„Nürnberg II“ – ein internationales Tribunal zur Aburteilung der russischen „Hauptkriegsverbrecher“

In seinem Gastbeitrag erklärt Winfried Schneiders-Deters, ein in Deutschland und der Ukraine lebender Autor und ehemaliger Leiter von nationalen und regionalen Projekten der Friedrich-Ebert-Stiftung, welche Instrumente zur Anklage der russischen Kriegsverbrechen verfügbar wären, welche Schritte für ein „Nürnberg II“ gemacht werden müssten und ob man Wladimir Putin überhaupt vor Gericht stellen könnte. 

Dieser Blogbeitrag ist eine Kurzfassung. Den vollständigen Text finden Sie hier

 

I. Nürnberg I“ – Der Prozess gegen die deutschen „Hauptkriegsverbrecher“

Nach der militärischen Niederlage des Großdeutschen Reiches wurden von den alliierten Siegermächten die deutschen „Hauptkriegsverbrecher“ abgeurteilt. Die „Nürnberger Prozesse“ setzten Maßstäbe für die Weiterentwicklung des Völkerstrafrechts. In dem Statut des Internationalen Militärgerichtshofes (Charter of the Nuremberg Tribunal, 1946) heißt es: „…die folgenden Handlungen, oder jede einzelne von ihnen, stellen Verbrechen dar, für deren Aburteilung der Gerichtshof zuständig ist:  

a) Verbrechen gegen den Frieden,
b) Kriegsverbrechen,
c) Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. 

Das „Nürnberger Urteil“ gilt als juristischer Präzedenzfall für die Verurteilung von Angriffskriegen. Als „Verbrechen gegen den Frieden“, wie das „Verbrechen der Aggression“ in Nürnberg noch genannt wurde, galt nach Artikel 6a des Statuts des Nürnberger Internationalen Militärgerichtshofs die „Planung, Vorbereitung, Einleitung oder Durchführung eines Angriffskrieges oder eines Krieges unter Verletzung internationaler Verträge, […] oder die Beteiligung an einem gemeinsamen Plan […] zur Ausführung einer der genannten Handlungen“. 

 

Die vier “Kernverbrechen” des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes 

Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH, Engl.: International Criminal Court / ICC) verfolgt seit dem Jahre 2002 vier „Kernverbrechen“ („core international crimes“), die in Art. 6-8bis des IStGH-Statuts („Römisches Statut“) definiert sind: 

a) Verbrechen der Aggression,
b)
Kriegsverbrechen,
c) Völkermord,
d) Verbrechen gegen die Menschlichkeit. 

 

„Verbrechen der Aggression“ – das „supreme international crime“ 

Ein Verbrechen der Aggression („Verbrechen gegen den Frieden“ im Nürnberger Prozess) ist die Ursache aller weiteren Verbrechen. In der Urteilsbegründung des Internationalen Militärtribunals heißt es: „To initiate a war of aggression […] is not only an international crime; it is the supreme international crime differing from other war crimes, in that it contains within itself the accumulated evil of the whole”.1  

 

„Kriegsverbrechen“ – schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht 

Juristisch wird der Begriff „Kriegsverbrechen“ als schwerer Verstoß gegen das „humanitäre Völkerrecht“ (International Humanitarian Law / IHL) definiert, das seinerseits maßgeblich durch die „Haager Landkriegsordnung“ von 1907 und durch die vier „Genfer Konventionen“ von 1949  bestimmt wird.  

 

„Völkermord“ – hohe völkerrechtliche Anforderungen 

Das Verbrechen des Völkermords ist in Art. II der „Konvention über die Verhütung und Bestrafung von Völkermord“ der Vereinten Nationen vom 9. Januar 1948 definiert, und in Art. 6 des Römischen Statuts vom 17. Juni 1989 wortgleich normiert. Russland und die Ukraine haben das IStGH-Statut im Jahre 2000 zwar unterzeichnet, aber nicht ratifiziert; beide Staaten aber haben sich der Völkermord-Konvention unterworfen. 

Um völkerrechtlich als Völkermord eingestuft werden zu können, muss ein Sachverhalt hohe Anforderungen erfüllen. Die Völkermord-Konvention definiert in Artikel II fünf Tathandlungen als Völkermord, wenn sie „in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“ […]. Der Nachweis, dass die Absicht der gänzlichen oder teilweisen Zerstörung vorliegt, ist in viele Fällen schwer zu erbringen. 

 

„Verbrechen gegen die Menschlichkeit“  

Wenn nicht nachweisbar ist, dass die physisch-biologische Zerstörung einer Gruppe angestrebt wurde, bleibt juristisch die Möglichkeit, die betreffende Handlung als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ nach Art. 7 des IStGH-Statuts einzustufen – ebenfalls ein „Kernverbrechen“.  

 

II. Die vier völkerrechtlichen „Kernverbrechen“ Russlands

a) Russlands Verbrechen der Aggression  

Russlands Verbrechen der Aggression im Weltsicherheitsrat und in der Vollversammlung der Vereinten Nationen 

Der russische Präsident Putin hat das schwerste aller völkerrechtlichen Verbrechen begangen, das Verbrechen der Aggression (Art 5, Abs. 1, Buchstabe d) des Römischen Statuts des Internationalen Gerichtshofs vom 17. Juli 1998, konstatiert Prof. em. Otto Luchterhand. „Der verbrecherische Überfall auf die Ukraine ist […] die Ursache aller weiteren seither von den russischen Streitkräften und ihrer politischen und militärischen Führung an allen Frontabschnitten begangenen Völkerrechtsverbrechen“.2 

Eine gegen Russlands Einmarsch in die Ukraine gerichtete Resolution scheiterte im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am Veto der Russländischen Föderation. In der Abstimmung im Weltsicherheitsrat am 25. Februar 2022 votierten von den 15 Mitgliedern 11 dafür, Russland dagegen; China, Indien und die Vereinigten Arabischen Emirate enthielten sich. 

Die Vollversammlung der Vereinten Nationen verurteilte den russischen Angriffskrieg in ihrer Resolution A/RES/ES-11/1 vom 2. März 2022 mit der weit über dem Quorum (129 Stimmen) liegenden Mehrheit von 141 Stimmen. Doch war der Beschluss nicht verbindlich, da Resolutionen der Vollversammlung aller Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen – im Gegensatz zu Resolutionen des 15-köpfigen Sicherheitsrats – völkerrechtlich nicht bindend sind.  

 

Das Recht der Ukraine auf „Selbstverteidigung“ und die „kollektive Selbstverteidigung“ 

„Der Überfall der Russischen Föderation auf die Ukraine begründet in seltener Eindeutigkeit das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine nach Art. 51 der UN-Charta“, versichert Prof. Matthias Herdegen. 

Eine legitime Selbstverteidigung kann laut Christian Tomuschat als „kollektive Selbstverteidigung“ organisiert werden.3 „Andere Staaten dürfen der Ukraine gegen den Angriff Beistand leisten – auch ohne UN-Mandat“, erklärte Herdegen in einem (schriftlichen) Interview mit dem juristischen Magazin „Legal Tribune Online“.4 Durch bloße Waffenlieferungen an einen angegriffenen Staat wird ein Land noch nicht zu einer Konfliktpartei.  

 

b) Russische Kriegsverbrechen Möglichkeiten internationaler Strafverfolgung

Der Art. 8 des IStGH-Statuts – „Kriegsverbrechen“ – beinhaltet Verstöße gegen die Regeln der Kriegsführung, wonach militärische Gewalt nur gegen Kombattanten und militärische Objekte angewandt werden darf. Präsident Putin führt systematisch Krieg gegen die ukrainische Zivilbevölkerung.5 Die systematische Zerstörung der zivilen Infrastruktur bedeutet den Einsatz des „Winters als Kriegswaffe“ (US-Präsident Joe Biden).  

„Nach internationalem Strafrecht haben sich die Befehlshaber der russischen Streitkräfte, an ihrer Spitze Präsident Putin, schwerer Kriegsverbrechen schuldig gemacht,“ urteilt Christian Tomuschat. Da ein internationaler Haftbefehl gegen die russische Führung realiter nicht vollstreckt werden kann, hätte er, wenn er denn verhängt würde, ohnehin nur symbolischen Wert. Doch sind die hierarchisch unterhalb dieser Ebene involvierten Akteure nicht gegen Strafverfolgung gefeit; sie können wegen „Beteiligungshandlungen“ belangt werden.  

 

c) Russischer Völkermord an der ukrainischen Bevölkerung

Zum Nachweis von Völkermord verlangt die internationale Rechtsprechung grundsätzlich, dass die „physisch-biologische Zerstörung“ der „Gruppe“ (i. S. d. Genozid-Konvention) angestrebt wurde; die Vernichtung ihrer politischen, sozialen und kulturellen Existenz ist nicht ausreichend.  

 

Russischer Kinderraub – Völkermord nach Art. 2 der Genozid-Konvention  

Die Verschleppung ukrainischer Kinder durch russische Besatzungsbehörden in den von der russischen Armee besetzten Gebieten der Ukraine erinnert an den deutschen Kinderraub während des II. Weltkriegs im besetzten Polen. Der Tatbestand internationaler Kindesentführung wurde in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ verurteilt. 

Nach der Definition des Begriffs Völkermord (Genozid) in Art. 2 der Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Verbrechens des Völkermords (1948) gilt der erzwungene Transfer von Kindern von einer Gruppe („group“ i. S. d. Konvention) in eine andere als Genozid.6   

Laut dem „Institute for the Study of War“ / ISW, Washington), begann Russland, offen die Zwangsadoption ukrainischer Kinder aus dem Donbas durch russische Familien zu fördern. Russische Beamte sollen bis November 2022 rund 150 000 Kinder aus dem Donbas nach Russland verschleppt haben.7  

 

d) Russlands Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Zu den eklatanten Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die von der russischen Soldateska und von den russischen Besatzungsbehörden in der Ukraine begangen wurden, gehören  

Flucht und Vertreibung (Nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks UNHCR führte der russische Angriff auf die Ukraine zur größten Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg.)  

Verschleppung und Deportation (Die US-Botschafterin Linda Thomas-Greenfield sagte auf einer Sitzung des UN-Sicherheitsrats am 8. September 2022, dass Schätzungen zufolge zwischen 900.000 und 1,6 Millionen Menschen aus ihren Heimatorten deportiert worden seien.)  

Ethnische Säuberung (Das US-amerikanische „Institute for the Study of War / ISW vermutet, dass die russischen Besatzungsbehörden ethnische Säuberung betreiben, indem sie besetzte ukrainische Gebiete durch Deportationen entvölkern und mit russischen Bürgern neu besiedeln.)  

„Filtrierung“ – „Selektion“ in russischen Lagern (Die US-Regierung beschuldigte im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen das russische Militär, in dem von ihm besetzten Gebiet der Ukraine „Filtercamps“ („Filtrationslager“) zu unterhalten, aus denen festgenommene Ukrainer nach „Filtrierung“ gegen ihren Willen nach Russland deportiert würden.8 Vielfach verschwänden „Ausgesonderte“ spurlos.) 

 

III. Ein „Nürnberg II“ zur Aburteilung russischer Hauptkriegsverbrecher 

In der gemeinsamen „Berliner Erklärung“, mit der das Treffen der Justizminister der G 7 Staaten, das am 28. Und 29. November 2022 in Berlin stattfand, abgeschlossen wurde, haben sich die sieben Justizminister verpflichtet, die Verantwortlichen für die Kriegsverbrechen in der Ukraine vor Gericht zu bringen. Die „strafrechtliche Verfolgung der Kernverbrechen des Völkerrechts hat für uns oberste Priorität“, sagte der deutsche Gastgeber, Justizminister Marco Buschmann.  

 

Die Eilentscheidung des Internationalen Gerichtshofes vom 16. März 2022 

Wenige Tage nach der russischen Invasion am 24. Februar 2022 erhob die Ukraine Klage vor dem Internationalen Gerichtshof  / IGH (International Court of Justice / ICJ) in Den Haag, und beantragte in einem Dringlichkeitsverfahren Sofortmaßnahmen gegen die Russländische Föderation. Die Ukraine berief sich in ihrem Antrag auf die Konvention über die Verhütung und Bestrafung von Völkermord“9 vom 9. Dezember 1948 (Völkermord-Konvention), der sowohl die Ukraine als auch Russland als Parteien angehören. Kiew wehrte sich gegen die Behauptung Moskaus, dass die Ukraine Völkermord an den in der Ukraine lebenden Russen begehe; mit dieser haltlosen Behauptung hatte Russland u. a. die Invasion gerechtfertigt.   

Der IGH gab der Ukraine in der Sache mit großer Mehrheit „(fast) in vollem Umfange Recht“ – mit 2 Gegenstimmen von 15 Stimmen insgesamt (Richterin Xue aus China und Richter Gevorgian aus Russland). Das Gericht wies Russland an, die militärischen Operationen auf dem Territorium der Ukraine unverzüglich einzustellen. 

 

Der Internationale Strafgerichtshof  – keine Anlaufstelle für die Verurteilung des russischen „Verbrechens der Aggression“  

Der Internationale Strafgerichtshof (International Criminal Court / ICC) ist allerdings nicht die geeignete Anlaufstelle für die Verurteilung des russischen Verbrechens der Aggression. Zwar fällt das „Verbrechen der Aggression“ seit der Änderung des Römischen Statuts im Jahre 2010 in Kampala (Uganda) in die Zuständigkeit des IStGH, doch ist der IStGH für Staatsangehörige der Russländischen Föderation nicht zuständig, da diese das Römische Statut nicht ratifiziert hat.  

Es gibt derzeit kein Gericht, das für Fälle der individuellen strafrechtlichen Verantwortung russischer Staatsangehöriger für das Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine zuständig ist. 

 

Ein neues internationales ad hoc Tribunal  

Die „Lücke in der Architektur des internationalen Rechts“ 

Im März 2022 wurde in einer öffentlichen Erklärung, die von vielen namhaften Politikern und renommierten Juristen (unter ihnen Benjamin Ferencz, der letzte überlebende Ankläger des  Nürnberger Militärtribunals) unterzeichnet wurde, zur Schaffung eines Sondergerichtshofes für die Strafverfolgung des Verbrechens der Aggression gegen die Ukraine aufgerufen.

Einer der Unterzeichner dieser Erklärung war der renommierte britisch-französische Jurist Philippe Sands.11 In einem Artikel in der Financial Times vom 28. Februar 2022 – „Putin’s use of militäry force is a crime of aggression”  – hatte Sands bereits einen Sonderstrafgerichtshof für Verbrechen der Aggression vorgeschlagen, um Individuen für das Verbrechen der Aggression zur Verantwortung ziehen zu können. Aggression sei ein „Führungsverbrechen“, für das die Staatsführung verantwortlich sei. Wenn nur „Kriegsverbrechen“, „Völkermord“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ untersucht und verfolgt würden, dann blieben die Hauptverantwortlichen straffrei, argumentiert Sands. Philippe Sands sieht eine „Lücke in der Architektur des internationalen Rechts“ und schlägt zur Schließung dieser Lücke die Schaffung eines Sonderstrafgerichtshofs zur Verfolgung des „Verbrechens der Aggression“ vor. 

 

Die Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europa-Rates vom 26. Januar 2023 

Am 26. Januar 2023 nahm die Parlamentarische Versammlung des Europa-Rates (Parliamentary Assembly of the Council of Europe / PACE) in Straßburg – einstimmig – die Resolution 2482 an, in welcher sie die Schaffung eines internationalen Sondergerichtshofes zur Strafverfolgung der russischen Führung forderte.

In Punkt 1. der Resolution wiederholt „die Versammlung“ nicht nur, dass die militärische Invasion der Ukraine eine „Aggression“ im Sinne der Resolution 3314 (XXIX) der Vollversammlung der Vereinten Nationen von 1974 und einen klaren Bruch der Charta darstelle, sondern anerkennt auch, dass die russische Aggression gegen die Ukraine nicht erst mit der Invasion am 24. Februar 2022 begonnen hat, sondern dass “the ongoing aggression is a continuation of the aggression started on 20 February 2014, which included the invasion, occupation and illegal annexation of Crimea by the Russian Federation” – eine bemerkenswerte Anerkennung der hybriden Intervention im Donbas und der militärischen Besetzung der Krim als “Aggression”.  

 

Der Mechanismus der UN-Resolution “Vereint für den Frieden“  

Die „Uniting für Peace“ der Vollversammlung der Vereinten Nationen von 1950 

Die United Nations General Assembly (UNGA) Resolution 377 A (V) „Uniting for Peace“ Resolution („Vereint für den Frieden“) besagt, dass in Fällen, in denen der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen aufgrund fehlender Einstimmigkeit seiner fünf ständigen Mitglieder nicht in der Lage ist, die internationale Sicherheit und den internationalen Frieden zu gewährleisten, die Vollversammlung der Vereinten Nationen den Fall umgehend erörtern muss; die Vollversammlung kann den Mitgliedern der Vereinten Nationen angemessene gemeinsame Maßnahmen empfehlen – einschließlich den Gebrauch bewaffneter Kräfte, wenn dies nötig ist, um die internationale Sicherheit und den internationalen Frieden wiederherzustellen. Die Resolution war am 3. November 1950 mit 52 gegen 5 Stimmen bei 2 Enthaltungen angenommen worden. Mit ihr wurde der Mechanismus der „Dringlichkeits-Sondersitzung“ – „Emergency Special Session“ / ESS (Notstands-Sondertagung) geschaffen. 

 

Reaktivierung der Uniting for Peace Resolution im Jahre 2022 

Am 25. Februar 2022, ein Tag nach dem Beginn seiner Invasion der Ukraine, blockierte Russland mit seinem Veto eine Resolution des UN-Sicherheitsrates, in welcher Russlands Angriff auf die Ukraine scharf verurteilt wurde, und ein sofortiger Abzug der russischen Truppen aus der Ukraine gefordert wurde. 

Um eine Verurteilung des russischen Angriffs auf die Ukraine am 24. Februar 2022 durch die Vollversammlung der Vereinten Nationen zu erreichen, griffen die USA auf die „Uniting for Peace“ („UfP“) Resolution aus dem Jahre 1950 zurück. Am 27. Februar 2022 beschloss der Sicherheitsrat mit Zweidrittelmehrheit, eine Dringlichkeitssitzung der Vollversammlung (UN General Assembly) – nach dem „Uniting for Peace“ / UfP -Verfahren –  für den 28. Februar 2022 zur Erörterung der russischen Invasion in der Ukraine einzuberufen (Resolution 2623). Elf Mitglieder des Sicherheitsrates stimmten für den Resolutionsentwurf der USA gegen die Stimme Russlands bei drei Enthaltungen. 

 

Die Resolution ES-11/1 der Vollversammlung der Vereinten Nationen 

Am dritten Sitzungstag (2. März 2022) der Dringlichkeits-Sondersitzung (Emergency Special Session / ESS)  – der 11. seit Gründung der Vereinten Nationen – nahm die Vollversammlung der Vereinten Nationen die Resolution ES-11/1 mit 141 Stimmen an – bei 5 Gegenstimmen und 35 Enthaltungen.14 Darin wurde Russland aufgefordert, seine rechtswidrige Gewaltanwendung gegen die Ukraine unverzüglich einzustellen. 

Die Resolution ES-11/1 charakterisierte die russische Invasion als einen Akt der „Aggression“ – ein völkerrechtliches Verbrechen. Die Russländische Föderation wurde darin aufgefordert auf, “to cease its use of force against Ukraine” und “to immediately, completely and unconditionally withdraw all of its military forces from the territory of Ukraine within its internationally recognized borders.”  

 

„Hybride Strafgerichte“ 

Die Befugnisse der Vollversammlung der Vereinten Nationen beschränken sich auf Empfehlungen. Die Befugnis zur Ergreifung von Durchsetzungsmaßnahmen (“enforcement action“) ist das exklusive Vorrecht des Sicherheitsrates. Doch hat die Vollversammlung der Vereinten Nationen durch ihre Praxis in der Vergangenheit eine Umgehungsmöglichkeit ihrer Begrenzungen aufgezeigt: Die Vollversammlung kann die Ausübung strafrechtlicher Jurisdiktion von einem oder mehreren ihrer Mitgliedsländern unterstützen. Seit dem Jahre 2000 werden so genannte „Hybride Strafgerichte“ gebildet, die auf Vereinbarungen zwischen den betroffenen Staaten und den Vereinten Nationen beruhen.

 

IV. Bestrafung des „Hauptverantwortlichen“ Putin 

Zum Abschluss ihres virtuellen Treffens am 12. Dezember 2022 in London, an welchem der ukrainische Präsident Volodymyr Zelenskij per Video-Schaltung teilnahm, erklärten die Staats- und Regierungschefs der „G-7“, dass sie den russischen Präsidenten Putin für den Überfall auf die Ukraine zur Verantwortung ziehen würden.  

Der britische Jurist Geoffrey Nice, Mitglied des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien und leitender Staatsanwalt im Prozess gegen Slobodan Milošević, ist der Meinung, dass der Präsident der Russländischen Föderation, Vladimir Putin für die russischen Kriegsverbrechen persönlich zur Verantwortung gezogen werden sollte, wie er in einer Sendung von „BBC Radio 4“ am 1. Januar 2023 sagte. „Es bestehen keine Zweifel, dass die Befehlskette direkt zu Putin führt. […] Er ist schuldig, urteilte Nice. 

 

„Funktionelle Immunität“   

Der Präsident der Russländischen Föderation, Vladimir Putin, ist nicht nur durch Russlands Veto-Recht im Weltsicherheitsrat vor internationaler Strafverfolgung geschützt, sondern auch aus einem völkerrechtlichen Grund: Er genießt sogenannte „funktionelle Immunität“. Hochrangige Funktionsträger eines Staates – Staatspräsidenten, Premierminister und Außenminister – sind durch „funktionelle Immunität“ für Handlungen, die sie in ihrer amtlichen Funktion ausüben, vor der Strafverfolgung durch Drittstaaten geschützt. 

Doch wird der Schutz von Staatschefs vor völkerstrafrechtlicher Verfolgung in Fällen von „Kernverbrechen“  (Verbrechen der Aggression, Kriegsverbrechen, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit) durch neuere Entwicklungen im Völkerrecht immer mehr herabgesetzt. Vor internationalen Gerichten wurden Strafverfahren selbst gegen amtierende Staatschefs zulässig. Der serbische Präsident Slobodan Milošević wurde vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien / IStGHJ (International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia / ICTY) angeklagt.  

Das IStGH-Statut erkläre, „jegliche amtliche Immunität wird für unbeachtlich“, konstatiert Helmut Kreicker, Richter am Bundesgerichtshof.16 Art. 27, Abs. 2 des Statuts lautet: „Immunitäten […] die nach […] dem Völkerrecht mit der amtlichen Eigenschaft einer Person verbunden sind, hindern den Gerichtshof nicht an der Ausübung seiner Gerichtsbarkeit über eine solche Person.“ Völkerrechtliche Immunitäten stehen also einer Strafverfolgung durch den IStGH nicht entgegen. 

 

Der „Fall Putin“ – eine außerrechtliche Lösung? 

Da der russische Präsident Vladimir Putin – wenn auch umstrittenen – juristischen Schutz vor Strafverfolgung, und wahrscheinlich auch faktischen Schutz vor Auslieferung genießt, bleibt prima facie nur eine außerrechtliche Möglichkeit, Gerechtigkeit walten zu lassen. Und weil auch ein Suizid (à la Hitler) unwahrscheinlich ist, bedürfte es eines „Tyrannicidiums“, um der Gerechtigkeit Genüge zu tun. Ob sich aber ein russischer Claus Schenk Graf von Stauffenberg findet, ist allerdings eher unwahrscheinlich.  

 

Winfried Schneider-Deters 

Kyjiw, 9. Februar 2023 

 

Winfried Schneider-Deters, seit 2004 Autor von Veröffentlichungen zur Innen- und Außenpolitik der Ukraine, 1996-2000 Leiter des „Kooperationsbüros Ukraine“ der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kyjiw, 1975-2003 Leiter von nationalen und regionalen Projekten der Friedrich-Ebert-Stiftung in Lateinamerika, Ostasien, Zentralasien und im Südkaukasus. 

 

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