Kultur zugänglich machen
Wie nehmen Menschen mit Behinderung einen Museumbesuch wahr? MILENA MILOŠEVIĆ MICIĆ und IRENA RUŽIN setzen sich für einen inklusiven Zugang zu Museen und Kultureinrichtungen ein und erklären in ihrem Gastbeitrag, welche Fortschritte diesbezüglich am Balkan gemacht wurden.
Für die meisten ist ein typischer Museumsbesuch vor allem ein visuelles Erlebnis. „Nicht berühren!“ oder „Abstand halten!“ sind häufige Warnhinweise vor wertvollen Gemälden und Skulpturen. Doch wie können sehbehinderte Menschen unter diesen Bedingungen Museen erleben? Die Möglichkeit eines Besuchs von Museen, Kultureinrichtungen und archäologischen Stätten ist ein wesentlicher Teil eines selbstbestimmten Lebens – wir lernen von ihnen über unsere Geschichte, Kultur und sie geben uns die Möglichkeit, unsere Horizonte zu erweitern. Das International Council of Museums (ICOM) definierte daher Museen 2022 als „gemeinnützige, dauerhafte Institutionen im Dienste der Gesellschaft, die materielles und immaterielles Erbe erforschen, sammeln, bewahren, interpretieren und ausstellen, die der Öffentlichkeit zugänglich und inklusiv sind und Vielfalt und Nachhaltigkeit fördern“. Handelt es sich hierbei nur um eine weitere Erklärung, oder eine Vorgabe, die auch tatsächlich umgesetzt wird?
Weltweit leben rund eine Milliarde Menschen mit Behinderungen, das sind 15% der Weltbevölkerung. Für viele sind aufgrund von gesellschaftlich geschaffenen Barrieren Museen nicht vollständig zugänglich. Als Vertreterinnen des Kultursektors am Balkan, die sich gleichzeitig mit der Bewahrung aber auch der Präsentation von Kulturerbe beschäftigen, verstehen wir beide Seiten. Kulturerbe muss vor Beschädigungen geschützt werden, doch es muss auch für alle Menschen erfahrbar sein. Dafür braucht es allerdings Förderungen, geschultes Personal und Gesetzesreformen in Bezug auf den Schutz historischer Gebäude.
Alle ex-jugoslawischen Länder haben die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen aus dem Jahr 2006 ratifiziert. Teilhabe an kulturellen Ereignissen sollte also nach dem Prinzip der Gleichheit aller Menschen und der Nichtdiskriminierung für Menschen mit Behinderungen möglich sein. Das Balkan Museum Network widmet sich im Projekt „Making Balkan Museums More Accessible for People with Disabilities” diesen Anstrengungen. Es vereinfacht den Austausch zwischen Museumsfachleuten und Vetreter*innen lokaler Gemeinschaften, um auf besondere Bedürfnisse einzugehen, und Toleranz im Kultursektor für Veränderungen zu schaffen. Das Herzstück bildet eine interaktive Online-Karte, die die inklusiven Museen und Kultureinrichtungen in der Region abbildet. Bereits 39 Museen, Galerien und archäologische Stätten lassen sich dort finden. Und es werden immer mehr: Auch wenn noch keine der Einrichtungen vollständig barrierefrei ist, zeigt eine Analyse des Balkan Museum Network, dass die Museen in der Region stetig ihre Zugänglichkeit verbessern. Das Serbian Institute for Cultural Development Research veröffentlichte vor kurzem eine Studie gemeinsam mit dem Museum für zeitgenössische Kunst in Belgrad, nachdem sich 61% der insgesamt 97 serbischen Museen als “teilweise barrierefrei” einstuften. Dennoch zeigte die Erfassung auch, dass sich noch immer rund ein Viertel als unzugänglich für Menschen mit Behinderungen kategorisiert.
Bitte berühren!
Wie kann man sich aber ein inklusives Museumsprogramm vorstellen? Vorerst gibt es keinen one-size-fits-all Ansatz. Angebote müssen je nach Gegebenheiten und individuellen Bedürfnissen angepasst werden, dazu werden verschiedene technische Hilfsmittel zugezogen. So greifen Menschen mit Sehbehinderungen auf Audioguides und sensorische Elemente zurück. Menschen mit Hörbehinderungen können durch gebärdensprachliche Interpretationen unterstützt werden – wenn dafür Personalmangel herrscht, können QR-Codes, Nahfeldkommunikation (NFC) und entsprechende Apps herangezogen werden. Für viele archäologische Stätten ist ein barrierefreier, rollstuhlgerechter Zugang notwendig. Menschen mit intellektuellen Behinderungen erfahren einen inklusiven Museumsbesuch durch einfachere Sprache. Auch Kinder werden in Museumsbesuche altersgruppenspezifisch eingebunden, zum Beispiel durch spielerische Inhalte. In all diesen Fällen ist es wichtig, Betroffene miteinzubeziehen. Es gilt der Grundsatz: nichts für uns ohne uns. Grundsätzlich ließ sich aus diesen Angeboten erkennen, dass sie den Museumsbesuch für alle bereichern und somit kulturelle Erlebnisse insgesamt verbessert werden.
Exemplarisch für inklusive Museumsbesuche in der Region sind unter anderem das Museum für Moderne Kunst in Belgrad, in dem Werke durch taktile Ausstellungen bestaunt werden können. Ebenfalls in Belgrad bietet das Museum für die Geschichte Jugoslawiens ein Programm in Gebärdensprache. Die Nationalgalerie von Bosnien und Herzegowina in Sarajevo entwickelte in dem Programm „Blue Artism“ eine Ausstellung für Kinder im autistischen Spektrum. Dieses legt großen Wert auf Vertrauensaufbau, regelmäßige Pausen und Einbindung der Kinder, um ihre Konzentration zu fördern. Das Naturkundemuseum in Podgorica sowie das Holocaust-Gedenkzentrum für die Jüd*innen Mazedoniens schufen sensorische Angebote für den Museumsbesuch. Doch auch kleinere Museen abseits der Hauptstädte bieten immer mehr inklusive Erfahrungen, so zum Beispiel das Heimatmuseum in Knjaževac, das Nationale Institut und Museum in Bitola, Nordmazedonien und das Nationalmuseum in Leskovac. Besonders hervorzuheben ist wohl das Typhologische Museum in Zagreb, das einzige der Region, dass einen inklusiven Museumsbesuch zum Ausstellungsobjekt machte, und seither andere Museen am Balkan in diesen Anliegen berät.
Inklusion bringt allen was
Obwohl die zahlreichen Initiativen sowie Studien beweisen, dass es in den Ländern des Balkans Fortschritte im Bereich der Inklusion in Kultureinrichtungen gibt, sehen wir weiterhin Handlungs- und Verbesserungsbedarf. Die Verbesserungen betreffen den Abbau von Barrieren, die wir als Gesellschaft schaffen. Dazu braucht es den Austausch zwischen Museen und Verbänden für Menschen mit Behinderung. Inklusive Räume haben einen gesamtgesellschaftlichen Einfluss. So erkennen wir, dass mit Ausbau der Angebote der Tourismus in die Region wächst. Die Entwicklung neuer Technologien und Dienstleistungen trägt zum Wirtschaftswachstum bei. Vor allem bleibt es aber unsere menschenrechtliche Verantwortung, als Kultureinrichtungen und darüber hinaus ein selbstbestimmtes Leben und Teilhabe an allen Lebensbereichen für alle zu ermöglichen.
Milena Milošević Micić ist Kunsthistorikerin und Advisor des Heimatmuseums in Knjaževac, Serbien. Irena Ružin arbeitet am Nationalen Institut und Museum Bitola, Nordmazedonien. Beide sind im Lenkungsausschuss des Balkan Museums Network und der Balkan Museum Access Group.