auf Südosteuropa übertragen zu wollen. Natürlich bleibt der politischen Klasse auf dem Balkan nicht verborgen, in wie vielen europäischen Ländern eine Fatigue de Democracie, eine verbreitete Demokratiemüdigkeit, Auswege in Populismus oder autoritären Segmenten suchen; die in der neoliberalen Wirtschaftspolitik bis zum Extrem getriebene Trennung der politischen staatlichen Sphäre von der gesellschaftlich­wirtschaftlich­kulturellen Sphäre findet im Westen immer schärfere und konkretere Kritik, während die gleiche neoliberale Lehre noch immer bestimmendes Strategiemoment vieler internationaler Interventionen ist. Die aufgeklärteren unter den SEE­Politikern verstehen gleichwohl, dass bestimmte Strukturen, die im Westen bereits in das Stadium ihrer Kritik und Überwindung sind, zur Herstellung bestimmter „standardisierter Approximationen“ an Europa vielleicht notwendig sind. Aber es herrscht ein grundlegendes Misstrauen gegenüber den undifferenzierten Machbarkeitsvorstellungen oktroyierter Konditionen. Mit einer gewissen Unehrlichkeit wissen das die Interventen genauso wie die Betroffenen, eine kritische Konfliktkultur hat sich aber nicht entwickelt. Oft wird der Stabilitätsaspekt s​o interpretiert, als wäre die Stabilität für den Westen das Kriterium für Maßnahmen, die die Stabilität in Südosteuropa herstellen sollen. Oft wird der vor allem ökonomische Entwicklungsaspekt stärker unter dem Blickwinkel der Marktöffnung und Globalisierung im Sinne der WTO und GATS gesehen als im Hinblick auf die lokale und regionale Nachhaltigkeit von Entwicklungsstrukturen. Und oft wird die Selbstbestimmung von Völkern, ethnischen Gemeinschaften, Minderheiten, Geschlechtern, bestimmten sozialen Gruppen etc. unter anachronistischen nationalstaatlichen Maßstäben propagiert, wo die übernationale Integration Prinzipien wie Souveränität, Interventionsverbote und ­gebote, Freizügigkeit etc. ganz anders behandelt. Der Mangel an Aufrichtigkeit ist vielfach taktisch, vielfach aber bei besten Intentionen auch nur dilettantisch. So wird etwa im ökonomischen Bereich unter dem Aspekt der Globalisierung viel zu wenig darüber diskutiert, dass Globalisierung für Europa zunächst einmal Europäisierung b​edeutet und vergleichbare Strukturen auf anderen Kontinenten, wie etwa dem lateinamerikanischen oder südostasiatischen Raum, nur eine marginale Rolle im politischen Diskurs spielen.

Die Politik der großen Akteure, EU, Weltbank, Weltwährungsfonds, NATO, oft auch UN, OSZE oder Europarat, wirkt in vielen Bereichen merkwürdig „unempirisch“. Zwar enthalten viele Analysen und Programme eine Menge statistischer Daten, zwar gibt es die Armutsberichte der Weltbank, zwar gibt es die Evaluationen der ÖCD und des Stabilitätspakts zum Bildungswesen, aber die Aussagekraft der empirischen Befunde ist beschränkt. Das liegt zum einen daran, dass die bloße Gewinnung von Daten und ihre Interpretation in zwei völlig unterschiedlichen hermeneutischen Sphären stattfinden, das liegt aber auch daran, dass der Bedarf an Empirie in fast allen politischen Zusammenhängen nur oder überwiegend auf der Ebene der politischen Klasse definiert und ausagiert wird, wobei die politische Realität und die Lebenswirklichkeit von Millionen Menschen in vielen der empirischen oder quasi­empirischen Befunde weitgehend verloren geht. Meine Kritik geht dahin, dass auf der einen Seite viel zu wenig anthropologische, soziologische, sozialpsychologische und mikropolitische Erkenntnisse als harter Bestandteil politischer Planung und Intervention begriffen werden, oft fehlt es auch an den einfachsten Kenntnissen; auf der anderen Seite werden unbesehen empirische Befunde, die sich aus überhöhten Denk­ und Wahrnehmungsstrukturen speisen, soweit für die eigenen Pläne verwendbar, als Realität akzeptiert. Der Gegeneinwand liegt auf der Hand: Man kann eine Region mit Millionen Menschen nicht in ein integrierten langjähriges Programm der Aktionsforschung verwandeln und sozusagen die Region in Laboratorium nachhaltiger, einheitlicher und strategisch ausgerichteter Unterstützungs­ und Integrationspolitik verwandeln. Das aber wäre nur eine ins Unsinnige überspitzte und extreme Gegenvorstellung zum Vorwurf des Unempirischen. Wenn man sich die Zusammensetzung der politischen Entscheidungsgremien ansieht, wenn man die Grundlagen z.B. des SAP und anderer Integrationsprogramme analysiert, dann wird schnell deutlich, dass fahrlässig auf einen Input von Empirie, die die Lebenswelt und Lebensplanung der betroffenen Menschen betrifft, verzichtet wird.

Obwohl die Analysen, Beratungs­ und Bewertungsmissionen und eine Fülle von Material von ausgesprochenen Spezialisten angefertigt wurden und es fast den Anschein hat, als wäre eine Südosteuropa­Subdisziplin der politischen Wissenschaften im Entstehen, ist auffällig, wie wenig kongruent das Expertenurteil in die Politik einfließt. Ich bin mir der Ungerechtigkeit bewusst, wenn ich verallgemeinere und feststelle, dass ganz viele Expertenurteile und Analysen so stark von der strategischen Zielrichtung der Auftraggeber bestimmt sind, dass ihre Arbeit stärker legitimatorischen als erklärenden Charakter hat. Das kennen wir auch aus ganz unverdächtigen wissenschaftlichen Segmenten: Immer dort, wo der Gegenstand wissenschaftlicher Expertise ganz nah an einer in Umsetzung begriffenen Politik liegt, ist dieser legitimatorische Aspekt fast unvermeidlich, es sei denn, die Experten können es sich aus verschiedenen Gründen leisten, ihre Unabhängigkeit gegenüber vorhandenen Machtstrukturen und Machtspielen eine Zeit lang aufrecht zu erhalten. Eines dieser unverdächtigen Beispiele ist die europäische Hochschulforschung. Bei meiner Beschreibung der Situation geht es mir um einen ganz speziellen Aspekt, der nicht unmittelbar einsichtig ist, weshalb ich zur Erklärung etwas ausholen muss:

Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass nicht nur die Entnazifizierung, sondern vor allem das US­amerikanische Re­Education­Programm nach 1945 nachhaltig dazu beigetragen hat, dass aus auferlegter Demokratisierung von Strukturen eine leidlich gewollte Demokratie in Deutschland und Österreich entstehen konnte. Die Angelegenheit ist deshalb delikat, weil alle extern begründeten Interventionen in Erziehung und Sozialisation einer Gesellschaft eine ganze Reihe von Fragen sowohl der Legitimität als auch der Funktionalität aufwerfen; darum geht es mir aber weniger. Bei eine Rekonstruktion der amerikanischen Re­Education­Politik fällt auf, dass sich diese Politik einer außergewöhnlich dichten Elite von akademischen Experten bedient hatte, deren Prominenz und Biographie nicht von vorneherein ein Engagement in den besetzten Staaten hätte erwarten lassen, deren wissenschaftliches Prestige und Beratungsstrategien aber offensichtlich nicht auf beratungsresistente Generale und Außenpolitiker gestoßen sind. Nun ergeben sich hier sofort zwei Fragen: zum einen, ob cum grano salis das Re­Education­Konzept übertragbar ist, und ob die tatsächliche Wirkungsweise (Impact) der Experten richtig gesehen wird. Zur zweiten Frage mag man ja bedenken, dass der indirekte Einfluss sehr vieler Spezialisten in den Analysen, in Projekten und Empfehlungen durchaus zum Ausdruck kommt. Darin liegt aber das Problem: Dieser Ausdruck wird von der Politik, und zwar sowohl von der regionalen in Südosteuropa als auch vonseiten der westlichen Akteure, durch verschiedene Opportunitäten gefiltert, was dann so weit geht, dass entweder als richtig erkannte Empfehlungen und Vorschläge schlicht ignoriert werden, weil Geld, Mittel oder Einvernehmen unter den Akteuren fehlen, oder wegen ihrer zu idealistischen oder zu rigiden oder zu „unpolitischen“ Struktur nicht akzeptabel erscheinen. Das gilt für fast alle überschaubaren Sektoren, im Bereich des Bildungswesens und der gesellschaftlichen Basisstrukturen kann man es besonders genau beweisen. Nun hängt die Expertenrolle mit einem Konzept zusammen, das in der schon klassischen Bürokratiethese von Max Weber entwickelt wurde, wonach nämlich eine unabhängige und tatkräftige Verwaltung unter anderem das Vertrauen der Bevölkerung dann verdient, wenn auf ihre Expertise, also ihre Sachkunde, vertraut werden kann und diese nicht bei jeder Einzelentscheidung infrage gestellt werden muss. Ein verfehlter Kurzschluss wäre es, Elemente von Expertokratie den verschiedenen Einflussformen der Intervention von außen zuzusprechen, zumal sehr viele Regierungen in der Region die Tendenz haben, bestimmte unlösbare Probleme scheinbar neutral an Experten zu vergeben, um dann auch Verantwortlichkeiten abzuschieben oder hinauszuzögern. Ich denke, dass die Rolle wissenschaftlicher Politikberatung gerade auf dem Balkan oft zu einer großen Verschwendung intellektueller Ressourcen, zu einer wechselseitigen Abwertung lokaler und externer Expertise und vor allem zu einer Verwirrung der möglichen Handlungsstränge geführt haben. Ich komme im Lauf meiner Studie und auch in den vorliegenden Thesen immer wieder darauf zu sprechen, dass es ja Ausnahmen gibt: Wenn ich die meisten Studien der ESI (European Stability Initiative) als positive Ausnahme bezeichne, ohne mit dieser Organisation professionell anders als durch Rezeption verbunden zu sein, dann deshalb, weil hier ein Weg gefunden wurde, die Expertise in unmittelbare, entscheidungsnahe Beratung zu modellieren, wie vor allem an der letzten Studie (Western Balkans, 2002) genau nachzuvollziehen ist.
Die andere Frage, die nach Re­Education, hat einen hochbrisanten Hintergrund. Es war die Auffassung der amerikanischen Alliierten, dass Eingriff in und Zugriff auf das Bildungs­ und Hochschulwesen vor allem in Deutschland eine wesentliche Voraussetzung zur gesamtgesellschaftlichen Rückführung der Bevölkerung in eine universell durch Menschenrechte, Demokratie und zivilgesellschaftliche Elemente gekennzeichnete Staatengemeinschaft​sei. Die Position der internationalen Akteure auf dem Balkan ist natürlich ganz anders als die der Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland oder Österreich. Aber das Rückführungsmotiv und ein guter Teil der Legitimation von Interventionen als humanitäre legen diese Analogie nahe. Alle Heimholungsstrategien gehen von der Prämisse aus, dass sich bestimmte Gesellschaften von einem weitgehend als global begriffenen universellen Standard normativer Gesellschaftsvorstellungen entfernt haben. Es macht für mich einen ganz entscheidenden Unterschied, ob es tatsächlich eine Absetzbewegung gegeben hatte, also z.B. durch jahrzehntelange Verfestigung bestimmter Spielarten von Staatssozialismus oder durch explizite Diktaturen wie unter Milosevic und Ceausescu, oder ob diese Gesellschaften nicht bei der Formulierung der universellen und globalen Grundsätze zu wenig oder nicht beteiligt waren und deshalb von ihnen entfernt sind, ohne dass es eine rezente Absetzbewegung gegeben hat. Wahrscheinliche spielen beide Varianten zusammen. Die Diskussion ist deshalb so brisant, weil sie auch ganz unterschiedliche Strategieansätze Europas (verallgemeinert, möglicherweise ohne Großbritannien) und der USA berühren, bis hin zur Hierarchie von Achsen des Bösen,​ Schurkenstaaten,​und Gesellschaftsformen, denen die USA mehr oder weniger trauen oder misstrauen, während für die Europäer sehr euphemistisch und optimistisch der Motiv der weltbürgerlichen Absicht humanitärer Interventionen (Habermas) angenommen werden kann1. Das berührt nicht nur das Verständnis der Europäer von sich selbst, sondern das Verständnis des politische Gravitationspunktes Brüssel von den unterschiedlichen Graden der Annäherung an das virtuelle europäische Modell. Hier ist meines Erachtens nicht nur bei den Assoziations­ und Kandidatenverhandlungen im Zuge der EU­Erweiterung viel zu wenig Klarheit geschaffen worden, sondern auch in bezug auf die Länder, die vom Kandidatenstatus noch ausgeschlossen sind, vieles versäumt worden. Re­Education hat ja ein Präfix, das auf einen Idealpunkt verweist. „Re“ kann ja bedeutet, dass an einen früheren Status angeknüpft werden kann, oder aber es bedeutet, dass wieder erzogen werden muss, was durch mangelnde Erziehung und Sozialisation brachgelegen hatte. Wiederum spielen beide Varianten eine Rolle. Sehr grob vereinfacht würde ein Element von Wiederherstellung ein Anknüpfen an die europäische Aufklärung und Säkularisierung immer dort sinnvoll sein, wo Gesellschaften an dieser Aufklärung aktiven und nachhaltigen Anteil gehabt haben, während es andere Gesellschaften gibt, bei denen dies überhaupt nicht der Fall war. Das muss man nicht in eine nach rückwärts gewandte Kritik umwandeln, sondern schlicht zur Kenntnis nehmen, dass ganz bestimmte Elemente selbstverständlicher westlicher Argumentation überhaupt nicht verstanden werden können, wenn es eben an der Nachhaltigkeit aufklärerischer Erfahrung und ihrer Dialektik fehlt.

2. Insgesamt ist eine mangelnde Übersetzungsleistung festzustellen, wenn es um die Vermittlung europäischer oder westlicher Zielperspektiven geht, womit auch schon die Konnotation von „westlich“ angesprochen ist, die ja wahlweise als machtpolitisch überlegen, zivilisatorisch oder funktional besser entwickelt, oder schlicht metonymisch verwendet wird. Man kann dies an mehreren Beispielen sehr drastisch darstellen. Ein großer Teil der westlichen Politiker legitimiert alle Vorschläge und Strategie damit, dass die Völker und Staaten Südosteuropas „nach Europa“ kommen müssen oder sollen. Dieser Sprachgebrauch ist teilweise in das Vokabular der regionalen Politik übernommen worden, und hat sich dort festgesetzt. Man kann das nicht als Beckmesserei oder Spitzfindigkeit abtun, indem man behauptet, es sei ganz klar, was mit der Richtungsangabe „nach Europa“ gemeint ist. Es ist nämlich schon auf der empirischen Ebene alles andere als klar. Im sozialökonomischen Alltagsdiskurs bedeutet die Richtungsentscheidung eindeutig das Europa der EU, das durch Assoziation und Inkorporation erweitert werden kann, wenn sich die Völker der Region in richtiger Weise auf den Weg machen.2 Eine völlig andere Konnotation findet sich aber in den Überlegungen, wonach natürlich alle Gesellschaften Südosteuropas nicht nur geographisch und in der Kulturtradition „in Europa“ sind, und dass es einen politischen und lebensweltlichen Lernprozess geben muss, um im richtigen Europa in richtiger Weise anzukommen, d.h., entweder eine überholte oder gar eine konventionell ausgeschlossene Deutung Europas abzulegen. Dann geht der Kontext sehr viel weiter, könnte z.B. durch die Grundphilosophie des Europarates oder der OSZE bestimmt sein, und wird sehr häufig in einem historisch kulturellen Kontext noch einmal ganz anders interpretiert. Es gibt aber noch sehr viel mehr Spielarten in diesem Übersetzungsprozess, weil ja im Westen viel zu wenig reflektiert wird, wie weit sich das “gesamteuropäische“ Selbstverständnis durch die Assoziation und Inkorporation der neuen Gesellschaften aus Südosteuropa verändern wird. Das beste Beispiel für die Brisanz dieser Diskussion ist der Status der Türkei als potentieller Kandidat für die EU. Dass die Menschenrechte ein vorgeschobenes Argument sind, kann man jederzeit beweisen, wenn man die Flexibilität gegenüber diesem notwendigen Sektor bei anderen früheren und jetzigen Kandidaten und Mitgliedern der EU betrachtet, und wenn man strategische Überlegungen zum Beispiel unter dem Druck der USA in die Argumentation einfließen lässt. Im Falle der Türkei­Diskussion hat sich aber sehr schnell ein ganz anderer Zungenschlag verfestigt, nämlich, wie weit eine bestimmte Gesellschaft, in diesem Fall noch islamisch unterlegt, zur „europäischen Familie“ passt, unter anderem selbst durch den deutschen Regierungs­Historiker Heinrich August Winkler . Hier liegt eine Vorstellung bereits geronnener und gefestigter Werte, die die europäische Dimension ausmachen sollen, zugrunde, von der ich behaupte, dass sie zwar im Entstehen, aber keineswegs so verankert ist, wie es den Anschein hat. Auf einer weniger kulturell überhöhten Ebene könnte man sich ja auf staatliche Organisationsformen einigen, dann aber wäre es nur konsequent, etwa im Inneren der EU die Einhaltung universeller Menschenrechte in ganz anders konsequenter Weise zu forcieren als das der Fall ist.

Dies ist ein sehr hochrangiges und umfassendes Beispiel für die Schwierigkeit der geforderten Übersetzungsleistung, die ja nicht einseitig in den Spielregeln des Westens erbracht werden kann, sondern tatsächliche Gleichberechtigung aller Akteure erfordert. Auf einer sehr viel niedrigeren Ebene kann man bis in die lexikalische Niederung das Problem von Übersetzungsleistungen thematisieren: Das beginnt beim Kosovo Protection Corps (KPC), dass sich auch als kosovarische Verteidigungskräfte aus dem Albanischen übersetzen lässt ; das kann man an der vom westlichen Sprachgebrauch völlig unterschiedlichen Interpretation des Begriffs institutionelle Autonomie im Hochschulbereich sehen (der Autonomiebegriff innerhalb des alten Systems der jugoslawischen Selbstverwaltung hat natürlich ganz andere Hintergründe als seine westliche Genese nach 1945). Hier einen Anschluss an die Re­Education­Debatte zu finden, erscheint mir nicht nur notwendig und geboten, sondern sollte eigentlich Bestandteil der Politik selbst werden.

3. Die Geschichte sowohl als wissenschaftliche Disziplin als auch in Form der Alltagserzählungen und als Identitätsbaustein ist, wie in anderen Regionen der Welt, ein weit überschätztes​ Instrument politischer Korrektheit. Es wird zwar allenthalben betont, dass Geschichte fast nie als Legitimation für gegenwärtige politische Optionen und Handlungen taugt, aber gehandelt wird im Zweifelsfalls nicht danach. Eine übertriebene Sensibilität gegenüber der für eine bestimmte ethnische, religiöse oder soziale Gruppe bestimmenden Geschichtsdiskurse kann sehr schnell dazu führen, dass die Sensibilität Grundlage politischen Handelns wird, und nicht die notwendige Distanz zwischen Historiographie und politischem Handeln selbst. Ich denke, dass Geschichte in vier Dimensionen sehr wohl eine Rolle spielen kann, aber dann instrumentell zu jeweils anderen, für den gesellschaftlichen Reformprozess und Wandel notwendigen Dimensionen:

a)  Zur schmerzlichen Kenntnisnahme von Schuld, Verantwortung und Haftung.​
Es wird in Südosteuropa keiner politischen Gruppe, keinem Volk oder keiner in der Kontinuität stehenden staatlichen Führung erspart bleiben, die Frage von schuldhaftem Handeln in einer Weise aufzuwerfen, dass allgemein und öffentlich erkennbar wird, was tatsächlich geschehen ist, wie es zur Kenntnis genommen werden kann, wo sich undifferenzierbar kollektive und differenzierbar individuelle Verantwortlichkeiten befinden. Die meines Erachtens erfolgreiche Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in dieser Hinsicht hat Jahrzehnte gebraucht, um zwischen Schuldzuschreibung, konkreter Verantwortlichkeit und der Notwendigkeit allgemeiner Haftung auch durch Menschen, die weder verantwortlich noch schuld an bestimmten Realitäten sind, zu differenzieren und sich daran abzuarbeiten (im Gegensatz zu einem Pakt des Schweigens oder einer holzschnittartigen Vergangenheitsbewältigung auf so hoher Ebene, dass am Ende alle schuldig, alle erlösungsbedürftig und alle haftungsfrei gestellt werden). Es geht mir keineswegs darum, ein bestimmtes Modell, z.B. Wahrheitskommissionen, zu etablieren; vielmehr ist es wichtig, dass der Prozess des zur Kenntnis Nehmens differenziert, d.h. ohne historisch beladene Analogieschlüsse in Gang kommt. Wenn man durch die Jahrhunderte zurück geht, dann kann man ein fast homogenes Polygon von aktiven und passiven Beteiligten an den schrecklichsten, aber auch an positiven Entwicklungen feststellen, und das erklärt dann überhaupt nichts, es sei denn, man wollte auf die allgemeine menschliche Schwäche und Fehlbarkeit hinweisen. Dort, wo man dann verallgemeinern muss, soll man dies auch ohne große Rücksichtnahme auf historische Empfindlichkeiten tun. Das Verhalten des serbischen Staates im Kosovo zum Beispiel, und man muss eben den geschilderten Zusammenhang erklären, wenn man in diesem (und nur in diesem) Zusammenhang von den Serben und den Kosovo­Albanern spricht.

b)  Geschichtsstudium und Forschung zur Dekonstruktion von Mythen​ist ebenso bedeutsam. Die Gründungsmythen der einzelnen Ethnien, aber auch der orthodoxen Kirche, oder von Sprachgemeinschaften sind in aller Regel mehrschichtig im Lauf der Jahrhunderte geformt, umgeformt und schließlich verfestigt worden. Es ist bereits sehr viel Dekonstruktion der Schlacht am Amselfeld geschehen, aber in diesem Fall wäre genaueste Geschichtskenntnis schon deshalb notwendig, weil Identitätsbildung aus Niederlagen ein probates Mittel zur Immunisierung gegenüber Realitäten ist; das Zurückstutzen von Skanderbeg auf eine zeitweise wichtige, aber keinesfalls historisch überdauernde charismatische Gründerfigur ist ein anderes Beispiel.

c) Ein drittes wäre der Mythos von der Geburt der serbischen Nation aus den im Kosovo gelegenen Klöstern. Die orthodoxe Staatskirche hat ihre Wurzeln zunächst anderswo gehabt. Diese Beispiele kann man für alle Teile der Region finden. Geschichte zur Ergänzung sozialanthropologischer und kultureller Befunde ist ebenfalls notwendig, um z.B. den Zusammenhang zwischen Familienstruktur, Religion, Produktionsweise und tatsächlichen historischen Ereignissen mit ihren Auswirkungen herstellen zu können. Das ist allerdings kein Plädoyer, eben diese sozialen Zusammenhänge aus der „Geschichtswirklichkeit“ und den Ergebnissen historisch­politischer Handlungen zu erklären, wie das ein geisteswissenschaftlicher Ansatz gerne hätte, der dann zur Rechtfertigung gegenwärtiger Politik überdehnt werde könnte.

d) Schließlich ist die Bedeutung der „​Geschichte der Geschichte“ ​außerordentlich wichtig. Dass Geschichte zu allen Zeiten politisch instrumentalisiert wurde, gilt nicht nur für den Balkan; das Maß der Inanspruchnahme der Geschichte ist aber ein Ausdruck der stärkeren oder schwächeren kollektiven „Ich­Stärke“ oder des Selbstbewusstseins einer Gesellschaft. Wie fatal Überdehnungen ungeprüften Selbstbewusstseins auch im Westen sein können, kann man etwa an der Interpretation der Französischen Resistance oder des amerikanischen Bürgerkriegs sehen. Charles Maier vom Center for European Studies in Harvard hat in letzter Zeit mit einer auf den ersten Blick unscheinbaren These ein Problemfeld eröffnet, das meines Erachtens für den Balkan von ganz großer Bedeutung ist. Im Kern lautet Maiers These, dass verschiedene, meist gewalttätig­katastrophale historische Ereignisse ganz unterschiedliche historische Halbwertzeiten in der Rezeption und der öffentlichen, nicht nur intellektuellen Aufmerksamkeit finden. Er hat das ursprünglich am Beispiel der ganz unterschiedlichen Dauer und Intensität der Diskussion um die Shoa einerseits, die Verbrechen unter Stalin andererseits dargestellt, wobei man hier deutlich sehen muss, dass Maier kein Anhänger des historischen Relativismus ist. Ihm geht es sehr viel stärker um die Erinnerungsintensität und Aufmerksamkeitskontinuität. Solche Aufmerksamkeiten sind natürlich politisch gesteuert. Man kann sehr schreckliche und bis ins Detail belegte systematische Menschenrechtsverletzungen unter Tito und Ceausescu im Westen immer in dem Maß verfolgen, in dem die westliche Außenpolitik diese beiden Staatsführer wahlweise stärker oder schwächer protegiert hat. Die Verbrechen von Alexander Rankovic im Zusammenhang mit seiner Deportations­ und Umsiedlungspolitik haben in der letzten Zeit offenbar viel geringere Aufmerksamkeit gefunden als andere Menschenrechtsverletzungen. Es geht aber nicht nur um diese Form historischer Ereignisse, sondern um personalisierte oder lokalisierte „Ereignisse“ (Events), die mit ganz unterschiedlichem Nachdruck am Leben und im öffentlichen Diskurs und Selbstverständnis gehalten werden oder eben nicht.

Aus diesen vier Elementen bilden sich die Anschlussstellen sowohl im Bereich der Re­Education als auch zum kritischen Aspekt mangelnder Übersetzungsleistung. Dem Bildungssektor, den Schulbüchern, und der Frage eines regionalen Bildungskanons bzw. der Gründe gegen diese Schwerpunktsetzung kommt besondere Bedeutung zu.

4. Es ist erstaunlich, wie viel Kontextfreiheit s​ich die intervenierende wie die lokale Politik erlaubt. Man kann dies brutal mit dem Wort Heuchelei umschreiben, oder sozialwissenschaftlich differenziert als das opportunistische Anlegen unterschiedlichster Maßstäbe bezeichnen. Ich möchte dies an den sensiblen Sektoren Korruption und organisiertes Verbrechen deutlich machen. Das weit verbreitete Urteil, dass Korruption in fast allen Gemeinwesen in Südosteuropa tief verwurzelt und wirkungsmächtig ist, ist kein Vorurteil. Und sicherlich sind die Länder des Balkans „korrupter“ als etwa die skandinavischen Länden. Aber genauerem Hinsehen handelt es sich nicht um eine anthropologische Konstante, die einer gewissen Balkanismus­Ideologie entspricht, sondern um vielfältige Korruptionen,​deren Analyse im Plural überhaupt erst erlaubt, das Problem einigermaßen sachgerecht zu thematisieren. Die praktischen Abhilfen sind dann noch eine weitere Frage, die keineswegs mit einer alleinigen Verstärkung der Sicherheitsorgane und der Jurisdiktion erledigt werden. Die meisten Analysen gehen von Korruptionstatbeständen aus, die oft bis ins Detail verfolgbar sind, die auch durchaus unterschiedliche Werthaltungen, Traditionen, Gewohnheitsrechte und die Verknüpfung mit anderen gesellschaftlichen Systemen, Politik, Ämter, Gruppenführerschaft und natürlich ökonomischen Motiven verknüpft werden. Es ist mir persönlich sehr häufig widerfahren, dass auf konkrete Kritik an konkreten Korruptionsfällen vergleichbare Erscheinungen in Deutschland oder Österreich mit sarkastischer Sachkenntnis entgegengehalten wurden. Auf dem Höhepunkt der Spendenaffäre des früheren Kanzlers Kohl war dies ein fast tägliches Gesprächsthema; auch das Problem der westlichen Provisionen für Großaufträge ist natürlich den Verteidigern des Status quo in der Region bekannt (in vielen Ländern ist heute noch die aktive Bestechung potentieller Auftragnehmer straffrei). Ich will mich hier nicht in die justiziablen und gesetzlich regelbaren Aspekte einlassen, sondern die kulturellen und sozialen Probleme darstellen. In einer Beschreibung, die auf Tiefenanalyse verzichtet, würde jedenfalls eine geschichtete „Unmoral“ verschiedener Korruptionen sichtbar. Und mit einem Spezialfall müssen wir uns als westliche Akteure besonders auseinandersetzen. Gerade im öffentlichen Dienst sind Dauerstellen, zumal solche mit Anwartschaft auf soziale Sicherung, natürlich sehr begehrt. Der Druck marktwirtschaftlicher und finanzpolitischer Erwägungen auf dieses Arbeitsmarktsegment wird stark erhöht, gleichzeitig bieten die Arbeitsaufgaben, z.B. für Lehrer, Polizisten und Ärzte, wenig Chance auf umfängliche Nebenerwerbstätigkeit, die dann zu einem erträglichen Familieneinkommen ausreicht. Es wird hier geradezu systematisch sowohl was den Erwerb der Positionen selbst betrifft, als auch die Art und Weise, wie das Nebeneinkommen zustande kommt, ein Sog in eingeübte Formen der Korruption ausgeübt: Nepotismus, Ämterkauf, Schutzgeld, Parteiprotektion, legale und illegale Erwerbsformen nebeneinander, und eine Vernachlässigung des öffentlichen Hauptamtes gehen Hand in Hand. Die Kontextfreiheit internationaler Interventionen, z.B. durch Berater des IMF und der Weltbank, in diesem Bereich ist deshalb fatal, weil sie mit gegenläufigen produktiven Ansätzen zur Herstellung dauerhafter sozialer Sicherung usw. in keiner Weise koordiniert ist. Wäre das der Fall, könnte man hoffen, über mittlere Zeiträume auch eine Änderung nicht nur des Bewusstseins und der zugrunde gelegten „Werte“ zu erzielen, sondern auch Erfolge und damit Anreize für weitere Reformen zu schaffen. Die Vernachlässigung des Soft Sectors spielt hier eine große Rolle bei der Verfestigung korrupter Strukturen. Die Vorbildfunktion der Akteure von außen wurde bereits angesprochen. Mich wundert, dass ein Argument sehr selten gebraucht wird: Sicher gibt es in westlichen Ländern Korruption größten Ausmaßes, aber man kann in gefestigten Demokratien doch feststellen, dass die dritte Gewalt über kurz oder lang hier eingreift und es wenigstens eine teilweise transparente Aufarbeitung von Korruption gibt, übrigens nicht nur durch die Justiz, sondern auch durch Untersuchungsausschüsse und vor allem durch die Medien. Man soll den Schaden, den das Verhalten der derzeitigen italienischen Regierung in diesem Kontext anrichtet, in seiner Rezeption auf den Balkan nicht unterschätzen.

5. Die Fehleinschätzung der Tragweite von an sich sinnvollen, von außen gesetzen oder sogar erzwungenen Tatbeständen stellt einen weiteren Kritikpunkt dar. So wichtig und sinnvoll die unmittelbare Wirkung des Abkommens von Dayton war, so zweifelhaft ist dieses Dokument als Grundlage einer doch sehr gewagten „artifiziellen Staatsgründung“. Die Übereinstimmung von SRSG Jaques Klein und dem obersten Richter Marko5 in diesem Punkt ein Lehrstück über das Versäumnis, im richtigen Zeitpunkt Weiterentwicklungen oder sogar Änderungen von Grundsatzdokumenten als Handlungsbasis einzuleiten. Ähnliches kann man für einen Punkt der Resolution 1244 zum Kosovo feststellen. Ich bin seit längerem in einer sehr nachhaltigen und konfliktreichen Diskussion, ob die Perspektive und Interpretation des multiethnischen Charakters einer künftigen Lösung der Statusfrage in Res. 1244 richtig angelegt ist. Während ich das Ziel langfristig für richtig gehalten habe, war mir von vorneherein Multiethnizität als Strategie oder Weg zu diesem Ziel suspekt. Ich erfahre aber auch ernstzunehmende Kritik am Konzept der Multiethnizität selbst, die etwa für Bosnien­Herzegowina sehr viel eher angebracht wäre als für den Kosovo, wo sich vor allem im albanisch­serbischen Verhältnis eher das Problem von Mehrheitsrecht und Minderheitenschutz als multiethnische Horizontalität anbietet.6 Überhaupt erscheint mir, dass die Ontologisierung von „Ethnien“ auf dem gesamten Balkan zu unlösbaren Antinomien geführt hat und weiterhin führen wird.

Bei einer Systematisierung dieser Kritikpunkte, die sich sicherlich noch zu einer längeren Liste ausweiten ließen, muss nicht notwendig ein pessimistischer Grundton oder gar der Eindruck kompletten Scheiterns aller Bemühungen entstehen. Ich denke, dass fast alle geäußerten Kritikpunkte sozusagen ihre produktive Umkehrung schon in ihrem Ansatz erkennbar machen, und es wäre durchaus sinnvoll, dies nicht nur in der wissenschaftlichen Politikberatung, sondern auch in der Information und Kommunikation gegenüber der Bevölkerung, und nicht nur den politischen Klassen, deutlich zu machen. Außerdem ist die Mischung der kritisierten Tatbestände in jedem Land und innerhalb der Länder in verschiedenen Teileinheiten durchaus unterschiedlich, so dass eine produktive Konsequenz aus dieser Kritik geradezu Grundlage einer konsistenteren regionalen Strategie werden müsste. Wie schon erwähnt, halte ich diesen Ansatz bei der ESI am besten verwirklicht7, ich verweise nur auf das letzte Gutachten, dessen Ansatz und Empfehlungen ich in fast allen Punkten teile. Wenn es aber eine konsequente Assoziations­ und Integrationspolitik zwischen gleichberechtigten Partnern gäbe, dann wäre damit noch immer nicht das Machtgefälle und die Behebung der strukturellen Defizite beseitigt. Gleichberechtigt heißt natürlich nicht gleich stark, und gleich fähig, Einfluss in Macht, Handlungen und Ergebnisse umzuwandeln. Und zu den großen Defiziten gehörte die Vernachlässigung des Soft Sectors, und das leitet über zum zweiten Teil meiner Ausführungen.

Davor soll aber noch eine kleine Analyse einer signifikanten Aussage von Michael Steiner, dem UNMIK­Chef im Kosovo stehen: In einem Interview im September 2002 entwickelt er eine „Vision“ für den Balkan und fordert: „ein(en) vielfältigen Balkan – nicht ein Jugoslawien – mit eigenständigen Einheiten auf dem Weg nach Europa. Parallel mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten, je nach dem, wie fit sie jeweils sind, müssen wir diese auf den Weg nach Europa setzen. Dies ist im ureigensten Interesse der EU, denn jede andere Perspektive führt zurück zu den ethnischen Prinzipien, die die Region in den Bankrott geführt haben“.

Diese kurze Aussage enthält so ziemlich alle Wahrheiten und Ideologeme der Region. An anderer Stelle werde ich den „Weg nach Europa“ ebenso problematisieren wie die Tatsache, dass die eigenständigen Einheiten ja heute stärker ethnisch definiert sind als im alten Jugoslawien, weshalb sich das Argument selbst behindert. Mich interessieren aber in diesem Kontext die unterschiedlichen Geschwindigkeiten als Funktion der geradezu darwinistischen Fitness­Metapher. Unterschiedliche Geschwindigkeiten sind eigentlich bei einem gemeinsamen Zielpunkt nur dann vorstellbar, wenn die Zurückgebliebenen keine grundsätzlich schlechteren Assoziationsbedingungen vorfinden als die Vorhut. Dies ist evident in Südosteuropa nicht der Fall. Deshalb erscheint es mir gerade umgekehrt, dass die Entwicklung der Soft Sectors nämlich mit einem Höchstmaß an Gleichzeitigkeit getaktet werden sollte, um Nachteile zu verhindern, und dass eine solche Strategie das Gewicht der ethnischen Ausgrenzungen jedenfalls eher zu mindern in der Lage ist als eine ungleichzeitige Hard Sector­Strategie, die noch stärkere ökonomische Ungleichgewichte zwischen den ethnischen Gruppen unausweichlich macht.

Thesen:

Die folgenden Thesen sind eine Zusammenfassung meiner Argumente für einen nachhaltigen Ausbau der Soft Sectors in Südosteuropa. Sie wiederholen teilweise oben gebrachte Argumente und fügen ihnen vor allem solche hinzu, die für konkrete Projekte als Prüfsteine und Markierungen gelten können.

Wenn Armut, institutionelle Rückständigkeit, ökonomische Anschlussprobleme in einer Zeit globaler Rezession, die regionalen Konstellationen dominieren, wenn Residuen unziviler Gesellschaftsgrundlagen, typisch für Übergangsgesellschaften, und mangelnde ‚republikanische’ Grundeinstellungen die Entwicklung von Demokratie behindern, wenn ältere soziale Bindungen ersatzlos erodieren, wenn kulturelle Repertoires veralten und lebensweltliche Routinen ausdünnen,wenn Mindestkriterien für Vertrauen und Verbindlichkeit starre und eineinlösbare Kondition ersetzen sollen, dann können erst zivilgesellschaftliche Gesellschaftsverfassungen​nachhaltige und langfristige Investitionen begründen, dann erst vermögen diese ein Her anführenden an das neue Europa und vor allem ein mitgestaltendes neuen Europa bewirken, dann muss eine offene m​arktorientierte Wirtschaftsverfassung​ um die Nachhaltigkeit gesellschaftsbindender, aber weder nationalistisch noch ethnisch dominierter Strukturen der einzelnen Länder und politischen Einheiten erganzt werden, und zwar auf der Grundlage entwickelter und reformierter Soft Sectors,​ die nicht nach dem modell uneinholbarer und selbst überholungsbedürftiger Modelle aus dem Westen organisiert werden: die Entwicklung solcher Bereiche kann unter Umständen eine Entschleunigung von Assoziations­ und Integrationsprozessen bedeuten, die politisch antizipiert und aufgefangen werden sollten.

Die folgenden Hypothesen sollen dies erläutern, und besonders auf den im Bereich der Tagung zu den Humanresourcen wichtigen Bildungsbereich hinweisen:

  1. der ​Wirkungsgrad ​politischer und ökonomischer Maßnahmen in den hard Sectors ist umso größer, je besser sie durch die nachhaltige Entfaltung der Soft Sectors abgestützt werden.
  2. Innerhalb des Spektrums der Soft Sectors kommen den B​ildungs­- und Hochschulsystemen so wieder sozialen Sicherung besondere Bedeutung zu.
  3. Der Bildungsbereich umfasst die größte Flächenabdeckung politischer, kultureller und sozialer Akteure, beeinflusst den generationen­ und Elitenwechsel und ist ein Segment, an dem die institutionelle Loslösung starrer Staatsautorität durch die Zivilgesellschaft am besten implementiert werden kann.
  4. Innerhalb des Bildungsbereichs hat der Hochschul­ und Wissenschaftsbereich relative Priorität, weil er
    • ­  den Elitenwechsel unmittelbar beeinflusst
    • ­  den gesellschaftrlichen Diskurs erheblich mitbestimmt und die Leitbegriffe

politisch wirksam besetzt

    • ­  die Brücke zur Qualifikation für alle Soft Sectors und viele Spitzenpositionen

in den Hard sectors darstellt

    • ­  die besten Voraussetzungen für die Inklusion Europäischer Standards bietet
    • ­  bereits auf die Internationalisierung und Europäisierung vorbereitet ist, wie

analog die europäischen Institutionen hier die besten Voraussetzungen für

inklusive Prozeduren entwickelt haben

    • ­  uber Anerkennung und Qualitätsstandards direkt in vertrauensbildende

Stabilisierung eingreifen kann

    • ­  Mobilität zwischen politischen Einheiten in der region und in Gesamteuropa

fördern kann

    • ­  über die Forschung und Entwicklung die ökonomische und infrastrukturelle

umorientierung befördern kann;
Entscheidend ist aber, dass die Universitäten für lange zeit der Ort bleiben oder werden können, wo die Gesellschaften sich selber denken und im Sinne nachholender Aufklärung und Modernisierung ihr Forum bilden.

  1. Die Systeme sozialer Sicherung sind ebenfalls prioritär, weil sie die Anreize für
    • ­  langfristige Lebensplanung und intergenerationelle Neuverortung bieten
    • ­  Reformen und die Verbesserung der eigenen lebensweltlichen und

professionellen Umfelder geben

  • ­  mehr Eigenverantwortung in den Bereich der individuellen und mikrosozialen Lebensumstände produzieren können
  • ­  eine ‚faire’ und balancierte Beziehung zwischen der gesellschaftlichen Grundversorgung und marktorientierten Differenzierungen bieten
  • ­  ein Überdenken der grundlegenden Haushaltsstrukturen und der Verteilungsgerechtigkeit provozieren.

Vor allem die Altersversorgung und soziale Anreize im zusammenhang mit Brain Drain/Brain Gain sind von Bedeutung.

  1. Es ist unverzichtbar für die politischen Entscheidungsträger, schneller und intensiver als bisher auf die soziologischen, sozialpsychologischen und anthropologischen Grundlagen ihrer Handlungen zu reflektieren. Die theoriegeleitete Begleitung politischer Prozesse als Bestandteil und nicht blosses Ornament von Aussenpolitk und neuer Weltinnenpolitik kann ein wesentliches Element von zivilgesellschaftlichem Übergang in die drei Dimensionen Stabilität Entwicklung Selbstbestimmung werden.

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