Wer den letzten Strohhalm zieht

Durch die Pandemie erlitten Menschen weltweit Verluste: Sie verloren manche Freiheiten, alltägliche Gewohnheiten, sogar geliebte Menschen. Anhand des Abschieds vom Plastikstrohhalm zeigt MARTINA PETROVIĆ auf, wie Rituale uns bei Verlusten aller Art helfen können – und das über kulturelle Grenzen hinaus.

Als Künstlerin hatte ich schon vor Beginn der Pandemie kein geordnetes Leben. Vielleicht verfügte ich nie über dieses Privileg, vielleicht bin ich auch einfach nicht der Typ dafür. Wie dem auch sei, ich hatte nie die Gewissheit von morgen. Zugegeben, ich empfand zu Beginn der COVID-Krise eine gewisse Erleichterung, dass wir uns nun alle in der gleichen Situation der Unsicherheit befanden. So schrecklich es auch klingen mag, war es doch tröstlich für mich. Plötzlich war jede und jeder verwundbar, natürlich nicht im gleichen Ausmaß, aber doch… Heute, zwei Jahre später, hat sich diese Verletzlichkeit fast ins Unerträgliche gesteigert: die Unsicherheit der Kultur, des Zusammenseins, der Intuition und Spontaneität, des bloßen Seins… all das hat die nächste Stufe der Unvorhersehbarkeit erreicht. Wir leben außerhalb unserer Komfortzone, außerhalb des Vertrauten.

Der Verlust

Als Gesellschaft haben wir bereits viel verloren, und wir sind dabei, noch mehr zu verlieren: unser übliches Umfeld, unsere Technologien und die damit einhergehenden sozialen Gewohnheiten. Es gibt keine Formel dafür, wie wir mit dem Verlust umgehen. Die Unterschiede zwischen uns zeigen sich in den vielen einzigartigen Ausdrucksformen der Trauer. Die Motivation für meine künstlerische Arbeit sehe ich in dem Bedürfnis, besser zu verstehen, was es bedeutet, Rituale für den Verlust zu schaffen. Ich will verstehen, wie wir mit dem unvermeidlichen Verlust von Teilen unserer Kultur, unserer Menschlichkeit, der Veränderung unserer Denk- und Verhaltensweisen, umgehen. Der Klimawandel lässt Arten und Lebensräume beängstigend schnell verschwinden. Technologien und Lebensweisen werden aufgegeben und ersetzt. Ich frage mich, wie wir uns Zeit nehmen können, um zu trauern. Wie können wir uns darin üben, verletzlich zu sein, unser Leben zu entschleunigen und zu akzeptieren, was auch immer auf uns zukommen mag? Mein Gefühl der Deplatzierung und mein Bedürfnis nach einer starken Verbindung zu meiner Kultur wurden dadurch verstärkt, dass ich mittlerweile in Belgien wohne. Meine künstlerischen Interessen verbinde ich mit den Traditionen und Ritualen des Balkans, wo meine Wurzeln sind. Es ist eine Untersuchung heiliger Rituale: die Handarbeit der Frauen dieser Region, ihre Symbole und ihr Wirken auf die moderne Kultur und alltägliche Praktiken. Rituale ermöglichen es uns, eine Verbindung mit der Natur, mit uns selbst und mit unserer Umwelt zu kultivieren. Wenn es uns gelingt, solche Bindungen zu knüpfen, können wir vielleicht auch uns selbst, unseren Gemeinschaften und der Natur gegenüber mit mehr Demut und Respekt begegnen. Wir könnten so auf eine umweltbewusste Gesellschaft hinarbeiten, die keine strikten Grenzen zwischen Natur und Kultur zieht, sondern sie als zwei gleichwertige Seiten derselben Medaille begreift.

Trauer zulassen

Das Projekt The Last Straw (Der letzte Strohhalm) begann während einer provokanten und auf den ersten Blick frivolen Trauer über den Verlust von Plastikstrohhalmen. Im Januar 2019 wurde ein Gesetz verabschiedet, das die Verwendung aller nicht recycelbaren Plastikgegenstände verbietet. The Last Straw aktiviert einen Raum der Trauer, indem er Möglichkeiten bietet, sich von Gewohnheiten und Technologien zu verabschieden, selbst wenn es schlechte waren. Unser Abschied von ihnen ist für das Überleben und eine bessere Zukunft notwendig. Um den Verlust zu verarbeiten, den wir uns selbst verweigern, tun wir lieber so, als wäre er nicht da, als wäre er irrelevant. Stattdessen sollten wir ihn anerkennen und ehren. Der Ausgangspunkt für The Last Straw war das Weben eines traditionellen serbischen Teppichs. Dieser von Hand gewebte Teppich wurde aus gebrauchten, nicht wiederverwertbaren Plastikstrohhalmen, die ich in den letzten zwei Jahren in den Bars des Marnixplaats in Antwerpen gesammelt hatte, hergestellt. Er wurde mit traditionellen »magischen« Symbolen bemalt. Der Teppich wurde so zu einem nomadischen Raum, der die Geschichte des Loslassens erzählt und die Gelegenheit bietet, einen Moment der Trauer zuzulassen. Da es üblich ist, Trauer in fünf Phasen zu erleben, hat auch The Last Straw fünf Phasen: Verleugnung, Verhandeln, Traurigkeit, Wut und Akzeptanz. Durch traditionelle Trauer- und Bestattungsrituale des Balkans verwandelte sich der Teppich zum Trauerraum.

Verleugnung

Die erste Phase, die Verleugnung, fand vor einem Jahr auf dem Marnixplaats statt – dort, wo die Strohhalme gesammelt wurden. In dem Intermezzo zwischen dem ersten Lockdown und der Hoffnung, dass ein Impfstoff kommen wird, versammelte sich eine Handvoll Menschen, um das Projekt auf den Weg zu bringen. Für die Verweigerung wurde ein Ritual des Waschens des »Verlorenen« durchgeführt. Die Phase der Verleugnung hilft uns, den Schock der Erkenntnis zu überstehen, dass etwas oder jemand für immer aus unserem Leben verschwunden ist.

Verhandeln

Die zweite Phase der Trauer, das Verhandeln, fand dreimal im Jahr 2021 zu verschiedenen Anlässen in Belgien statt. In dieser Phase versuchen wir, der Realität und dem Schmerz des Verlusts zu entgehen, indem wir in der Vergangenheit verharren und einen Weg aus dem Schmerz suchen. Das Feilschen wurde durch das Ritual des Klagens durchgeführt. Das Lamentieren wird in bestimmten südlichen Kulturen von Frauen praktiziert, die den Kummer der Trauernden durch Lieder und Schreie zum Ausdruck bringen. Bei der Durchführung dieses Rituals habe ich zum ersten Mal die Bedeutung von Traditionen und die Zeitlosigkeit der Trauer verstanden.

Traurigkeit

Die dritte Phase, Traurigkeit, fand nie in der Öffentlichkeit statt. Die Rituale wurden im vergangenen Jahr in einer Arbeitsgruppe von KünstlerInnen geteilt. Wir tauschten unsere Bewältigungsmechanismen aus, so wie man geheime Familienkochrezepte austauscht, was einen offenen Umgang mit der Traurigkeit ermöglichte, ohne sie rechtfertigen und entschuldigen zu müssen.

Wut

Die vierte Phase, Wut, fand im Oktober 2021 in Belgrad statt. Sie ermöglichte es, die Wut durch das Ritual des Schlagens auf den Teppich ausleben zu können, um ihn zu reinigen. Wut erlaubt es uns, zu fühlen und unsere Gefühle nicht zu verstecken. Sie ist eine natürliche Reaktion auf die Ungerechtigkeit des Verlustes. Oft kommt es vor, dass uns unsere Wut isoliert, aber wir sollten sie teilen, um sie zu überwinden und sie als das zu sehen, was sie sein kann: eine mächtige kreative Kraft. Wir werden wütend auf uns selbst, weil wir nicht in der Lage sind, eine bestimmte Kette von Ereignissen zu verhindern, wir werden wütend auf andere, wir werden wütend auf die Welt, in der wir leben. Ich sage: »Werdet wütend!«

Akzeptanz

Die fünfte Phase, Akzeptanz, fand im November 2021 im Kunstzentrum deSingel in Antwerpen statt. Akzeptanz ist der Moment im Trauerprozess, der uns dazu einlädt, Frieden mit der Tatsache zu schließen, dass wir in dieser Welt ohne gewisse Menschen, Technologien, Umgebungen und Gewohnheiten weiterleben müssen. Dass diese nun zu der Welt außerhalb unserer Reichweite gehören. Wir verstehen, dass unser Verlust nicht ersetzt werden kann und auch nie ersetzt werden wird. Wir bewegen uns, wachsen und entwickeln uns in unsere neue Realität hinein. Für diese Phase wurde das Ritual des Tanzes für die Toten durchgeführt.

Sinn finden

Wie bereits erwähnt, durchläuft die Trauer in der Regel fünf Phasen, aber es kommt noch eine weitere hinzu: die Sinnsuche. Wir können uns fragen: Welchen Sinn könnte der Verlust haben? Es könnte sein, dass unser Verlust uns einander näherbringt, vielleicht kann er unsere Hoffnung und unseren Glauben wiedererwecken und unser Zugehörigkeitsgefühl vertiefen. Die Suche nach einem Sinn bietet die Möglichkeit, mit Worten und Anwesenden einen magischen Raum zu schaffen, um gemeinsam einen Moment der Heilung und des Neuanfangs zu erleben. Dieses Ritual wird den ersten Zyklus der Trauer um den letzten Plastikstrohhalm abschließen. Es bindet alle Emotionen und Kämpfe der vorangegangenen Phasen zusammen und schafft einen fruchtbaren Boden für zukünftige Phasen. Das Ritual fand am 12. Februar 2022 in De Kunsthal in Gent statt.

Neue Rituale finden

Im Moment ist es sehr schwer, sich einen Reim auf die Situation zu machen oder sich eine mögliche Zukunft vorzustellen, die nicht einem Weltuntergang gleicht. Auch wenn es scheint, dass wir nach dem letzten Strohhalm der Hoffnung greifen, glaube ich, dass es Trost gibt, den Verlust zu teilen. Dass es uns Kraft gibt, sinnvolle Beziehungen zu schaffen. Blicken wir tief in unsere Wurzeln, finden wir in der Vergangenheit die nötige Kraft und Unterstützung, um vorwärtszukommen. Neue Rituale können uns in diesem Prozess der Heilung helfen.

martinapetrovic.com


Martina Petrović versteht sich als eine MultimediaKünstlerin und Abenteurerin vom Balkan. In ihrer künstlerischen Arbeit beschäftigt sie sich mit der Erforschung sozial erzeugter emotionaler Zustände bezogen auf den Verlust von Werten, die Schädigung der Umwelt und mit dem Gefühl, fehl am Platz zu sein.