Die Vertreibung der Sudentendeutschen und die aufpeitschenden Bene?-Reden

Übertragung ins Deutsche von Otfrid Pustejovsky.
Bearbeitung und teilweise Übersetzung von Walter Reichel.

Böhlau Verlag, Wien/Köln/Weimar 2002.
261 Seiten
€ 24,90.

Es ist zweifellos ein großes Verdienst des Autors, dass er als hochqualifizierter Archivar sich mit Mut, Energie und Genauigkeit des großes Tabuthemas der tschechischen Zeitgeschichte angenommen hat: des „Odsun“, der Vertreibung der Deutschen nach 1945. Ein wichtiges, aus mehreren tschechischen Teilpublikationen erwachsenes Standardwerk auf breitester Quellenbasis ist hier entstanden. Bislang war man auf frisierte Editionen aus „volksdemokratischer“ Zeit und auf Memoiren vorwiegend sudetendeutscher Provenienz angewiesen, wohingegen das vom „Sudetendeutschen Archiv“ initiierte große Werk „Odsun. Die Vertreibung der Sudetendeutschen“ (München 2000) bislang noch im ersten Band die Vorgeschichte der deutschböhmisch-tschechischen Geschichte zwischen 1848 und 1939 behandelt.

Der zweite Band, der ausschließlich der Vertreibung selbst gewidmet sein wird, ist noch in Bearbeitung. Von richtungsweisender Qualität ist das vorliegende Werk mit seiner überwältigenden Fülle von hochinteressanten Originalzitaten aus dem Bereich der tschechischen, damals tschechoslowakischen Ministerien und der ausführenden Behörden, die mit dem „Odsun“ befasst waren. Viele Details des Vorgehens werden sichtbar, etwa die Tatsache, dass man im amerikanischen Besatzungsbereich nicht ganz so hart und im Stil plündernder Goldgräbermentalität vorgehen konnte wie im sowjetischen Besatzungsgebiet (obwohl es auch dort einzelne Beispiele gab), dass die Rote Armee Exzesse verhinderte. Ganz gleich, ob es sich um mörderische Plünderer, die sich als „Partisanen“ deklarierten, um Brutalitäten selbstherrlicher lokaler „Revolutionäre“, die Massenschießungen anordneten, oder um andere Exzesse handelte: Es dauerte relativ lange, bis geordnetere – wenn auch kaum legale – Verhältnisse eintraten, die einen organisierten „Abschub“ ermöglichten. Zu den vielen Aspekten gehört auch die sorgfältig recherchierte Frage nach der Existenz und vermutlichen Wirksamkeit von Werwolfgruppen, die der Autor mit Recht und im Gegensatz zur damaligen Propaganda auf ein Minimum reduziert oder gar als Phantom entlarvt.

Ebenso gehört es zu den Verdiensten des Verfassers, die bislang quellenmäßig schwerer zu erfassende Phase, die er unter dem Titel „Der erste Schlag“ zusammenfasst, sehr genau erforscht und an vielen dramatischen Beispielen sachlich dargestellt zu haben.

Ähnliches gilt für das Kapitel „Der Sommer1945 – Im Zeichen der Vergeltung“. So klar und detailliert die Darstellung ist, hätte man sich in manchen Fällen eine engere Verknüpfung des gesamten Schreckenszenarios mit der politischen Gesamtlage gewünscht, denn es blieb nicht ohne Wirkung, dass die internationale Öffentlichkeit die Brutalität des Vorgehens, das den Methoden Hitlers nicht unähnlich war, anprangerte. Zwar brachte die Forderung der Alliierten, die Aussiedlung möchte „human“ erfolgen, keine grundsätzliche Änderung. Jedoch lassen die behördlichen und militärischen Anordnungen seit Juni 1945 erkennen, dass man mit Rücksicht auf das Ausland etwa bei der Einrichtung von Zwangsarbeiterlagern systematischer vorging und Anweisungen erließ, „welche die technische Vorgehensweise der Überstellung von Fußmarschkolonnen gehunfähiger Personen, die Erhaltung von Familienverbänden und die Nichtabsonderung von Müttern von ihren Kindern“ betrafen. Was man aus solchen Verordnungen im trostlosen Bürokratenstil – falls sie denn überhaupt befolgt wurden – vor allem entnehmen kann, ist die simple Einsicht, wie es vorher zugegangen sein mag, aber auch der Zweifel, ob organisierter Terror grundsätzlich besser ist als chaotischer.
Damit stellt sich jedoch eine prinzipielle Frage, die dem Begriff der „wilden Vertreibung“ gilt, der als generelles Phänomen allzu leicht als eine verkappte Art von Entschuldigung missverstanden werden kann. In der Realität erweist sich aber dieser Begriff als eine allzu plakative Vorstellung, die eine Spontaneität der Austreibungen seit Mai 1945 auch dort suggeriert, wo wie im Falle von Aussig unter dem Vorwand angeblicher „Werwolfaktivitäten“ wahrscheinlich Prager Rollkommandos beziehungsweise durch General Svobodas persönliche Initiative mit äußerster Brutalität ans Werk gegangen wurde.

Mit anderen Worten: Die „wilden Vertreibungen“ waren von Anfang an auch ein Werk bewusster staatlicher Initiative, an denen Eduard Bene? in seinen aufpeitschenden öffentlichen Reden maßgeblich beteiligt war. Die Planmäßigkeit seiner Austreibungspolitik geht schon aus seinem Verhalten gegenüber dem sudetendeutschen sozialdemokratischen Exil hervor, dessen er sich nur so lange bediente, bis er sein Transferprojekt gesichert hatte, danach kam der große Fußtritt für die deutschen Sozialdemokaten. Es ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich, dass Hubert Ripka, neben Bene? ein Hauptakteur der Vertreibung, am 20. Juli 1945 einem Reuters-Korrespondenten berichtete, dass die tschechische Bevölkerung in den ersten zwei Monaten nach der Befreiung den Plan der Regierung nicht durchführte und daher die Operation der Ausweisung der Deutschen verlangsamt worden sei. Das bedeutet aber, dass – abgesehen von der Sondersituation Prags im Mai – von einer allgemeinen Bewegung der spontanen Volksrache gegen die deutschen Gebiete nur sehr bedingt die Rede sein kann, sondern dass der „Odsun“ von Anfang an eine von der provisorischen Regierung massenpsychologisch und organisatorisch angeheizte Aktion war. Man sollte nicht von einem klar unterscheidbaren Nacheinander von wilder und geordneter Vertreibung sprechen, sondern von einem zeitweisen Nebeneinander beider Formen illegaler Bevölkerungstransfers, das allmählich in einigermaßen geregelte Formen überging. Das ist schon deshalb notwendig, weil man die starke staatliche Initiative vom ersten Tag an feststellen kann. Dies hat auch eine Gegenwartsbedeutung, wenn man sich gezwungen sieht, Versuchen entgegenzutreten, die darauf hinauslaufen, zwar Exzesse beim „Odsun“ zu bedauern, aber gleichzeitig – wie tschechische Umfragen bezeugen – die Vertreibung als prinzipiell richtig verteidigt, eine für europäische Standards schlechthin indiskutable Auffassung. Das Buch ist durch die Fülle des Materials und der originalen Berichte auch eine Quelle für Oasen der Menschlichkeit und Hilfe, die ab und zu in der zwangsläufigen Monotonie des Schreckensreports aufleuchten. Es sind dies gleichsam die Samenkörner einer Saat, die eine bessere europäische Zukunft seiner Völker erhoffen lässt. Unter diesem Gesichtspunkt wäre es wohl eine wichtige Aufgabe für Tschechen und Sudetendeutsche, den Dokumentationen des Schreckens eine Bestandsaufnahme der guten Taten und Hilfe in der Not zu erarbeiten, die beide Partner dieser (nicht nur!) Konfliktgemeinschaft sowohl unter nationalsozialistischem Terror wie unter Austreibungsterror wechselweise auch erfahren konnten. Konkret hieße dies, ein Ehrenbuch für jene zu schreiben, die auf beiden Seiten sich der Sturmflut von Hass und Vergeltung mutig widersetzten und Menschen blieben.
Ein solches Buch wäre ein guter Wegweiser in ein gemeinsames, friedliches Europa.