Vortrag des neuen Schweizer Botschafters

Date/Time
November 26, 2001
19:00 - 21:00 CEST/CET


Vortrag des neuen Schweizer Botschafters in Österreich vom 26. November 2001 im Festsaal der Diplomatischen Akademie

S.E. Dr. Johann Bucher zum Thema

“Europäische Union – Bleibt die Schweiz ewig draußen?”

„Die Schweiz ist keine Nation, und sie braucht keine zu werden: sie ist viel weniger und viel mehr: ein ziviles Bündnis Verschiedener, geschaffen zum Schutz ihrer Verschiedenheit im Rahmen der Menschenrechte und der Menschenwürde. Sie ist als europäisches Land geboren und von europäischen Republikanern als Glücksfall begrüsst worden. Wenn sie glaubte, sich nur als Sonderfall gegen die Zumutungen der Geschichte und vor ihren eigenen Widersprüchen bewahren zu können: die Verhältnisse sind nicht mehr so. Die Schweiz kann werden, was sie ist: keine Nation, aber eine Bündnis mit historischer Vergangenheit und einer möglichen Zukunft“ (Adolf Muschg: Oh mein Heimatland!)

1. Einleitung

Wir leben in unruhigen Zeiten! Seit dem 11. September zeigt die Welt wirklich ein anderes Gesicht, ein Gesicht, das uns Rätsel aufgibt und verunsichert. Jürgen Habermas hat das Schlagwort von der „neuen Unübersichtlichkeit“ zwar bereits vor rund zehn Jahren geprägt, wie Hans-Magnus Enzensberger das seine vom „globalen Bürgerkrieg“ und Samuel Huntington das zurzeit meistzitierte vom „clash of civilisation“. Aber diese Frühwarnungen gingen unter in der damaligen Euphorie über das Ende des West-Ost-Konfliktes, die Francis Fukuyama als unzeitgemässen Hegelianer sogar dazu verleitete, das „Ende der Geschichte“ zu diagnostizieren. Erst heute springt uns die Realität so direkt an, dass wir sie nicht mehr ignorieren können.

Unruhig sind die Zeiten aber auch in der Schweiz: Gerade wieder hat ein Flugzeugabsturz mein Land heimgesucht. Zuvor schon haben Katastrophen, wie das Massaker von Zug oder der Brand im Gotthardtunnel und wirtschaftliche Hiobsbotschaften wie der Zusammenbruch der Swissair die Schweiz erschüttert und haben uns das vermeintlich idyllisch-verträumte Seldwyla als ausgesetzt-verletzlich, sagen wir es einfach: als gewöhnlichen Teil unserer Welt und unserer Zeit vor Augen geführt.

Sie werden fragen, was das mit unserer Beziehung zur EU zu tun hat, genauer mit der Tatsache, dass wir dem grossen Einigungswerk noch immer fern stehen. Auf den ersten Blick gar nichts. Doch der Journalist, der nach der schrecklichen Bluttat von Zug in einer der grossen Wiener Tageszeitungen die Frage stellte, wie lange die Eidgenossen noch glaubten, sie könnten sich ihre Sicherheit und Selbstbestimmung mit Fernbleiben erkaufen, hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Es gibt unter den eingefleischten EU-Beitrittsgegner zweifellos nicht wenige, welche sich auf diese Weise vor der „Arglist der Zeit“ – wie es im Bundesbrief von 1291 heisst – in Schutz bringen möchten. Es handelt sich dabei sogar um legitime Erwartungen, Ansprüche, Wünsche: Es geht um Sicherheit, Wohlfahrt, Selbstbestimmung oder die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen. Bisher ist es unserem Staat zweifellos recht gut gelungen, diese Grundbedürfnisse der Menschen zu sichern, selbst in Zeiten, als anderswo Not und Krieg herrschte. So gibt es nun Schweizerinnen und Schweizer, die überzeugt sind, das Erfolgsrezept finde sich im Sonderweg unserer Geschichte, oder kurz: die Schweiz sei der berühmte „Sonderfall“, auf den Adolf Muschg anspielt, und dieser „Sonderfall“ dürfe nicht preisgegeben werden.

Aber nicht alle Gegner einer schweizerischen EU-Mitgliedschaft unterliegen der von mir skizzierten diffusen Angst, vor der sie sich durch Abkoppelung zu schützen hoffen. Auch präzisere, rationalere Befürchtungen motivieren gewisse Mitbürgerinnen und Mitbürger zu einer ablehnenden Haltung. Es gibt nicht wenige, die befürchten, ein EU-Beitritt sei gleichbedeutend mit der Aufgabe der Unabhängigkeit, der Sicherheit und der Identität unseres Landes; oder kurz gesagt EU-Mitgliedschaft heisse Selbstverslust. Auch für diese Menschen geht es demnach – und das erklärt uns die ungeheure emotionale Energie, mit der die Frage bei uns diskutiert wird – um eine Existenz-Frage.

Wir brauchen uns hier nicht um die diffusen Existenzängste zu kümmern, denn darauf gibt es keine rationale Argumente; da bleibt nur der durch Leidensdruck ausgelöste Lernprozess. Die letztgenannten Motive hingegen sind – so scheint mir wenigstens – eine eingehendere Betrachtung wert. Ich möchte deshalb heute abend mit Ihnen etwas ausleuchten, was es mit den vorgebrachten Argumenten gegen den Beitritt auf sich hat, was natürlich nicht heisst, – das möchte ich gleich unterstreichen – dass ich mir diese Argumente zu eigen mache.

Sodann will ich in kurzen Zügen das gegenwärtige Beziehungsgeflecht zwischen der EU und der Schweiz sowie die Zukunftsstrategie unserer Regierung nachzeichnen.

2. Die Regierungsposition

Zuerst aber gleich das Entscheidende: Die Schweizer Bundesrat und mit ihm ein beträchtlicher Teil des Schweizer Volkes wollen Mitglied der EU werden, und das seit geraumer Zeit. Es dürfte Ihnen bekannt sein, dass der Bundesrat schon im Sommer 1992 das Gesuch um die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen in Brüssel deponiert hat. Bereits in seinem „Bericht über die Aussenpolitik der Schweiz in den 90er Jahren“ – einer Art Weissbuch zur Aussenpolitik – schrieb die Regierung 1993: „Die Teilnahme am Aufbau Europas ist eine Priorität der schweizerischen Aussenpolitik. Dabei wird sie sich von der Idee leiten lassen, dass nur ein geeintes, starkes und weltoffenes Europa fähig sein wird, sich den grossen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu stellen. Deshalb wird unter den neuen Bedingungen der internationalen Politik die Integration in Europa für die Schweiz zu einem wichtigen Schritt für die Beibehaltung und Stärkung der universellen Beziehungen und für die weltweite Wahrung schweizerischer Interessen“.

Vor zwei Jahren hat der Bundesrat dann einen neuen aussenpolitischen Bericht vorgelegt. In ihm können wir zur EU-Frage lesen:

„Der EU-Beitritt bleibt das Ziel des Bundesrates, weil die Interessen unseres Landes längerfristig besser innerhalb als ausserhalb der EU gewährt werden können. Die europäischen Entwicklungen der Neunzigerjahre haben die Berechtigung dieses Ziels bestätigt und lassen den Beitritt zur Union als wichtiger erscheinen als je zuvor“.

Fürwahr eine klare und entschiedene Sprache, die keinen Platz für Zweifel lässt.

Doch unsere Regierung befindet sich in einer recht unkomfortablen Lage, nämlich zwischen zwei Feuern. Sie wird nicht nur von jenen beschossen, welche auf keinen Fall der EU beitreten wollen. Von der andern Seite schiessen auch jene, denen es mit der Annäherung viel zu langsam vorangeht.

Im vergangenen März wurden wir an die Urnen gerufen, um über die Initiative „Ja zu Europa“ abzustimmen. Diese Initiative wurde genau von jenen Bürgern lanciert, denen die Beitrittspolitik des Bundesrats zu zögerlich erscheint, und sie bezweckte mit Hilfe eines Verfassungsartikels die Regierung zu einer unverzüglichen Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zu verpflichten. Gut gemeint, erwies sich dieses Vorgehen als echter Schildbürgerstreich. Warum? Der Bundesrat sah sich gezwungen, den Antrag zur Ablehnung zu empfehlen, denn 1.) sollte man grundsätzlich die aussenpolitische Zuständigkeit der Regierung nicht unnötig einschränken und 2.) darf man im Speziellen der Regierung nicht den Zeitpunkt der Verhandlungsaufnahme vorschreiben. Es gehört zur ureigensten Regierungsverantwortung, dauernd die innen- und aussenpolitische Lage abzuschätzen und zu entscheiden, wann der günstigste Augenblick für den wichtigen Schritt gekommen ist.

Das Resultat der Abstimmung kann denn auch nicht überraschen: beinahe 77% legten ein Nein ein. Aber es handelte sich um eine Menge völlig unterschiedlich motivierter Neinstimmen. Ich bin sicher, dass sich darunter eine grosse Zahl Beitrittsbefürworter finden, die lediglich die Vorgehensweise und den Zeitpunkt für verfehlt halten. Auf diese Weise hat auch die Regierung das Resultat interpretiert. Doch wen wundert’s, dass die EU-Gegner den Sieg für sich beanspruchten und den Bundesrat verpflichten wollten, sofort eine Vollbremsung vorzunehmen, sprich das Beitrittsgesuch zurückzuziehen. Man kann das nun rechtlich ausdividieren, wie man will, psychologisch hat uns der voraussehbare Ausgang der Initiativ-Abstimmung weiter von einem Beitritt entfernt. Kurz und gut: Die Initianten haben mit ihrer Strategie genau das Gegenteil dessen erreicht, was sie eigentlich anstrebten. Sie haben den Gegnern in die Hände gespielt.

3. Die Gegner

Wenden wir uns also nun den Motiven der Gegner zu und fragen wir uns, ob es dabei etwas spezifisch Schweizerisches gibt.

Ich rufe noch einmal die gewichtigsten Befürchtungen der Beitrittsgegner in Erinnerung. Es ist dies

· Die Angst vor einem Souveränitätsverlust
· Die Angst vor einem Neutralitätsverlust
· Die Angst vor einem Identitätsverlust.

Zu letzterem gehört auch die Befürchtung, die Direkte Demokratie und der Föderalismus würden massiv eingeschränkt.

Nun, wir wissen alle, dass es da etwas daran hat: Wer einem in der Tendenz und auch streckenweise bereits realiter supranationalen Verband beitritt, muss Souveränitätsrechte abtreten. Ob eine echte Neutralität mit einer EU-Mitgliedschaft vereinbar ist, stellt wirklich eine ernste Frage dar. Im Integrationsbericht von 1999 hat unsere Regierung die Frage zwar mit einem klaren Ja beantwortet. Es heisst dort wörtlich: „Heute ist unbestritten, dass EU-Mitgliedschaft und Neutralität vereinbar sind“, und der Bundesrat verweist dabei auf die neutralen Länder Österreich Schweden und Finnland. Dass es aber davon abweichende Meinungen geben kann, erlebe ich gerade hier in Österreich. Im Entwurf zur neuen Sicherheits- und Verteidigungsdoktrin habe ich nämlich gelesen: „Eine noch entscheidendere Abkehr von der Neutralität hat de facto mit dem, wohlgemerkt ohne Neutralitätsvorbehalt erfolgten, Beitritt Österreichs zur Europäischen Union stattgefunden.“

Es kann auch keinem Zweifel unterliegen, dass nach einem Beitritt zur EU unsere Kantone nicht mehr über die gleichen Kompetenzen verfügen und das Schweizer Volk nicht mehr über dieselben Fragen an der Urne abstimmen würden.

Wir können also nicht leugnen, dass wir – wenn ich so sagen darf – Einbussen hinnehmen müssen. Aber diese Erkenntnis ist an sich trivial; jeder Beitrittskandidat muss schliesslich Kompromisse schliessen und seinen Preis für das Recht der Mitbestimmung entrichten. Interessant ist dagegen die Frage, warum vielen Schweizerinnen und Schweizern der „Eintrittspreis“ so unerschwinglich hoch scheint.

Wir finden die Antwort in der Geschichte, wir finden sie in der Art, wie mein Land zu dem geworden ist, was es ist, und – wenn ich so sagen darf – im politischen Aggregatzustand der Schweiz: in der Tatsache nämlich, dass sie, wie Muschg schreibt, keine Nation ist.

Wir dürfen nicht vergessen, dass die Eidgenossenschaft sozusagen immer mit ihrem Geburtstrauma gelebt hat und es noch heute mit sich herumträgt. Die Geschichte der Entstehung der Schweiz ist die Geschichte eines Abwehrkampfes. Das, was viel später zur Schweiz zusammenwuchs, die einzelnen Kantone, mussten sich nämlich losstrampeln zuerst gegen den Machtwillen der Grafen und dann gegen den des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Und als dies zu Beginn des 16. Jahrhunderts gelungen schien und man gar Expansionsgelüsten Raum gab, wurden wir vom andern grossen Nachbarn, Frankreich, hart in unsere engen Grenzen verwiesen. Sagen wir es so: Die Schweiz erlebte ihre Existenz von Anfang an als gefährdet und musste Überlebensstrategien entwickeln. Dazu gehört die Wehrhaftigkeit einerseits und die aussenpolitische Enthaltsamkeit andererseits. Beides mündete in das Dogma der bewaffneten Neutralität.

Es ist schwer genau abzuschätzen, wieviel die ernsthaft gelebte und mit hohen Verteidigungsanstrengungen glaubhaft untermauerte Neutralität wirklich beigetragen hat, dass mein Land während mehr als zweihundert Jahren von den grossen kriegerischen Auseinadersetzungen in Europa verschont blieb. Aber im Bewusstsein eines sehr grossen Teils der schweizerischen Bevölkerung besteht diese direkte Ursächlichkeit ganz klar und unabweislich Genau von daher kommt die tiefverwurzelte Skepsis gegen aussenpolitische Öffnungen, weil jede Öffnung als „Einmischung in fremde Händel“ erlebt und verstanden wird, um ein berühmtes Wort unsres Nationalheiligen Nikolaus von Flüe (Bruder Klaus) zu gebrauchen.

Historische Erfahrungen und Lösungen werden in der Regel auch mythisch überhöht. Uns hat der deutsche Nationaldichter Schiller mit seinem Tell glücklicher- oder fatalerweise noch nachgeholfen und eine Menge Slogans und Stichworte geliefert, wie etwa: „Der Starke ist am mächtigsten allein“.

Gefährdungen kamen aber nicht nur von aussen, sie kamen nicht weniger von innen. Spannungen und Widersprüche fanden sich seit der Frühzeit in diesem lockeren Verband kleinster Staaten, der sich Eidgenossenschaft nannte, seien diese nun konfessioneller, machtpolitischer, rechtlicher oder sprachlich-kultureller Art gewesen. Auch hier galt es, Überlebensstrategien zu entwickeln. Zuviel an Zentralstaat durfte es nicht sein. Das bewies nicht nur das äusserst kurzlebige Experiment des Helvetischen Republik zwischen 1798 und 1803, sondern auch unser letzter kurzer Bürgerkrieg von 1847. Der wurde nämlich, genau betrachtet, auch um diese Frage geführt. Man musste dem Bundesstaat in der Mitte des 19. Jahrhunderts zwar so viel an Einheitlichkeit und zentraler Durchsetzungsmacht einräumen, dass man im modernen, industrialisierten Europa handlungs- und reaktionsfähig blieb, d.h. den Wettbewerb mit den andern Volkswirtschaften nicht zum voraus verlor. Aber andererseits reklamierten die Kantone, die sich vorab linguistisch-kulturell, konfessionell und zunehmend auch ökonomisch, und erst in zweiter Linie politisch definierten, soviel Selbstbestimmung wie möglich für sich. Die Lösung bestand in unserem weitgetriebenen System des Föderalismus und der Gemeindeautonomie sowie im Prinzip der Subsidiarität. Ja, lange bevor die Subsidiarität zum Schlag- und Modewort in der EU avancierte, hat sie die Struktur und die staatspolitische Dynamik der Schweiz grundlegend definiert. Und sie tut es noch heute, denn die Machtbefugnisse des Bundesstaates sind nicht originär; sie sind nur von den Kantonen „geliehen“, delegiert.

Wir haben auf diesem Weg ein sehr hohes Mass an persönlicher und kollektiver Freiheit wie auch an kultureller Vielfalt gewonnen. Der Preis aber ist der Verzicht auf eine starke nationale Identität. Deshalb wird diese Identität von vielen als so gefährdet und zerbrechlich empfunden. Was die Schweiz zusammenhält, ist nur der politische Wille, zusammen zu bleiben. Keine Sprache, keine Konfession, kein Herrscherhaus! Wie sagte doch Muschg im einleitend zitierten Satz: „Die Schweiz ist keine Nation, und sie braucht keine zu werden: sie ist viel weniger und viel mehr: ein ziviles Bündnis Verschiedener im Rahmen der Menschenrechte und der Menschenwürde.“ Deshalb hat ein politischer Schriftsteller mein Land vor vielen Jahren bereits eine „Willensnation“ genannt, und damit eine tiefe Wahrheit ausgesprochen.

Der „homo helveticus“ hat in der Folge eine Reihe ganz ihm eigener Verhaltensweisen und Befindlichkeiten ausgebildet: So ist er beispielsweise kein staatsgläubiger, er ist ein durch und durch staatsskeptischer Mensch. Er misstraut der Macht, vor allem, wenn diese weit von ihm entfernt, unpersönlich und unkontrollierbar und wenn möglich noch demokratisch wenig legitimiert ist oder erscheint. Sie können sich leicht vorstellen, auf welch fruchtbares Erdreich bei uns Schreckbilder, wie jenes vom bürokratischen Moloch in Brüssel fallen.

Am stärksten und nachhaltigsten zeigt sich die Staatsskepsis aber im System der direkten Demokratie. Diese Rechte und Mechanismen der unmittelbaren politischen Beteiligung jedes einzelnen wurden zwar erst im modernen Verfassungssaat ausgebildet und im Verlauf des letzten Jahrhunderts immer weiter getrieben und verfeinert. Im Bewusstsein des Schweizers und der Schweizerin gehen sie aber zurück auf die genossenschaftlichen Freiheiten, über welche die Einwohner der drei Urkantone im Mittelalter verfügten, und die sie so erfolgreich gegen das herrschaftliche Prinzip der Grafen und Herzöge verteidigten. Und mag darin auch viel Ideologie stecken, ganz falsch ist der Zusammenhang nicht. Das hat zur Folge, dass sich die Gegner eines EU-Beitritts zwar in erster Linie aus dem rechten politischen Spektrum rekrutieren, dass es aber es auch linke Basisdemokraten gibt, die die schweizerischen Institutionen durch „Brüssel“ gefährdet sehen. Auch sie haben 1992 gegen den EWR gestimmt.

Lassen Sie mich diese Gedanken so zusammenfassen: Es gibt auch andere neutrale und es gibt auch andere föderalistische Länder, die seit langem problemlos Mitglieder der EU sind. Der einfache Schluss, also müsste es auch für die Schweiz ganz ohne Identitätsverlust möglich sein beizutreten, greift zu kurz, weil wir auch das Verhältnis der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger zu diesen Prinzipien bedenken müssen. Neutralität, Föderalismus und Direkte Demokratie sind für die Schweizerinnen und Schweizer keine – wenn ich so sagen darf – äusserlich-mechanistische Organisationsprinzipen der Staatsverwaltung. – Als solche hätten sie nur dem Gesetz einer möglichst hohen Effizienz und Effektivität zu gehorchen – nein, diese Prinzipien bilden das eigentliche Fundament des schweizerischen Staatsgedankens und hängen miteinander innerlich zusammen. Die entscheidende Frage, die jeder von uns für sich zu beantworten hat, lautet demnach: Gibt es einen grundlegenden Konflikt zwischen der europäischen Einigungsdynamik und der schweizerischen Staatsidee, oder können Föderalismus und Neutralität in einem so umfassenden Sinne gedeutet werden, dass eine Kontinuität der schweizerischen Staatsidee zusammen mit der Mitgliedschaft bei der EU möglich sind? Für die Beitrittsgegner ist die Antwort ganz klar: Nein! Für die Regierung und einen beachtliche Teil des Wahlvolks aber steht ebenso klar fest: Wir müssen uns nicht aufgeben, wenn wir der EU beitreten. Die wesentlichen Elemente unserer staatlichen Philosophie wären zwar anzupassen, aber sie gingen nicht verloren.

4. Wie weiter?

Wie kommen wir da weiter?

Wenn die Regierung und wenn die Integrationsbefürworter die Mehrheit von Volk und Kantone für ihr Ziel gewinnen wollen, dann können sie das nur mit Überzeugungsarbeit bewerkstelligen. Das ist aber schneller gesagt als getan. Wie die Erfahrung zeigt, reagiert das Schweizer Volk auf informatorische Frontalangriffe der Regierung erst recht mit Zurückweisung. Da haben wir noch einmal so einen uralten Schweizer Reflex gegen den Obrigkeitsstaat! Wir müssen akzeptieren, dass die Sinnesänderung viel Zeit braucht, und wir müssen Brücken bauen.

Die Aushandlung der sieben bilateralen, sektoriellen Abkommen zwischen der EU und der Schweiz ist auch unter diesem Aspekt zu sehen. Natürlich ging es nach der für uns Befürworter schmerzhaften und ernüchternden Ablehnung des EWR-Vertrags im Dezember 1992 in erster Linie darum, auf pragmatischem Weg die drohende gegenseitigen Diskriminierungen zu vermeiden. Die Schweiz ist ja de facto und de iure bereits in einem solchen Mass in den EU-Markt integriert, dass die damals sich öffnenden Regelungslücken für beide Seiten zu erheblichen Nachteilen geführt hätten. Ich will sie nicht mit Zahlen langweilen. Aber es sagt schon recht viel aus, wenn ich Ihnen in Erinnerung rufe, dass die Schweiz rund 60% ihrer Exporte in die EU liefert und ungefähr 78% ihrer Importe aus der EU bezieht; dass die Schweiz Direktinvestitionen im Umfang von 25 Mrd. CHF in der EU getätigt hat und dass wir durch über 100 Abkommen vertraglich mit der EU verbunden sind.

Natürlich achtete die EU bei der Aushandlung der bilateralen Verträge darauf, dass mein Land auf diesem Weg nicht Rosinenpickerei betreibt; ein verständliches und durchaus legitimes Anliegen! Der erfolgreiche Abschluss der Verhandlungen im Dezember 1998 – nota bene unter der österreichischen EU-Präsidentschaft – zeigt, dass dies durchaus möglich war, d.h. dass beide Seiten auf ihre Rechnung kamen. Es zeigt aber noch etwas anderes, viel wichtigeres: Es zeigt, dass wir den ganzen bilateralen Weg, der uns zurzeit als einzige Möglichkeit offensteht, nicht als Alternative zur Mitgliedschaft sondern als einen Annäherungsprozess verstehen müssen. Noch fehlen auf der Seite der EU die Ratifikationen von zwei Ländern, die aber in den nächsten Wochen zustande kommen sollten. Ich darf hier hervorheben, dass Österreich das erste EU-Mitgliedland war, das die Verträge ratifiziert hat, wofür wir Ihnen, liebe Nachbarn, sehr dankbar sind. Bereits laufen aber wieder Verhandlungen für eine zweite Serie von bilateralen Sektorabkommen. Es geht dabei zunächst um die sogenannten „leftovers“ aus der ersten Runde, also um jene Bereiche, die bei den ersten Verhandlungen noch nicht vertragsreif waren. Dazu gehören etwa Fragen wie Dienstleistungen, Umwelt, Bildung, Medien usw. Die drei „dicken Brocken“ aber sind die Frage der Zinsbesteuerung, der (Zoll-)Betrugsbekämpfung und des Beitritts der Schweiz zum System von Schengen und Dublin.

Und wenn wir auch diese zweite Runde von bilateralen Verträgen unter Dach und Fach haben, wie soll es dann weitergehen? Sie wissen es, und ich habe es hier auch ungeschminkt vorgetragen, dass darüber in der Schweiz ganz unterschiedliche Meinungen herrschen. Wir werden auch in einigen Jahren noch hartgesottene Beitrittgegner in der Schweiz haben. Diese werden versuchen die bilateralen Verträge als Alternative zum vollständigen Mitmachen auszugeben. Andere Schweizerinnen und Schweizer haben den Charme des EWR wiederentdeckt und möchten eine zweite Abstimmung darüber durchführen. Ich bin aber überzeugt, dass weder der eine noch der andere Weg in die Zukunft führt. Der bittere Lernprozess, dass wir uns durch Abkoppelung die Probleme dieser Welt nicht vom Leib halten können und die geduldige Überzeugungsarbeit der Befürworter wird den Weg zum Beitritt freimachen; dessen bin ich sicher. Das Schweizer Volk muss die Gelegenheit bekommen, mit den sektoriellen Abkommen Erfahrungen zu machen. Dann werden sich viele der beschriebenen Ängste von selber auflösen, und der letzte Schritt wird als ein kleiner und leicht vollziehbarer erscheinen.

5. Schluss

Ich komme zum Schluss. Ich habe die Frage unserer EU-Mitgliedschaft hier ausschliesslich unter dem Aspekt der Interessenpolitik untersucht und dargelegt. Ich glaube das war berechtigt, denn die Aussenpolitik besteht überall zuerst einmal in der Verfolgung der legitimen Interessen eines Landes. Dazu bekennt sich auch unsere Regierung in dem zu Beginn genannten aussenpolitischen Weissbuch. Aber sie weisst umgehend auch darauf hin, dass die Interessenpolitik durch die Übernahme von Verantwortung zu ergänzten ist. Und nun zitiere ich wörtlich: „So gesehen bringt das Wortpaar Interessenwahrung und Verantwortung die ethische Grundlage einer nachhaltigen, zukunftsorientierten Politik zum Ausdruck“.

Was heisst das im Zusammenhang mit Europa und unserer Europapolitik? Es heisst, dass wir das europäische Einigungswerk nicht bloss als die Schaffung eines möglichst umfassenden Wirtschaftsraums sondern als ein grossartiges Friedensprojekt verstehen und entsprechend mit ihm umgehen müssen. Genau daran orientiert sich auch unsere Regierung und sie unterlässt nichts, um diese Sicht der Bevölkerung zu vermitteln. Solange wir nicht Mitglied der EU sind, können wir uns zwar nicht an allen Friedensinitiativen der Union beteiligen. Aber heute schon machen wir beispielsweise vollumfänglich beim Stabilitätspakt mit, wie wir uns auch sonst auf dem Balkan weithegend engagieren. Das ist ein Beispiel konkret wahrgenommener Verantwortung, das ist ein Beispiel von Zusammenarbeit mit der EU bei der Befriedung und Stabilisierung Europas.

Die Schweiz ist ein europäisches Land; nicht nur durch ihre geographische Lage, ihren Charakter und ihre wirtschaftlichen Beziehungen. Wir sind aktive Mitglieder vieler europäischer Zusammenschlüsse, wie dem Europarat, der OSZE, der ESA usw. und wir werden auch Mitglied der Europäischen Union sein, dessen bin ich sicher.

  • Beginn: Montag, 26. November 2001, 19:00 Uhr

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