Antiziganismus ist trotz Corona gesund und lebendig
Die Juristin Lilla FARKAS setzt sich für die Gleichberechtigung der Roma-Minderheit ein. In ihrem Kommentar prangert sie tiefgehende und folgenschwere Probleme in Ungarn an, weist aber auch auf blinde Flecken in der europäischen Debatte um Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenrechte hin.
Romaphobie bzw. Antiziganismus ist sozusagen die letzte akzeptierte Form von Rassismus in Europa. Die Minderheit ist wenig bis gar nicht in den Nachrichten zu sehen, da sich der Kampf gegen die Coronakrise hauptsächlich auf politische Reaktionen konzentriert. In der Slowakei und in Rumänien war lediglich die Schließung infizierter Roma-Viertel eine Nachricht wert, die zeigt, dass die Geschäfte wie gewohnt weiterlaufen. Die Instrumente der Virus-Eindämmung folgen dabei dem Muster jahrhundertelanger räumlicher Segregation und sozialer Ausgrenzung der Minderheit. Ob die Gesundheitsmaßnahmen die imaginären, oft aber auch sehr realen Mauern um die RomaViertel überwinden, wird nicht berichtet. Die Romnja und Roma werden im Kampf gegen das Virus und die wirtschaftliche Not nach der Krise alleingelassen. Die Mehrheit ist auf dem Schwarzmarkt beschäftigt, was zur Folge hat, dass selbst die halbherzigen und viel kritisierten Maßnahmen zur Belebung der Wirtschaft wenig Wirkung auf sie haben werden. Eine gezielte Unterstützung wäre notwendig, aber wie so oft profitiert die Minderheit nicht von sozialen Förderungen. Vielmehr befürchten ExpertInnen und AktivistInnen, dass die Wirtschaftskrise nach dem COVID unweigerlich zu einer weiteren Verschlechterung ihrer sozioökonomischen Lage führen wird.
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Roma-feindliche Kampagnen
Antiziganismus ist in Ungarn so weit verbreitet, dass die Krise den ungarischen Romnja und Roma sogar kurz zu Gute kam, indem sie die skrupellosen Sündenbock-Kanonen der Regierung Orbán auf einen idealen Feind, ein unbekanntes ausländisches Virus, lenkte. Ende Februar stellten die von der Regierung geförderten Medien die jüngste romafeindliche Kampagne ein, die im Anschluss an einen Entschädigungsfall geführt worden war. Die Gerichte hatten 60 Kindern eine Entschädigung von einer Million Forint (knapp 3000 Euro) für die segregierte und schlechtere Bildung zugesprochen. In den ersten beiden Monaten des Jahres 2020 wurde der Fall Gyöngyöspata von der Fidesz-Partei genutzt, um erneut den inneren Feind ins Visier zu nehmen. Der politisch lukrativen Fremdenfeindlichkeit ging nämlich die Luft aus. Es folgte eine dreimonatige Pause mit dem Kampf gegen die erste Welle des Coronavirus. Die Regierung gewann glorreich, indem sie die Saat einer von der Regierung initiierten und auf Erlassen beruhenden Gesetzgebung säte und die lokale Regierung mit obligatorischen »Solidaritätsbeiträgen« fesselte, die die lokalen Haushalte leerten, während sie die Lasten der Steuereinziehung und der sozialen Versorgung den von der Opposition kontrollierten Städten überließ. Vor kurzem ist die Fidesz-Regierung jedoch wieder zum Minderheitenthema zurückgekehrt. Der alt-neue Ansatz besteht darin, die Unterdrückung der Romnja und Roma weiter zu verankern. Daher zielt die Kampagne auf Schulen ab. Sie gelten als der einzig verbleibende physischer Raum, den sich die Minderheit und die Mehrheitsgesellschaft immer noch teilen. 60–70 % der Romnja und Roma sind in Bezug auf Wohnen, Arbeit und sogar Gesundheitsversorgung, wie etwa in Entbindungsstationen, segregiert. Sie kaufen im »RomaViertel« ein, denn sobald sie diese verlassen, werden sie von der Polizei strengstens überwacht, was zu einer unerträglichen Anzahl von Kontrollen und Geldstrafen führt.
Schulen im Fokus
Die Regierung ist bestrebt, die Polizeiarbeit auf problematische Schulen auszuweiten, in denen Kinder, die Angehörige der Minderheit sind, überrepräsentiert sind. Es geht darum, ihnen die Familienbeihilfe zu entziehen, wenn sie Ärger machen, und ihnen das Recht auf zivilrechtlichen Rechtsbehelf zu verweigern, sollten sie den Mut aufbringen, vor Gericht Gerechtigkeit zu suchen. Ein Fidesz-Abgeordneter, der sich einen Namen gemacht hat, indem er die Roma-Gemeinschaft in Gyöngyöspata in den Medien schikanierte, wurde vom Premierminister ernannt, um das Problem von Schultrennungen zu Beginn der Coronakrise zu lösen. Der Direktor der lokalen Schule wurde für das Schlagen von Kindern strafrechtlich verfolgt. Ungeachtet dieser Tatsache setzte sich der Politiker für eine Schulpolizei ein. Seine Vision steht in krassem Gegensatz zu der von Minneapolis, wo Schulbezirke nach der antirassistischen Mobilisierung Verträge mit der Polizei auflösten. In den USA wurden die Proteste dadurch ausgelöst, dass die Trump-Regierung nicht auf die verheerenden Auswirkungen des Coronavirus und des institutionellen Rassismus innerhalb der Polizei reagierte. Obwohl die Roma-Gemeinschaft von Gyöngyöspata und ihre SympathisantInnen gegen den Rassismus der Regierung und den damit verbundenen Angriff auf die Unabhängigkeit der Justiz protestierten, ist die Mobilisierung an der Basis schwach.
Im Schatten des EU-Rechts
Öffentliche Debatten in der Europäischen Union konzentrieren sich auf die jüngsten illiberalen Angriffe auf den ungarischen Rechtsstaat und die oppositionellen Kräfte, während Bedenken zu Minderheitenrechten weitgehend unbemerkt bleiben. Zwar hat die Coronakrise das Antiziganismus-Paradigma nicht verändert, aber man könnte berechtigterweise argumentieren, dass es auch das illiberale Paradigma nicht grundlegend verändert hat, sondern lediglich neue Waffen in das Arsenal ihrer Akteure aufgenommen hat. Das Rezept bleibt dasselbe. Im Fall Gyöngyöspata sah der jüngste Vorschlag zur Änderung des Gesetzes über das nationale Bildungswesen vor, sich auf die EU-Richtlinie zur Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse zu berufen. Das Gesetz sollte als Grundlage dafür dienen, künftig keine Entschädigungszahlungen für moralische Schäden, die SchülerInnen zugefügt wurden, zu bezahlen. Vielmehr sollten RichterInnen stattdessen eine Entschädigung in Form von Sachleistungen anordnen. Es ist unnötig zu sagen, dass die Richtlinie die Mitgliedsstaaten verpflichtet, eine Entschädigung zur Verfügung zu stellen, während sie natürlich wirksamere, verhältnismäßigere und strengere Rechtsmittel erlaubt. Der Vorschlag übersieht somit die Verpflichtung der EU-Mitglieder, indem er vorgibt, dem EU-Recht damit angeblich nachzukommen. Der Gesetzesvorschlag stimmt keinesfalls mit dem Zweck der EU-Richtlinie und dem Verfahren überein, auch wenn er auf dem Papier ordentlich aussieht. Erstens: Warum schlägt nicht das Bildungsministerium, sondern ein Abgeordneter vor, die entsprechende Gesetzgebung zu ändern? Es sei denn, er will eine öffentliche Konsultation (eine Form der politischen Umfrage in Ungarn) vermeiden, die nur dann obligatorisch ist, wenn der Vorschlag auf Initiative des Ministeriums erfolgt. Zweitens: Warum wird die Entschädigung für moralische Schäden im Bildungsgesetz und nicht im Zivilgesetzbuch geregelt, wo die Frage doktrinär hingehört? Es sei denn, man wolle verschweigen, dass die vom Fall Gyöngyöspata inspirierte Änderung die einzige Ausnahme der einschlägigen Bestimmungen darstellt. Drittens: Was geschieht mit der Art des moralischen Schadens, der nicht, wie im Vorschlag vorgesehen, mit Sachleistungen kompensiert werden kann? Der Vorschlag zielt offen auf die Roma-Minderheit ab und könnte somit das erste eindeutige »Anti-Zigeuner-Gesetz« der Regierung Orbán werden. Wir sollten nicht zulassen, dass der Fokus auf Corona und der Frontalangriff auf die Rechtsstaatlichkeit die Aufmerksamkeit von der Tatsache ablenkt, dass hier ein rassistisches Gesetz im Entstehen ist. Ein Gesetz, das ungarische BürgerInnen offen in einen sekundären Status verbannt, indem es ihnen nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Praxis den Zugang zur Justiz verwehrt.
Lilla Farkas ist seit 1998 Mitglied der Budapester Anwaltskammer. Sie hat für verschiedene Menschenrechts-NGOs in den Bereichen Asyl, Einwanderung, Strafjustiz und Diskriminierung gearbeitet und war zwischen 2004 und 2014 an Rechtsstreitigkeiten zur Aufhebung von Segregation beteiligt. Aktuell ist Farkas leitende Rechtspolitikanalystin für die Migration Policy Group, wo sie seit 2005 als Koordinatorin des europäischen Netzwerks von RechtsexpertInnen für Geschlechtergleichstellung und Nichtdiskriminierung tätig ist. Sie besitzt einen LLM vom King‘s College (London), einen Doktortitel in Rechtswissenschaften vom EUI und einen Doktortitel vom Europäischen Hochschulinstitut.