Schöpfen aus der Pandemie
2020 schlug die Geburtsstunde der COVID-Kunst. Mit der Krise brach eine Welle an visuellen Werken zur mentalen Bewältigung los. Doch der Bruch mit dem Vertrauten führte auch zu Debatten darüber, was Kunst ist und darf. ZUZANA DUCHOVÁ über offene Fragen und neue Perspektiven für die Kunstszene in der Slowakei und darüber hinaus.
Die Welt mit Corona ist unberechenbar. COVID-19 ist eine neue, weitgehend gemeinsame globale Erfahrung. Die Kunst ist vielschichtig, sie reagiert auf Krisen und sucht nach Lösungen. Während in der »alten Normalität« die meisten Menschen davon überzeugt waren, zu keinem Kunstwerk fähig zu sein, entdeckten sie während der langen Schließungen inmitten unerwarteter Freizeit ihre verborgenen Talente. Im Frühjahr 2020 kam es zu einer richtigen Explosion an mehr oder weniger gelungenen visuellen Arbeiten, die im Internet präsentiert wurden. Die Motive dieses Oeuvres kamen hauptsächlich aus dem Alltagsleben in der Pandemie. So fingen etwa Reportage-Zeichnungen flüchtige Momente ein. Großen Erfolg verzeichneten auch Darstellungen von Einsatzkräften. Die Grenzen zwischen Kunst und Kitsch wurden sehr individuell gezogen, und wir können nicht automatisch alles verurteilen, ohne den Kontext zu berücksichtigen.
Interessanter als die Frage der Qualität und der Verwendung in der Kunstwelt ist vielleicht der Moment der Schöpfung selbst. Kunst und Kunsthandwerk tragen dazu bei, Bedeutung zu geben und die Geschehnisse auf unterschiedliche Art und Weise zu erklären. Für viele Menschen ist eine künstlerische oder kreative Tätigkeit ein notwendiges »Lebensmittel« und Grundlage für ein gesundes Leben. Kunst hilft, die Welt in einem anderen Licht zu sehen, in individueller und globaler Hinsicht. Die Fragen, die sich daraus ergeben lauten: Ist Kunst ein Privileg oder wird sie als selbstverständlich angesehen? Können Menschen ohne Kunst leben? Was ist normal?
Eine Frage der Qualität?
In der Slowakei gründete sich auf Initiative der Künstlerin Ivana Šáteková die Gruppe CoronART, um Solidarität und Unterstützung, insbesondere für slowakische bildende KünstlerInnen, zu leisten. Ihr Motto lautet: »Lasst uns coronakarantena zu einer kreativen Herausforderung machen. Bilder, Fotografien, Skulpturen, Grafiken … Hängen Sie alles, was während der Quarantäne entstanden ist, hier auf und lassen Sie uns in dieser frustrierenden Zeit eine kleine Online-Galerie erstellen!« Dahinter stand die Idee, einen kreativen virtuellen Raum zu schaffen, in dem die Menschen ihr Schaffen während der Krise mit anderen teilen können. Die Gruppe wuchs von einem kleinen Kreis auf über 9000 Mitglieder an. Šáteková möchte eine kuratierte Auswahl dieser Arbeiten auch in Galerien zeigen. Ihre eigenen intimen Zeichnungen ironisieren die Konsumgesellschaft und die Ergebenheit gegenüber der Angst. Ihre größte Sorge über die Zeit nach Corona ist das zunehmende Desinteresse der Menschen an ihren Mitmenschen. Zu Beginn der Pandemie erlebte Mitgefühl einen Höhepunkt, doch mit der Zeit wurde dieses immer oberflächlicher. Während Šáteková die experimentelle Online-Galerie verwaltete, stieß sie auf negative Reaktionen und auf das Problem von schwankender Qualität bei den Einsendungen.
Kunst als Spiegel der Gesellschaft
Viele Werke sind mit, für, trotz und wegen COVID-19 entstanden. Viele haben nur ein kleines Publikum erreicht, aber ihre Bedeutung für die Szene selbst ist erwähnenswert. Denn einer der Werte der Kunst ist es, eine öffentliche Diskussion anzuregen. Das Projekt 7×7 Seven Free Reflections on Art ist ein Gemeinschaftswerk von KuratorInnen der Slowakischen Nationalgalerie. Es reagiert auf den Boom der Online-Kultur während der Quarantänemaßnahmen. Der digitale Fußabdruck der Slowakischen Nationalgalerie war schon vorher recht prominent, sodass es für das Team selbstverständlich war, das Online-Angebot unter den neuen Bedingungen zu erweitern. Ursprünglich als Ergänzung zu ständigen physischen Ausstellungen gedacht, wurde das digitale Format für einige Wochen zu einem Schwerpunktthema. Das Ausstellungskonzept gestaltete sich bedeutend flexibel für eine Institution, deren Betrieb »normalerweise« unter konservativen Bedingungen mit einem vorher festgelegten langfristigen Plan erfolgt. In der Ausstellung stehen die KuratorInnen im Vordergrund, denn sie bringt keine neuen Werke, sondern zeigt neue Perspektiven darauf. In den einzelnen Ausstellungsräumen haben die BesucherInnen die Möglichkeit, bereits ausgestellte Werke im neuen Kontext der Pandemie kennenzulernen.
Ein ähnliches Konzept steckt hinter der Ausstellung DESIGN IS NOW! mit dem Untertitel Menschen werden Designer. Die Designer sind Menschen geblieben. Im Sommer 2020 wurde ein Querschnitt von Arbeiten von DesignerInnen im slowakischen Designmuseum ausgestellt. Die Ausstellung zeichnet die Aktivitäten von KünstlerInnen, DesignerInnen, Designstudios, EntwicklerInnen, Schulen, HerstellerInnen und LaiInnen während der Pandemie nach und zeigt markante Phänomene dieser Bewährungsprobe von Menschlichkeit und Zugehörigkeit.
Offenheit praktizieren
Das neueste Werk von Dorota Sadovská wurde in der Städtischen Galerie Bratislava in einer auf September 2020 verschobenen Ausstellung mit dem Titel Common Nonsense präsentiert. Auf die drängenden Probleme der Welt, die durch die Pandemie verursacht oder verstärkt wurden, reagierte sie mit figurativen Gemälden, die auf abstrakte Kompositionen abgestimmt waren. Die Gemälde #StayHome 1 und #StayHome 2 (2020) wurden zwar als Reaktion auf die Pandemie geschaffen, doch ihr Inhalt ist viel umfassender. Die angehäuften und ineinander verschlungenen Gliedmaßen und Körperteile sind ein subtiler, humorvoller Beitrag zur Darstellung eines überfüllten Lebensraums, sei es eine Wohnung, in der alle Familienmitglieder eingesperrt sind, oder der Planet. Durch die verwendeten Farben spielt sie auch auf Fragen der Normalität und Gesundheit an. Die Kunst enthält Elemente, die der Gesellschaft in jeder Situation helfen können – sei es ihre soziale und kommunikative Dimension, durch ihre Affinität zur Innovation oder durch die Anwendung in der Psycho- und Kunsttherapie. Die aktuellen Entwicklungen in der visuellen Kunst spiegeln weitgehend die Welt um uns herum wider, da die Krise der öffentlichen Gesundheitssysteme die Menschen unabhängig von ihrer kulturellen Zugehörigkeit betrifft. In der Welt der Kunst können wir zusammenkommen, ohne dass die Konflikte eskalieren müssen. Doch es ist ebenso in Ordnung, keine COVID-Kunst zu schaffen, denn jede Reaktion auf ein Trauma oder eine Krise ist legitim. Als Kunstmenschen sollten wir jedenfalls dazu in der Lage sein, den vielfältigen Ergebnissen dieser Schaffensprozesse mit einem gewissen Maß an Offenheit und Freundlichkeit zu begegnen.
Zuzana Duchová, Kuratorin und Publizistin, studierte Kunstgeschichte an der Comenius Universität in Bratislava und an der Universität Wien. Neben ihrer theoretischen Forschung über das kulturelle Leben in Städten, hat sie mehrere Veranstaltungen über die Schnittmenge von Kunst, Architektur und kreativem Tourismus mitorganisiert und zusammen mit über 40 Co-AutorInnen zwei Bücher über Bratislava veröffentlicht. Aktuell arbeitet sie für den Creative Europe Desk Slovakia und kuriert das Projekt salonik.sk.