Vortrag des neuen ungarischen Botschafters Dr. István Horváth

Datum/Zeit
November 24, 2003
18:00 - 21:00 MESZ/MEZ


Rede des ungarischen Botschafters Dr. István Horvá:

 

‚Exzellenzen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Es ist für mich eine besondere Freude, der Einladung der so renommierten Diplomatischen Akademie in Wien Folge zu leisten und das Thema „Ungarn und der EU­Beitritt” in einem Vortrag zur Sprache zu bringen. Es gibt einen zusätzlichen Grund, warum ich es als neuer Botschafter Ungarns für eine besondere Ehre halte, als eine meiner ersten angenehmen Verpflichtungen in dieser Akademie sprechen zu dürfen. Es geht nicht nur darum, dass auch ungarische Studenten in dieser Alma Mater studierten und studieren. Die Akademie war mutig und engagiert, ihre Beziehungen schon in den frühen 80­er Jahren zu Ungarn, nämlich zu meiner ehemaligen Hochschule, der Wirtschaftsuniversität in Budapest zu etablieren. Die Beziehungen der Diplomatischen Akademie zu der Wirtschaftsuniversität, zu dem Lehrstuhl für Internationale Beziehungen ­ wo ich selbst Lehrtätigkeit im postgradualen Studiengang BIGIS ausübe­ gehen auf mehrere Jahrzehnte zurück.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit einer Zeremonie unter der Akropolis in Athen hat die Europäische Union die grösste Erweiterung ihrer Geschichte besiegelt. In einer „Athener Erklärung” von diesem Jahr nannten die Staats­ und Regierungchefs aus 25 Ländern die Unterzeichnung der Beitrittsverträge für zehn Staaten einen „einzigartigen Erfolg”. In den bald 25 Mitgliedstaaten der Union werden 450 Millionen Menschen leben. Im März 2003 haben sich Ungarns Wahlberechtigte mit grosser Mehrheit für den Beitritt des Landes zur Europäischen Union ausgesprochen.

Es gibt eine Reihe von Faktoren, warum sich die fünfte Erweiterung von den früheren Erweiterungen der EU unterscheidet. Es ist leicht einzusehen, warum die bevorstehende Erweiterung der EU nicht als eine blosse Vergrößerung angesehen werden kann. Sie ist eine Vereinigung Europas von ganz besonderer Qualität, wobei einige Beobachter auch dazu neigen, diesen Prozess mit einer Neugründung der europäischen Integration gleichzusetzen. Ferner wird die Unterscheidung einerseits auf die grosse Zahl der Neumitglieder, anderseits darauf zurückgeführt, dass die meisten beitretenden Länder viel ärmer sind als der EU­Durchschnitt und auch als die relativ ärmsten Länder der gegenwärtigen EU. Hinzu kommt, dass die fünfte Erweiterung die meistunterfinanzierte Erweiterung in der Geschichte der Union darstellt.

Mit der Vereinigung von Ost und West hat die Nachkriegs­EU, ursprünglich ein Kind des Kalten Krieges, endgültig ihren Gründungsauftrag erfüllt: Das Friedensprojekt Europa, das so erfolgreich seine traditionellen Konflikte in angepaßtere Bahnen lenkte, bindet in seine Entwicklung nun auch den sogenannten Osten mit ein. Es ist auch leicht einzusehen, dass die Erweiterung eine bewährte Methode darstellt, die Konflikte mit friedlichen Mitteln zu lösen und die Entwicklung einer paneuropäischen Konfliktkultur zu fördern. Es bahnt sich auch die Erkenntnis an, dass die Osterweiterung eine unvermeidliche Reform in der EU zur Folge hat. Die EU war schon reformbedürftig mit 15 Mitgliedern und wird es erst recht mit 25 Mitgliedsstaaten sein. Der Erweiterungskommissar G. Verheugen formulierte es so: Der Verfassungskonvent müsse eine wirklich durchgreifende Reform an Haupt und Gliedern erreichen, sonst werden die Institutionen an ihrer eigenen Grösse ersticken.

Zur Besonderheit der fünften Erweiterung sind solche Faktoren wie das neue internationale Umfeld sowie die innere Befindlichkeit der Union hinzugekommen. Die reale Union Europas ist nicht nur durch mehrere Risse, sondern auch durch Spaltungen gekennzeichnet. Von aussen zerrte der Streit um Amerikas Krieg am Golf so lange an den Europäern, bis sie sich in zwei Lagern wiederfanden. Im Innern, bei den Verhandlungen um die EU­Verfassung und Brüssels künftige Machtbalance, formiert sich derweil eine ganz andere Schlachtordnung. Es rüsten sich die so genannten kleinen Länder für ihren Abwehrkampf gegen den gestiegenen Machtanspruch der grossen Vier: Deutschland, Frankreich, Spanien und Vereinigtes Königreich.

Ferner ist es offensichlich, dass es zwischen den NATO­ und EU­Beitritten erhebliche Unterschiede bezüglich der Anforderungen gibt. Man kann sich die provozierende Frage stellen, ob die neuen Kandidaten einer gespaltenen Union – einer „Spaltungsunion” – beitreten müssen, auf die sie gar nicht vorbereitet sind. Es gibt eine neue ideologische Konfliktlinie von weltpolitischer Bedeutung, welche nun allerdings nicht zwischen dem Westen und dem Rest der Welt, sondern innerhalb des Westens, nämlich zwischen den Vereinigten Staaten auf der einen Seite und ihren westlichen, insbesondere europäischen Partnern, aber auch innerhalb der EU auf der anderen Seite verläuft. Hinzu kommt, dass die politischen Klassen der Beitrittsstaaten aus historischen Gründen geneigt sind, die durch die USA dominierte NATO prioritär als Sicherheits­ und die EU vorrangig als Wirtschaftsanker zu betrachten, ohne zwischen beiden eine zwangsläufige Wahl treffen zu müssen.

Es ist wichtig darauf zu verweisen, dass die Neumitglieder einer EU beitreten, deren institutionelle Gestaltung sich in vieler Hinsicht noch in der Entwicklung befindet und die ihre endgültige Form noch nicht gefunden hat. Die Beteiligung der Kandidatenländer an den Beratungen des Konvents zeugt von dem Bemühen der EU, diesen Wandlungsprozess offen zu halten und die Positionen der künftigen Mitgliedstaaten zur Kenntnis zu nehmen.

Die neueste Erweiterung bringt vielfältige Herausforderungen mit sich, denen sich die Union künftig in ihrem internationalen Umfeld stellen muss. Sie muss lernen, mit veränderten Aussengrenzen und damit auch anderen unmittelbaren Nachbarn und Problemen umzugehen. Sie wird dabei an politisch und ökonomisch teils instabile Randregionen stossen, deren weitere Entwicklung sie unmittelberarer betreffen werden als bisher (der Balkan; Russland, Ukraine). Die EU muss deshalb verstärkt auf Krisen und Konflikte in ihrer unmittelbaren Umgebung effektiv und vor allem zügig reagieren.

Die immer wiederkehrenden Diskussionen um Gestalt und Inhalt einer europäischen Aussenpolitik zeugen von einer Ambivalenz und grundsätzlichen Unzufriedenheit, die sich aus einem Zwiespalt unter den jetzigen und vielleicht auch den künftigen Mitgliedsstaaten ergibt: einerseits streben die Regierungen eine effektive internationale Rolle der EU an, anderseits wollen sie ihre eigene Gestaltungsmöglichkeiten nicht an gemeinsame Organe abgeben. Mit anderen Worten: die EU­Regierungen sind bestrebt, die internationale Politik wirkungsvoll zu beeinflussen, ohne jedoch den staatszentrierten intergouvernmentalen Grundcharakter der GASP1 verändern zu wollen. Es stellt sich die Frage, ob die EU wirklich eine Supermacht mit gemeingültiger Außenpolitik sein könnte, ohne eine bundesstaatsähnliche Form anzunehmen. Nach einigen Meinungen würde die reine integouvernmentale Zusammenarbeit mit der Schaffung eines neuen Volksbundes gleichbedeutend sein. Integration heisst hingegen, dass man Aufgaben identifiziert und diese den Gemeinschaftsorganen überträgt.

Weiterhin sind die Probleme der Handlungsfähigkeit der EU einerseits dadurch gekennzeichnet, dass Effizienz und Demokratie gleichzeitig nicht umgesetzt werden können. Anderseits sind die unterschiedlichen Konzepte der Zukunfts­ und Handlungsfähigkeit der EU mit den Begriffen eines „Kerneuropas”, einer „Pioniergruppe” oder verschiedenen Formen eines „Direktoriums” verknüpft. Vertraglich gilt das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit als Ausdruck einer flexiblen Handlungsweise innerhalb der EU.

In den Verhandlungen zum Vertrag von Nizza unterstützten die deutschen und französischen Regierungen die Einführung einer Klausel zur verstärkten Zusammenarbeit im zweiten Pfeiler (und hier mit einem besonderen Blick auf die ESVP22), einen Ansatz, der aber von Grossbritannien und anderen Ländern abgelehnt wurde. Ergebnis war ein Kompromiss, der die Einführung einer verstärkten Zusammenarbeit im Rahmen der GASP unter bestimmten Kondtionen zuliess, aber explizit Fragen mit militärischen und verteidigungspolitischen Bezügen ausnahm.

Der deutsch­französische Vorschlag zur ESVP vom November 2002 und der 2003 veranstaltete Vierergiplfel reflektieren ebenso eine derartige Politik, wenn er die Fortentwicklung zu einer Sicherheits­- und Verteidigungsunion propagiert und insbesondere verschiedene Formen verstärkter Zusammenarbeit für multilaterale Streitkräfte mit integrierten Führungskapazitäten sowie die Erarbeitung gemeinsamer Doktrinen anregt. Insgesamt wird damit die Idee eines icherheits­- und verteidigungspolitischen Kerneuropas assoziiert.

Der Anspruch, die institutionellen und schwierigen Bestimmungen europäischer Aussenpolitik zu reformieren, sollte aber zunächts auf die Machbarkeit möglichts umfassender Reformen abzielen. Selbst eine noch so imposante Teilgruppe von EU­Staaten könnte das Gewicht der Union insgesamt als Akteur der internationalen Politik nicht ersetzen. Gerade die neuen Mitgliedstaaten scheinen an einer gemeinsamen EU­Politik besonders interessiert, da ihnen dies einen weitmöglichen Einfluss auf die Union eröffnet und ihrem Bedürfnis nach gleichberechtigter Behandlung entgegenkommt. Wenn aber neue Mitgliedstaaten aufgrund mangelnder Fähigkeiten in bestimmten Feldern keine ausreichende Möglichkeit einer verstärkten Zusammenarbeit sehen, könnte dies zu Unstimmigkeiten und zu dem Gefühl einer Zweiklassenmitgliedschaft führen.

Die EU bietet nicht nur einen kontinentalen, supranationalen Markt aufgrund der Vorteile der „Grossraumwirtschaft” bzw. scale of economy an, sondern sie ist auch eine „Entwicklungsgemeinschaft” den Aufholprozess der neuen ostmitteleuropäsichen Mitgliedsstaaten zu fördern und zusätzliche Mittel zur Verfügung zu stellen zwecks Milderung der regionalen Disparitäten innerhalb der EU und der einzelnen Mitgliedsstaaten. In einem gesamteuropäischen Kontext besteht auch viel mehr Möglichkeit, mit dem Problem der Nicht­Übereinstimmung von Staat und Nation sowie mit dem historisch geprägten Spannungsverhältnis zwischen der jeweiligen Minderheit und Mehrheit mit friedlichen Mitteln in Mittel­ und Osteuropa umzugehen.

Wenngleich sich die von der ersten demokratisch gewählten Antall­Regierung konzipierte Triade, d.h. Zielstruktur der ungarischen Aussenpolitik (doppelte Westintegration, kooperative Nachbarschaftsverhältnisse und die Durchsetzung der Minderheitrechte für die magyarischen Volksgruppen in den Nachbarländern) in der Gewichtung und Ausgestaltung ihrer Einzelelemente änderte, blieb sie doch in ihren Grundzügen allen drei Regierungen seit dem Systemwechsel gemein. Die strukturelle Kontinuität bei den Zielen verweist auf den Umstand, dass sich diese grossenteils aus den aussen­ und innenpolitischen Rahmenbedingungen ergeben und in den vergangenen drei Legislaturperioden von einer neuen Regierung nicht ohne weiteres neu definiert werden konnten. Immerhin haben sich zwei Denkschulen von sozialliberaler und national­konservativer Prägung bezüglich der Frage von Staat und Nation mit allen operativen Konsequenzen in den neunziger Jahren herausgebildet. Im allgemeinen handelten die Diskussionen von der Forderung nach Gleichgewicht bezüglich der Einzelelemente der aussenpolitischen Triade. Alle Regierungen teilten und teilen den verfassungsmässigen Auftrag, um die Auslandsungarn über die Grenzen hinweg Sorge zu tragen, aber die Standpunkte divergieren im Hinblick darauf, wie eine Aussenpolitik, (Nachbarschafts­ und Minderheitenpolitik) stabilitätsfördernd in die Praxis umgesetzt werden kann.

Seit dem Ende des ersten Weltkrieges liegt das zentrale Problem der ungarischen Aussenpolitik in der Nicht­Übereinstimmung von Staat und Nation, von Staatsbürgerschaft und Nationalität. Ungarns Versuche, mit diesem Problem fertigzuwerden, reichten von dem in die tragische Sackgasse führenden Revisonismus in der Zwischenkriegszeit bis zur totalen Verdrängung im sowjetischen Machtbereich der Nachkriegszeit. Im kollektiven Bewusstsein der Ungarn steht der Name Trianon – verbunden mit dem bespiellosen territorialen und demographischen Verlusten. Im 20. Jahrhundert Im grossen Luftschloss „Grand Trianon” wurde am 4. Juni 1920 der Friedensvertrag zwischen der Antant und Ungarn unterzeichnet. Seitdem existiert das Trianon­Syndrom und seitdem ist es, mit all seiner semantischen Vieldeutigkeit, auch im ungarischen aussenpolitischen Denken präsent. Von dieser Zeit an hat sich das operative Dilemma der ungarischen Aussenpolitik abgezeichnet, und zwar die Frage, wie es möglich ist, gute Beziehungen sowohl zu den Nachbarstaaten als zu den ungarischen Minderheiten gleichzeitig aufrechtzuerhalten und regionale Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg zu fördern, ohne den Verdacht direkten oder indirekten Revisionismus herbeizuführen.

Nach der Wende ist das Trianon­Syndrom wieder in seinem historischen Kolorit erschienen und spiegelte die eigenartige Dialektik der Tages­ und Geschichstpolitik wider. Nach der „Wende” scheute die national­konservative Regierung die Thematisierung des Problems nicht. Der erste demokratisch gewählte Ministerpräsident Ungarns Jozsef Antall äusserte sich als „Ministerpräsident” von 15 Millionen Ungarn und das Statement löste eine negative Resonanz in Ungarns Nachbarstaaten aus, wenn auch diese Behauptung „nur geistig” gemeint war. Auch diese Entwicklung demonstrierte exemplarisch, dass die Diskontinuität der neuen demokratischen Aussenpolitik Ungarns viel mehr im Bereich der Nachbarschafts­ und Minderheitenpolitik als in der schon in reformkommunistischen Zeiten eingeleiteten Westpolitik zum Ausdruck kam. Es war auch leicht einzusehen, dass die so viel deklarierte „Rückkehr zu Europa” auch die „Rückkehr zu den alten Nachbarschaften” miteinschliesst. Dieser Tatsache musste die erste national­konservative Regierung Rechnung tragen und den Weg der Grundlagenverträge mit den Nachbarstaaten einschlagen.

Vor diesem Hintergrund ist die EU­-Mitgliedschaft nicht nur mit dem historischen Modernisierungs­- und Aufholprozess, sondern auch mit Überwindung des Trianon­Syndroms und Wiedererstarkung der ungarischen Nation verbunden, wobei die Minderheitenprobleme wohl nicht über Nacht verschwinden werden, aber die Union eine institutionelle Lösungskapazität bietet, die historisch geprägten Probleme in den Griff zu bekommen. Die Sozialisten vertreten eine pragmatische Nachbarschafts­ und Minderheitenpolitik ohne Rücksicht auf das Konzept der einheitlichen ungarischen Nation. Immerhin machten sowohl die sozialliberalen, als auch die national­konservativen Regierungen von den Methoden der Grundverträge im Sinne der Verbindung der Anerkennung von Status quo und der Ausweitung der Minderheitenrechte Gebrauch. Ein wesentlicher Unterschied aber besteht darin, dass die nationalkonservative Aussenpolitik bewusst darauf abgezielt war, rechtlich und institutionell fundierte Beziehungen zwischen Ungarn und den Auslandsmadjaren grenzüberschreitend zu etablieren und „positive Diskriminierung”, d.h. „zusätzliche Rechte” zugunsten der ungarischen Minderheiten zu erzielen („Statusgesetz über Auslandsungarn”). Diese Politik war durch einige von den Nachbarländern und auch von den Experten der Union als Bestreben eingestuft, das auf die unannehmbare Unterscheidung aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit abgezielt ist und die Gefahr der Extraterritorialität in sich birgt. Von Anfang an distanzierte sich der liberale Koalitionspartner von dieser Politik, während die Sozialisten für das „Statusgesetz” votierten, aber sie waren bereit, im Laufe der bilateralen Gespräche über die den Auslandsungarn zu gewährenden Begünstigungen viele ­ nach ihrer Auffassung unwichtige Elemente aufzugeben und das „Statusgesetz” in ein für „europakonform” erklärtes „Begünstigungsgesetz” umzuwandeln.

Es ist wichtig weiterhin darauf hinzuweisen, dass die aussenpolitische Agenda Ungarns und auch der anderen neuen Mitgliedstaaten durch die Beitrittforderungen neu gesetz wird. Das gilt auch für die „Triade” der ungarischen Aussenpolitik, die nach der Wende die feste Zielstruktur der ungarischen Aussenpolitik bildete. Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Triade der ungarischen Aussenpolitik sowohl inhaltlich als auch in ihrer Form umgestaltet wird.

●  Nach der Umsetzung der Doppelintegration Ungarns wird die euroatlantische Integration von der aussenpolitischen Tagesordnung abgesetzt. Anstelle dieser Zielsetzung wird Ungarns Bestreben treten, die feste Positionierung Ungarns innerhalb der Union zu erzielen. Gleichzeitig aber ist auch die Anforderung an Budapest gestellt, den benachtbarten nicht­EU­Staaten mit der Mitgliedschaft nicht den Rücken zu kehren.

●  Mit der Doppelintegration Ungarns wird eine neue Rahmenbedingung der ungarischen Aussenpolitik, d.h. die geopolitische Randlage Ungarns geschaffen. Ungarn wird der neue Randstaat der europäischen Union werden. Die Aussengrenze der EU wird Ungarns Ostgrenze sein, wobei die damit entstehenden neuen Herausforderungen sowohl ungarische als auch europäische Aufgaben sein werden.

●  Die Visegrad­Staaten können einen wichtigen Beitrag zu einer „neuen Ostpolitik” der sowohl bilateral­ national, als auch multilateral, regional bilden. Es ist wichtig, eine Balance zwischen nationalen und regionalen Ansätzen zu finden. In diesem Kontext muss Ungarn eine sozialisierende Funktion bezüglich z.B. des südslawischen Raumes und dementsprechend der Nachfolgerstaaten Jugoslawiens wie Serbien in Regim und Regelungen der euroatlantischen Politik und Wirtschaft einbinden. Aus serbischer Sicht ist es klar, dass Ungarn ein strategischer Partner ist.

●  Die EU erlaubt wenig Spielraum, eine Politik der positiven Diskriminierung aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit zu betreiben, aber die nationalen Interessen und Kulturen werden in einem homogenen Raum nicht aufhören zu existieren. Die europäische Einigung trägt ihren Sinn nicht in sich, sondern bezieht ihn aus Aufgaben, die die europäischen Staaten allein nicht lösen können. Aus der Sicht der neuen Mitgliedstaaten ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass primäre Akteure der europäischen Nationen bleiben, die angesichts der globalen Gefahren des 21. Jahrhunderts ein angemessenes Mass an Selbstbestimmung nur durch eine handlungsfähige Europäische Union aufrechterhalten können.

●  Der alte Widerspruch in der EU zwischen Gemeinschaftspolitik einerseits und nationaler Interessenwahrnehmung anderseits ist so schnell nicht aufzulösen. Was tun, wenn die EU auf 25 Mitglieder angeschwollen sein wird? Manchne suchen ihr Heil dann in der so genannten „verstärkten Zusammenarbeit”. Das heisst nichts anderes, als dass einige wenige einen „Klub im Klub” bilden wollen. Im Laufe des Konvents waren die wichtigsten Prinzipien der ungarischen EU­Politik bezüglich eines europäischen Verfassungsvertrages wie die Funktionsfähigkeit der Union, die Gleichberechtigung der Mitgliedsstaaten, die Effizienz des gemischten, d.h. gemeinschaftlichen und intergouvernmentalen Modells, die zunehmende Rolle der EU als internationaler Akteur, die Bewahrung der bisherigen Errungenschaften usw. eindeutig formuliert. Budapest plädiert für die EU als einheitliches Völkerrechtssubjekt, die Integrierung der Charta der Grundlegenden Rechte in den vereinheitlichten Verfassungsvertrag, wobei sich Ungarn auch dafür einsetzt, dass die EU nicht nur die Gleichberechtigung der Mitgliedsstaaten, sondern die der Völker und Bürger garantieren muss. In diesem Zusammenhang plädiert Ungarn dafür, dass auch die neuen Mitgliedstaaten einen eigenen Kommissar haben. Das historische Erbe der ostmitteleuropäischen Region deutet darauf hin, wie sehr die Sicherung der Menschen­ und Minderheitenrechte notwendig ist. Aus diesem Grunde schlug Budapest auf dem Konvent vor, dass die politischen Kriterien von Kopenhagen als Beitrittskriterien auch in den Verfassungsvertrag eingebunden werden. Dadurch würde das von der Union in Anspruch genommene „Doppelmass” („double standard”) aufhören zu existieren, wonach die Union viel strengere Normen nach „aussen” als nach „innen” anwendet.

● Mit der Erweiterung haben auch die subregionalen Kooperationsformen als „Übungsgelände” wie die Visegrad­Gruppe und CEFTA für den Weg zur Mitgliedschaft in NATO und in der EU viel an Funktion und Substanz verloren, sie stehen vielmehr vor der Aufgabe, sich unter den neuen Bedingungen neu zu bestimmen. Die wachsende Heterogenität der EU im Zuge der Erweiterung wird auch mit der Erwartung verknüpft, dass die geographisch nahe liegenden Länder und Landesteile innerhalb der Union und der angrenzenden nicht­EU­Staaten künftig verstärkt regionale Initiativen ergreifen, ohne an die gesamte EU zu denken. So würden die baltischen und skandinavischen Staaten eher auf die nördliche Dimension, während südliche Länder enger am Mittelmeerraum ausgerichtet sein. Mit der Osterweiterung stellt sich die Frage, ob eine mitteleuropäische Dimension der subregionalen Zusammenarbeit in der EU zustande kommen wird. Mit Österreichs Mitgliedschaft ist eine mitteleuropäische Dimension erschienen, aber sie ist ohne die ostmitteleuropäischen Staaten nur ein Torso geblieben. Immerhin ist es leicht einzusehen, dass die Geographie an und für sich in der Union keine Politik macht. Es geht viel mehr um funktionale Logik, wonach sich die wechselnden Allianzen bezüglich der unterschiedlichen Politikbereiche herausbilden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ungarn ist bestrebt, eine balanciertere Lösung in Bezug auf Bewahrung der Identitäten der 10 neuen Beitrittsländer zu finden, aber gleichzeitig auch den ungarischen Minderheiten in den Nachbarstaaten hinsichtlich der Aufrechterhaltung ihrer kulturellen Identitäten zur Hilfe zu sein. Ungarn will ein neues EU­ropa aufbauen, ein gemeinsames Europa, in dem eine Balance zwischen Integration und Nation, zwischen den kleinen und grossen Mitgliedsstaaten, zwischen Solidarität und Wettbewerb, zwischen Einheit und kultureller Vielfalt verwirklicht wird.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.‘

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