Monumente der Berührung
Zwei Hände, etwas Ton und fertig ist der Abdruck. Mit ihrem sozialen Kunstprojekt setzen MEIKE ZIEGLER und IVÁN GÁBOR ein Statement gegen die Kontaktlosigkeit. FRANCESCO BARBATI sprach für INFO EUROPA mit den InitiatorInnen von Handshape über die Kunst des Händereichens.
Simpel und kraftvoll: Ein Händedruck verwandelt Fremde in Bekannte. Eine Geste, die innere Mauern einreißt. Meike Ziegler und Iván Gábor stellen das Symbol der Einheit in den Mittelpunkt ihres Projekts Handshape. Das kreative Duo führte ein soziales Experiment durch, bei dem sich mehr als 22.000 Fremde aus ganz Deutschland, Europa und der Welt begegneten. Aus diesen Begegnungen entstanden Handshapes, kleine Gebilde, die beim Händeschütteln aus Ton geformt werden. Die »Handabdrücke« wurden anschließend zu einem Monument zusammengefügt. Jeder Abdruck bekam einen Namen, ein Wort oder Thema, das die beiden Personen verbindet. Trotz Einschränkungen führten Ziegler und Gábor das Projekt auch im Sommer 2021 durch.
Wie kam es zu Handshape und was hat die Pandemie verändert?
Meike Ziegler: Ich hatte Handshape ursprünglich für die Feiern zur Wiedervereinigung Deutschlands 2018 entworfen. Als ich es im Senat vorstellte, meinten sie, es wäre passender für den 30. Jahrestag des Mauerfalls. Also machten wir es für diesen Anlass. Schon damals hatte ich vor, dieses Ritual weit in die Welt hinauszutragen. Es ist ein Konzept, das man dorthin bringt, wo es gebraucht wird. Durch Handshape hatten wir das Privileg, viele Menschen zu treffen und mit ihnen zu sprechen. Menschen, deren Leben sich sonst niemals kreuzen würden.
Iván Gábor: Als wir Handshape 2019 ins Leben riefen, hatte ich keinen Zweifel, dass es ein Erfolg wird. Für viele ist es nicht selbstverständlich, sich mit Fremden zu verbinden. Wir alle haben unsere instinktiven Ängste. Aber ich merkte, dass sich diese Wahrnehmung nach den ersten Minuten änderte, sobald ein Gespräch begann.
MZ: Die Pandemie wirkte sich auf mein Leben und meine Arbeit aus. Wir alle scheinen derzeit müde und abgestumpft zu sein. Es gibt eine große Sehnsucht nach sozialen Ereignissen und ein Bedürfnis nach menschlicher Verbindung. Während der langen COVID-Pause gestalteten wir ein Buch, in dem wir die Handformen als Fossilien ausstellten. Ich fing auch an, online Kreativ-Workshops zu geben und Konzepte für das Humboldt Forum oder das House of One zu entwerfen. Ivan und ich verbrachten viele Stunden damit, uns zu unterhalten und zu verstehen, wie es weitergeht. Ich habe auch viel über mich selbst und die Kraft dieser Arbeit gelernt.
IG: Als Handshape im letzten Sommer wieder in der East Side Gallery stattfand, hatten 90 Prozent der Teilnehmenden kein Problem
damit, sich die Hände zu schütteln. Das gab mir Hoffnung, irgendwann wieder zur Normalität zurückkehren zu können.
Meike, Sie bezeichnen sich selbst als kreative Alchemistin. Was können wir darunter verstehen?
MZ: Nachdem ich einige Jahre im Bereich Multimedia- und Internet-Branding gearbeitet hatte, verspürte ich einen Mangel an Bedeutung und den Drang, Menschen durch greifbare Objekte in Echtzeit zu verbinden. Ich bezeichne mich nicht als Künstlerin. Ich schaffe keine Kunst. Ich entwerfe Lösungen für soziale Fragen und Probleme, die danach schreien, angesprochen zu werden. Ich entwerfe Creatuals, also kreative Rituale (creative rituals), um Muster zu durchbrechen und Menschen zum Nachdenken zu bewegen. Alchemie hat mich schon immer interessiert. Es geht darum, Gold zu erschaffen. Ich liebe es, mit Symbolen zu arbeiten bis ein Konzept für ein bestimmtes Problem einfach, kraftvoll und rein wie Gold ist.
Wie kann die Digitalisierung dazu beitragen, dass Menschen nicht nur miteinander in Kontakt treten, sondern sich auch verbunden fühlen?
MZ: Die Digitalisierung ist ein großartiges Werkzeug für globale Vernetzungssysteme und menschliche Verbindungen. Sie bringt Menschen zusammen, aber es fehlt der wichtigste Sinn, den wir TOUCH (Berührung) nennen. Die digitale Verbindung wird niemals physisches Zusammenkommen übertreffen. Wir können einen Händedruck oder eine Umarmung weder imitieren noch fälschen. Ich glaube, es wird immer eine Sehnsucht nach analoger und realer Berührung geben.
Berlin ist auch ein Sehnsuchtsort, ein Magnet, der viele anzieht. Warum sind Sie beide nach Berlin gekommen?
MZ: Ich bin in meiner Kindheit viel gereist. Mein Vater war ein Stadtplaner und Designer. Ich wechselte oft das Land und die Schule und genoss es, in verschiedenen Kulturen zu leben. Das hat mich und meine Denkweise geprägt. Ich fühlte mich als Weltbürgerin und nicht als Angehörige einer Nation. Für mich als Kind wurden Grenzen in Köpfen geschaffen. Mein Partner bekam 2016 einen Job als Museumsdirektor in Berlin, also zogen wir mit unseren Kindern hierher. In Berlin angekommen, sagte jemand zu mir: »Du brauchst Berlin nicht. Berlin braucht dich!« Vielleicht hatte sie recht, und ja, Berlin ist wie ein Magnet. Es ist schwer zu beschreiben, was es mit dieser Stadt auf sich hat. Ich schätze, es sind die Geschichte und die leichte Spannung, die man immer noch zwischen Ost und West spürt.
IG: Ich bin 2016 aus Ungarn nach Berlin gezogen, um hier dauerhaft mit meiner Familie zu leben. Wir waren davor häufig in Berlin. Es gab immer einen Grund, hinzufahren. Ich habe die Berliner Mauer 1984 am Checkpoint Charlie passiert, und bin nach 1990 unzählige Male hingefahren, um die Veränderungen zu bewundern und den Berliner Freiheitsgeist zu genießen. Nachdem 2014 in Ungarn die illiberale Demokratie ausgerufen wurde, beschlossen wir, eine neue Heimat zu suchen, und Berlin war eine leichte Wahl.
Iván, wie steht es um Kunst und Kultur in Ungarn angesichts des Aufstiegs von Nationalismus und Populismus?
IG: Die Frage ist schwierig. Der aufkommende Nationalismus des 18. Jahrhunderts beeinflusste lange kulturelle Entwicklungen in Europa. Die Literatur, bildende Kunst und Musik zeugen davon. Der Zusammenbruch der österreichischungarischen Monarchie brachte enorme Veränderungen. Und die Härte des 20. Jahrhunderts machte die nationale Idee obsolet. Die europäische Herausforderung des 21. Jahrhunderts besteht darin, die Idee des Nationalstaates zu begraben und zu jener Vielfalt zurückzukehren, die über Jahrhunderte hinweg üblich und natürlich war. Heute benutzen PopulistInnen nationale Gefühle, um sich den Veränderungen zu entziehen, die neue Technologien, soziale Probleme, Folgen der Globalisierung oder Ökologie einfordern. Ich wünschte, wir könnten mit Handshape durch Mittel- und Osteuropa reisen und versuchen, Menschen mit Migrationshintergrund und Einheimische zusammenzubringen. Ich bin überzeugt, dass Handshape ein Format ist, das das Eis zwischen Menschen brechen kann.
Einige MinisterInnen haben die EU-Kommission kürzlich dazu aufgefordert, Mittel für Grenzmauern oder Zäune bereitzustellen, um Flüchtende an der Einreise aus Belarus zu hindern. Wie können wir Offenheit und Dialog fördern, anstatt Symbole der Teilung wieder aufleben zu lassen?
IG: In dieser Frage bin ich ein Idealist und Optimist. Ich werde nie aufhören, daran zu glauben, dass sich Mentalitäten ändern können. Wandel brauchen wir auf allen Ebenen. Veränderung beginnt mit Aufgeben und Loslassen. Deshalb ist das einzige Merkmal von Veränderung, dass sie wehtut. Kein Schmerz, keine Veränderung. Die Verbindung zwischen Menschen schafft den notwendigen Durchbruch. Die Beweggründe des anderen zu sehen und zu verstehen, lässt uns über uns selbst nachdenken.
Woran arbeiten Sie aktuell?
MZ: Ich war Anfang Februar in der Nähe von Narva in Estland, an der russischen Grenze, und habe dort Workshops für junge soziale AktivistInnen und FriedensstifterInnen gegeben – RussInnen und EstInnen. Die Beziehung der NachbarInnen ist auch nach 30 Jahren Unabhängigkeit komplex. Sie kämpfen mit verschiedenen Problemen. Beide Kulturen sind zu stolz und starrköpfig, um Empathie zu zeigen, nachzudenken und Kontakte zu knüpfen. Obwohl sie sich danach sehnen, gemeinsam an einer besseren Zukunft zu arbeiten, gibt es eine große Kommunikationslücke, Frustration und Angst. Wir versuchten mit Hilfe der Methode des Creatuals Lösungen zu finden. Als sie miteinander sprachen, erkannten sie ihre Ängste, das mangelnde Zuhören, ihre Vorurteile, wiederholte Fehler, und wie großartig es ist, sich zu verbinden. Sie erkannten, wie viel sie gemeinsam haben. Mein Fokus hat sich während der Pandemie verändert und ich verspüre den Drang, nicht nur Konzepte zu entwerfen, sondern auch mehr zu lehren. Ich habe mich entschlossen, eine Kreativ-Akademie zu gründen und Menschen und Führungskräfte darin zu unterrichten, Rituale für ihren eigenen Transformationsprozess zu schaffen und anderen zu helfen.
IG: In den letzten sechs Monaten arbeiteten wir auch an dem wunderbaren House of One-Projekt. Im Zentrum Berlins wird ein fast 40 Meter hohes Gebäude gebaut, das eine Synagoge, eine Moschee und eine Kirche unter einem Dach versammelt. Die drei religiösen Räume sind mit einem zentralen Raum, dem vierten Raum, verbunden. Wir entwickelten eine wunderbare Methode, um das House of One zu einem Erlebnis zu machen, das das Herz berührt. Außerdem arbeiten wir mit hervorragenden Menschen daran, Handshape zu einem globalen Symbol für menschliche Verbindungen zu machen.
Francesco Barbati ist freier Autor, Übersetzer und Redakteur u.a. für Cafébabel. Nach Grundstudien in Linguistik und Kommunikation studiert er aktuell European Studies and Management of EU-Projects in Eisenstadt.
Meike Ziegler wurde in Florenz, London und Utrecht ausgebildet. Sie arbeitete als Multimedia- und Konzeptdesignerin in verschiedenen Städten und gründete 2009 die Marke Creatuals. Sie bezeichnet sich selbst als »kreative Alchemistin«: Indem sie originelle, maßgeschneiderte, moderne Rituale entwirft, bringt sie Menschen, Situationen, Orte und Objekte auf intuitive Weise zusammen.
Iván Gábor ist Kommunikationsexperte und Berater. Er arbeitete mehr als zwei Jahrzehnte am Aufbau einer der größten Agenturgruppen in Ungarn, dessen Netzwerk 16 Länder Osteuropas umfasst. Seit 2016 lebt Iván Gábor mit seiner Familie in Berlin, wo er eine Firma für geflüchtete GrafikdesignerInnen gründete, um Kreativen bei der Integration zu helfen.