Russische Einflussnahme: Stolpersteine auf dem Weg Moldaus in die EU

Bis 2030 plant Moldau Mitglied der EU zu werden – doch nicht, wenn es nach Russland geht. HANNA OBERMÜLLER führt in die Geschichte des Landes ein und SEBASTIAN SCHÄFFER und IRIS REHKLAU analysieren die Stimmung vor dem EU-Referendum.

Zwischen Ost und West (von HANNA OBERMÜLLER)

Die Republik Moldau ist ein rund 2,5 Millionen Einwohner*innen zählender Staat in Osteuropa, der im Norden, Osten und Süden an die Ukraine und im Westen an Rumänien und damit die EU grenzt. Historisch war Moldau ursprünglich ein Fürstentum, das im 15. Jahrhundert unter osmanischen Einfluss geriet, bevor ein Großteil seiner Gebiete 1812 dem russischen Zarenreich zufiel. Nach dem Ersten Weltkrieg erklärte der westliche Teil Moldaus, Bessarabien, seine Autonomie und stimmte im Jahr 1918 für die Vereinigung mit Rumänien, mit dem es historisch, kulturell und sprachlich eng verbunden war. Von der Sowjetunion wurde dies nie anerkannt.

Um seinen territorialen Anspruch zu untermauern, gründete die Sowjetunion 1924 auf dem Gebiet des heutigen Transnistrien die Moldauische Autonome Sozialistische Sowjetrepublik (ASSR) innerhalb der Ukrainischen SSR. Im Zuge des Zweiten Weltkriegs besetzte die Rote Armee das Gebiet Bessarabiens und 1944 wurde dieses endgültig in die Sowjetunion eingegliedert. Es entstand die bis 1991 bestehende Moldauische SSR. Während dieser Zeit versuchte die Sowjetunion das Narrativ einer sowjetisch-moldauischen Identität ohne rumänische Einflüsse durchzusetzen. Die offizielle Sprache wurde Moldauisch genannt und in ky- rillischer Schrift geschrieben.

Weg in die Unabhängigkeit

Nach dem Zerfall der Sowjetunion erklärte Moldau 1991 seine Unabhängigkeit. Mittlerweile ist die Amtssprache Rumänisch und wird in lateinischer Schrift geschrieben. Nach einem Assoziierungsabkommen 2014 erhielt Moldau im Juni 2022 zeitgleich mit der Ukraine den Status eines EU-Beitrittskandidaten, zwei Jahre später wurden die Beitrittsverhandlungen eröffnet. Die Annäherung der Republik Moldau an den Westen und ihre Unterstützung der Ukraine ist Russland jedoch ein Dorn im Auge. Über die Finanzierung prorussischer Medien und Parteien, Stimmenkauf, die Abhängigkeit von russischem Gas und die gezielte Verbreitung von Desinformation und prorussischen Narrativen sowie Sowjet-Nostalgie versucht Russland die Demokratie in Moldau zu destabilisieren und das Land an sich zu binden.

Hinzu kommen die zwei prorussischen Regionen Transnistrien und Gagausien, über die Russland Einfluss in Moldau ausübt. In Transnistrien im Osten Moldaus stellen Russ*innen immer noch knapp die größte ethnische Bevölkerungsgruppe dar. In einem von 1990 bis 1992 andauernden innerstaatlichen Konflikt leistete Russland aktiv militärische und politische Unterstützung für die transnistrischen Separatisten. Der gewaltsame Konflikt endete mit einem Waffenstillstand 1992, der die Region de facto unabhängig machte. Transnistrien hat seine eigene Regierung und Verwaltung, wird jedoch international nicht anerkannt. Trotz eines Abkommens im Jahr 1994, das den Abzug des russischen Militärs aus Transnistrien vorsah, sind bis heute russische Truppen in der Region stationiert.

Gagausien, das im Süden Moldaus liegt, wird mehrheitlich von ethnischen Gagaus*innen, einem christlich-orthodoxen Turkvolk, bewohnt. Diese Region erhielt nach Unruhen durch ein Abkommen 1994 den Status »Autonome Territoriale Einheit«. Es genießt damit eine gewisse interne Autonomie in Moldau und verfügt über drei Amtssprachen: Rumänisch, Russisch und Gagausisch. Die Region steht unter starkem russischem Einfluss. Die meisten Menschen (rund 84%) fühlen sich ethnisch jedoch vor allem als Gagaus*innen.

Bei der letzten landesweit durchgeführten Volkszählung in Moldau im Jahr 2014 bezeichneten sich 75,1 % der Befragten als moldauisch, 7,0 % als rumänisch, 6,6 % als ukrainisch, 4,6 % als gagausisch und nur 4,1 % als russisch.

Richtungsentscheidung

Am 20. Oktober 2024 fanden in der Republik Moldau sowohl Präsidentschaftswahlen als auch ein bedeutendes Referendum statt. Moldauische Bürger*innen sollten entscheiden, ob das Ziel der EU-Integration in der moldauischen Verfassung festgeschrieben werden soll. Von drei Millionen Wahlberechtigten gaben insgesamt 1,54 Millionen Bürger*innen ihre Stimme ab. Hinzu kamen über 235.000 Stimmen der Diaspora.

Das Resultat des Referendums überraschte: Laut Wahlkommission stimmten 50,4 % der Wähler*innen für eine Verfassungsänderung, während 49,6 % dagegen votierten. Umfragen im Vorfeld hatten eine weitaus deutlichere Mehrheit für den EU-Kurs des Landes prognostiziert. Zu Beginn der Auszählung führte das »Nein«-Lager, bis schließlich die Stimmen der überwiegend proeuropäisch eingestellten Diaspora eintrafen und das Ergebnis zugunsten eines »Ja« drehten.

Ein Referendum und viel Nervosität (von SEBASTIAN SCHÄFFER und IRIS REHKLAU)

Die Entscheidung der moldauischen Präsidentin Maia Sandu, zeitgleich mit der Präsidentschaftswahl auch ein Referendum über die Änderung der Verfassung anzusetzen, war ein politisches Spiel mit hohem Risiko. Durch die Verknüpfung fand eine Verengung des Diskurses statt, denn neben der Amtsinhaberin gab es praktisch keine Gegenkandidat*innen, die den EU-Beitritt und die Aufnahme der EU-Integration als strategisches Ziel Moldaus in die Verfassung unterstützten. Außerdem können solche Referenden auch schiefgehen, wie etwa das Brexit-Referendum im Vereinigten Königreich zeigte.

Was die beiden Abstimmungen verbindet, ist aber nicht nur die grundsätzliche Frage nach einer Zukunft inner- oder außerhalb der Europäischen Union. In Großbritannien hatte der Kreml bereits im Jahr 2016 versucht, mit Desinformation und Geld den Ausgang des Referendums zu beeinflussen. Im Falle Moldaus im Jahr 2024 nahm Russland bis zu 150 Millionen Euro in die Hand, wie investigative Journalist*innen der Medien Euromaidan Press und Ziarul de Gardă kürzlich aufdeckten. Das Geld wurde genutzt, um Stimmen direkt zu kaufen, aber auch für Social Media-Kampagnen, die Wähler*innen beeinflussen sollten, gegen das Ziel des EU-Beitritts zu stimmen. Zudem wurde sowohl in Großbritannien als auch in Moldau eine sehr komplexe Frage so weit heruntergebrochen, dass sie mit einem »Ja« oder »Nein« beantwortet werden sollte.

Ein wichtiger Unterschied besteht allerdings darin, dass ein negativer Ausgang des Referendums in Moldau nicht notwendigerweise den Prozess des EU-Beitritts gestoppt hätte. Abgestimmt wurde nämlich nicht über den Beitritt selbst, sondern über die verfassungsgesetzliche Verankerung des Ziels, der EU beizutreten. Dieser Zusatz erschwert lediglich künftigen Regierungen den Weg der EU-Integration zu verlassen.

Auf der Suche nach der Zukunft

In den Tagen vor der Abstimmung war unter den proeuropäisch eingestellten Menschen in Chişinău eine gewisse Nervosität zu spüren. 2019 hatte die Ukraine eine ähnliche Änderung ihrer Verfassung vollzogen – die Ereignisse der darauffolgenden Jahre geben Anlass zur Besorgnis. Die größte Sorge bleibt dabei die konkrete Zukunft des Landes. Mit dem Referendum wird diese offene Frage letztendlich wieder auf die Entscheidung »proeuropäisch oder prorussisch« reduziert. Dabei gestaltet sich die Zukunft in Moldau aber vielschichtiger und komplexer. Neben der Frage nach der geopolitischen Positionierung des Landes sind tiefgreifende strukturelle Veränderungen wie Reformen im Bereich der Justiz notwendig und ebenso wichtig. Eine positive Erzählung, die die Sorgen und Ängste der Moldauer*innen, aber auch der EU-Bürger*innen auf- und mitnimmt, findet sich kaum. Dies wiederum bietet fruchtbaren Boden für Desinformationskampagnen – nicht nur aus Russland.

Bis 2030 will die aktuelle Regierung unter Ministerpräsident Dorin Recean von Sandus Partei Aktion und Solidarität (rum. Partidul Acțiune și Solidaritate – PAS) die Republik Moldau in die EU führen. Am Ende des langwierigen Verhandlungs- prozesses soll dann erneut ein Referendum stehen. Die nächste Entscheidung der Bürger*innen bezüglich der Annäherung an die EU wird aber spätestens schon im Juli 2025 stattfinden, wenn die Moldauer*innen ein neues Parlament wählen. Denn letztendlich entscheidet im politischen System nicht die Präsidentin, sondern die Regierung über den Kurs des Landes. Bis dahin wird es noch auf allen Seiten viel Gelegenheit zur Nervosität geben, wie der äußerst knappe Ausgang des Referendums zeigt. Aber es bleibt auch die Hoffnung auf eine Zukunft der Republik Moldau in der EU.

P.S.  Moldawien oder Moldau? In österreichischen Medien wird immer noch häufig von »Moldawien« gesprochen. Dies ist allerdings eine direkte Übersetzung der russischen Bezeichnung für das Land. Die offizielle Bezeichnung im Deutschen lautet Moldau.

 

Sebastian Schäffer ist Direktor des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM) und Generalsekretär der Donaurektorenkonferenz (DRC).

Iris Rehklau ist Associate bei SSC Europe und Projektmanagerin im Bereich Bildung und Integration.

Hanna Obermüller ist Masterstudentin für »Peace and Security Studies« am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) in Hamburg und ehemalige Trainee am IDM.

Wie Energieträume wahr werden

Grün, lokal und unabhängig: So könnte die Energieerzeugung und – versorgung von morgen aussehen. REBECCA THORNE berichtet aus Slowenien, Serbien und Deutschland, wo diese Idee in Projekten verwirklicht wird.

Im slowenischen Ort Hrastnik geht der Schulalltag wie gewohnt weiter. Für die Schüler*innen der lokalen Volksschule hat sich nicht viel verändert, doch wer einen Blick nach oben wagt, kann einen bedeutsamen Unterschied auf dem Dach erspähen. Seit Jänner 2024 liefern dort montierte Solarpanele Energie – und das nicht nur für die Schule, sondern für alle, die an diesem Projekt des Energy Sharings beteiligt sind. Die Lehranstalt schloss sich mit der Gemeinde, zwei Unternehmen, dem Schwimmbad und einigen Anwohner*innen der Kleinstadt zusammen, um als Energiegemeinschaft gemeinsam Strom zu erzeugen. Das Ziel: Mit Ausnahme des Schwimmbads den gesamten Energiebedarf der Beteiligten abzudecken. Mittlerweile haben sich ihre Energierechnungen bereits um ein Drittel verringert.

Doch nicht nur die Geldbeutel profitieren von solchen Energiegemeinschaften. Die verringerte Abhängigkeit von Importen sichert die Stromversorgung und stabilisiert den Energiesektor insgesamt. Der Strom wird dort erzeugt, wo er gebraucht wird. Und da bei Energiegemeinschaften erneuerbare Energieformen zum Einsatz kommen, werden auch weniger Treibhausgase in die Atmosphäre ausgestoßen. Für die früher stark von Kohle abhängige Region in Slowenien ist die eigene Erzeugung sauberer Energie von besonderer Bedeutung.

Die NGO Focus – Association for Sustainable Development leitet das Projekt in Hrastnik. Für die Initiator*innen Barbara Kvac und Boštjan Remic geht es vor allem um demokratische Grundsätze. Die Energiewirtschaft sei in Slowenien momentan noch sehr ungerecht, denn die Bevölkerung ist aufgrund von zentralisierten Modellen und importierter Energie beim Strompreis von Marktschwankungen abhängig.

»Wir wünschen uns eine Demokratisierung des Energiesektors und eine aktive Beteiligung der Menschen,« so Kvac.

Sonnen- und Schattenseiten

Das Konzept von Energy Sharing besteht schon lange. Bis vor Kurzem gab es jedoch weder eine Definition noch eine Rechtsgrundlage, was zu übermäßiger Bürokratie und Gebühren führte. Erst 2019 führte die EU Rechtsvorschriften für Energiegemeinschaften ein. Diese müssen nun von allen Mitgliedstaaten bis Ende Dezember 2024 in nationales Recht umgesetzt werden, doch die Regelungen bleiben in vielen Ländern mangelhaft und undurchsichtig. So verzögerte sich die Implementierung des Projekts in Slowenien, da sich die Gesetzgeber selbst zunächst mit den neuen Vorschriften auseinandersetzen mussten.

In der EU-Nachbarschaft sind Energiegemeinschaften noch nicht im Gesetz verankert und werden auch nicht staatlich gefördert. Dies stellte die serbische Energiegemeinschaft Elektropionir vor eine große Herausforderung. Während das slowenische Projekt unter anderem Finanzierung vom Ministerium erhielt, war Elektropionir auf Crowdfunding angewiesen. Bürokratie und fehlende Arbeitskräfte erschwerten das Vorhaben in Serbien zusätzlich.

Ursprünglich sollte im serbischen Balkangebirge ein kleines Wasserkraftwerk gebaut werden, doch die Anwohner*innen protestierten. Elektropionir gelang es, anstelle des Wasserkraftwerks Solaranlagen auf zwei Kultur- und Kommunalzentren in den Dörfern Temska und Dojkinci zu bauen und damit die ersten Energiegemeinschaften in dieser Gegend zu gründen. Die Stadtverwaltung, in deren Besitz sich die Gebäude befinden, verbraucht den so erzeugten Strom jedoch nicht direkt selbst. Stattdessen wird die Energie auf dem Markt verkauft und der gesamte Gewinn geht an die örtliche Gemeinde zurück. Mit den zusätzlichen Geldern sollen beispielsweise notwendige Erneuerungen in den Dörfern durchgeführt oder kleine Festivals veranstaltet werden.

Der Geograph Predrag Momčilović, Mitglied von Elektropionir, beobachtet, dass das Projekt der Energiegemeinschaft auch zu mehr Zusammenhalt unter den Dorfbewohner*innen und einem gestärkten Gefühl von Vertrauen in der Gemeinde führte. Für den Kampf gegen den Klimawandel reichen einzelne Initiativen wie diese dagegen nicht aus. »Dafür brauchen wir eine viel größere sozioökonomische Transformation der gesamten Gesellschaft,« ist Momčilović überzeugt.

Wie ein Fisch im Wasser

Sonnenenergie – die derzeit beliebteste Quelle erneuerbarer Energie – stößt im Winter und nachts an ihre Grenzen. Und auch Windenergie ist stark von aktuellen Wetterverhältnissen abhängig. Im Vergleich dazu fließt Wasser rund um die Uhr und sichert so eine stabile Grundversorgung. Doch traditionelle Wasserkraftwerke verloren in den letzten Jahren wegen ihrer zerstörerischen Eingriffe in die Umwelt an Beliebtheit. Neben den schädlichen Auswirkungen auf die natürlichen Ökosysteme des Flusses brauchen die Kraftwerke viel Beton, ein kohlenstoffintensives Material.

Nicht so der Energyfish. Mit Expertise, Geduld und viel Hoffnung widmete sich das Startup Energyminer aus Deutschland der Problematik der Wasserkraftwerke. Zusammen mit ihrem kleinen Team entwickelten die Gründer Dr. Georg Walder und Dr. Richard Eckl eine Technologie, die mithilfe von natürlich fließendem Wasser saubere Energie erzeugt, ohne dabei Fischen zu schaden oder in die Flussökosysteme einzugreifen. Der Energyfish wird mithilfe eines Ankerseils im Flussbett verankert und schwimmt kaum sichtbar unter der Wasseroberfläche. Dort produziert er durchgehend Strom, der direkt ins lokale Niederspannungsnetz eingespeist wird.

100 blaue »Fische« bilden einen Energyfish-Schwarm, der den Strombedarf von knapp 500 Haushalten decken kann. Dabei ist die Technologie dahinter nicht nur selbstreinigend, sondern passt sich jeder Wetterlage an: Bei Hochwasser und Eisbildung taucht der Energyfish einfach ab und produziert weiter. Die Pilotanlage wurde in München getestet, mittlerweile sind weitere Standorte in Bayern sowie am Rhein geplant.

Dezentralisierung als Antrieb

Doch auch für das deutsche Startup stellt das Genehmigungsverfahren derzeit die größte Herausforderung dar. Da das Konzept und die Technik des Energyfish noch neu sind, dauern die Prozesse länger. »Die Unterstützung der Politik ist für die Zukunft innovativer Initiativen im Bereich der erneuerbaren Energien essenziell,« so Walder.

Dezentralisierung ist der Kerngedanke des Energyfish-Schwarmkraftwerks. Wie in den Energiegemeinschaften in Slowenien und Serbien wird der Strom vor Ort produziert und genutzt. Die Erzeugung ist sauber, die Energie selbst leistbarer und die Versorgung wird unabhängiger, demokratischer und sicherer. Durch Energy Sharing können auch Partizipation gestärkt und Gemeinschaften zusammengeführt werden – und das nicht nur in kleinen Gemeinden, sondern auch in größeren Städten, wie der Energyfish in München zeigt. Jedes Projekt trägt damit auch ein Stück zur Umsetzung der Energiewende bei. Walder zeigt sich optimistisch: »Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir den Umschwung zu erneuerbarer, dezentraler Energie europaweit schaffen.«

Ob mit Solarpanelen, dem Energyfish oder anderen innovativen Ideen – die Dezentralisierung durch Energiegemeinschaften beschleunigt nicht nur die Energiewende, sondern trägt auch zu ihrer Akzeptanz in der Bevölkerung bei. So wie sich der Klimawandel mit langen Hitzewellen, Hochwasser, anderen Naturkatastrophen und zunehmenden Migrationsbewegungen immer bemerkbarer macht, so können mithilfe der Energiegemeinschaften auch die Lösungen greifbar werden.

 

Rebecca Thorne ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM) in Wien. Ihre Forschung konzentriert sich auf Klima, Umwelt und Energie in Mittel-, Ost- und Südosteuropa.

 

 

IDM Short Insight 44: The Weimar Triangle – A Key Format for Europe?

Here is everything you need to know about the Weimar Triangle!

Sebastian Schäffer, Malwina Talik and Romain LeQuiniou were at Café Kyiv 2025, and are diving into the rebirth of the Weimar Triangle—a crucial alliance between Germany, France, and Poland. Originally formed in 1991 to support Poland’s Euro-Atlantic integration, this minilateral format is now gaining new relevance, fueled by Russia’s full-scale invasion of Ukraine.

Why is the Weimar Triangle back on the agenda? How will Germany’s new government shape its role? What does this mean for Poland’s influence in Europe? Can this alliance evolve into a security pillar for Europe, even without the U.S.?

While some argue the revival is more talk than action, others see soft power diplomacy as a tool to counter today’s biggest challenges. Could a „Weimar Plus“ format—including the UK—be the key to Europe’s future security?

Transcript:

So, us three, we are here at Cafe Kyiv 2025 talking about the Weimar Triangle. The Weimar Triangle was founded in 1991. One of its goals was to facilitate the euroatlantic integration of Poland. Since 2022 there is a rebirth of the Weimar Triangle, mainly explained by the full-scale invasion of Russia in Ukraine. And I think that the idea is also to reengage Poland and to have better relations between the three countries. 

I think the German position will have to be defined when the actual new government is there. But I see lot of potential to repair some of the damage that was done through the last administration in working together with France and Poland as the new government might align much more with what the other two countries are standing for in the Weimar Triangle. 

For Poland, the Weimar Triangle is a very prestigious, minilateral format, which allows Poland to have more impact on European politics, but also to amplify the voice of countries coming from Central and Eastern Europe, to make sure that some warnings are being heard and not fall on deaf ears. 

For France, the objective is dual. On one side, it is about reengaging with Germany without having a relationship that is only with Berlin but also in a trilateral meeting. And this is also about having the possibility to reengage with Poland and mostly with Central Eastern Europe. 

There is today a rebirth of the Weimar Triangle and this is great for Europe and for the three countries, but we cannot hide the fact that for the moment there is declaration, but there are no actions. I see it a little bit different. I believe that in the current form the Weimar Triangle has a strong diplomatic power, soft power that even in times when hard measures seem to matter more, still may have an impact. Maybe there is even a chance to utilise this minilateral format to actually counter the prime challenge of nowadays. Namely to, within a Weimar Plus format, also engage the United Kingdom, provide the necessary structures to find defence and to coordinate defence in Europe that is in the foreseeable future at least no longer organised with the United States as it seems.

Parallel Protests? Corruption in Albania and Serbia

Albania and Serbia have been experiencing a wave of protests sparked by growing frustration over corruption scandals. While sharing a common catalyst, the developments in each country have been shaped by structural differences and distinct leadership. In her article on the IDM Blog, Antonie Blumberg compares the protest movements and the fight against corruption in both countries. 

Despite efforts towards EU integration, corruption remains a defining challenge in the Western Balkans. In 2024, mass protests erupted in Serbia and Albania, each exposing the different forms of corruption in these countries. While both movements reflect growing frustration, their distinct trajectories reveal how political structures shape anti-corruption efforts. Why did protests in Serbia take a grassroots form, while Albania’s were closely tied to opposition parties? And what do these differences tell us about corruption in the region? 

Albanians and Serbians rising against corruption  

In November 2024, the collapse of the Novi Sad train station canopy killed 15 people and injured two others, sparking a wave of anger across Serbia. Whistleblowers revealed that corruption and nepotism were responsible for the shoddy reconstruction work, part of a broader trend of non-transparent infrastructure projects tied to Chinese state companies. Students led the charge, mobilising in over 150 municipalities, including Belgrade, Novi Sad, Kragujevac, and Niš. Opposition leaders and civil society groups joined the protests, demanding the release of full documentation on the train station renovation and criminal accountability for those responsible. Despite violent attacks against protestors, the movement has grown into the largest student protest in Serbia since 1968.   

In Albania, protests erupted in October 2024 following a corruption scandal involving Prime Minister Edi Rama’s Socialist Party (PS). Opposition parties accused the government of electoral fraud and judicial manipulation, demanding justice. Led by the conservative Democratic Party (DP) and its allies, demonstrators blocked roads in six towns, calling for a technocratic caretaker government until the 2025 parliamentary elections. In February 2025, protests flared up again following the arrest of Tirana’s mayor Erion Veliaj on corruption charges. Veliaj’s supporters gathered outside the Special Structure Against Corruption and Organised Crime (SPAK), denouncing what they saw as a politically motivated arrest. SPAK is an independent judicial institution responsible for investigating and prosecuting high-level corruption and organized crime cases. 

Although both protest movements were sparked by frustration with widespread corruption, they have evolved in different directions. In Serbia, protests have been predominantly led by students and grassroots movements, making them independent of direct political influence. This lack of leadership entails both advantages and drawbacks: it prevents the government from easily targeting a specific opposition figure, but it also makes it difficult to translate the movement into concrete political change. In contrast, Albania’s demonstrations have been largely driven by opposition forces, making them inherently politicised. This association with opposition parties has led to reduced public mobilisation compared to Serbia, where protests have maintained broader societal support.  

Serbia held hostage by corruption 

The different trajectories of the protests can be attributed to the structural differences in corruption itself. While the Western Balkans are often viewed as a single entity, corruption manifests in distinct ways across the region, highlighting that not all corruption is the same. 

Serbia represents a consolidated form of state capture, where corruption is highly centralised under the dominant Serbian Progressive Party (SNS). The SNS has solidified control over key state institutions, transforming corruption into a tool for political dominance rather than just personal enrichment. State institutions, including the judiciary, law enforcement, and regulatory bodies, function under the firm grip of the ruling party. Prosecutorial independence remains weak, with judicial appointments and promotions being influenced by political considerations. High-profile corruption cases involving government figures rarely see legal consequences, while opposition leaders and critics often face selective prosecution. The telecommunications sector is particularly vulnerable to monopolisation as state actors exert influence over licensing to benefit politically connected firms. Serbia’s public procurement law on linear infrastructure projects further enables corruption. The government can classify projects as being of “special importance”, exempting them from standard procurement rules and bypassing competitive bidding, increasing the risk of favouritism.  

The means of fighting corruption are also limited. Asset confiscation mechanisms, a key tool in fighting corruption, remain ineffective, allowing illicit wealth to remain untouched. Serbia’s political leadership also tends to ignore the Anti-Corruption Council, displaying that anticorruption efforts remain largely symbolic.  

External actors like Russia and China further cement corruption by providing political and financial backing to the ruling elite. Infrastructure projects funded by Chinese companies, often labelled as FDIs, are in reality loans binding Serbia to hire Chinese firms, technology and materials. These deals bypass procurement laws through interstate agreements, limiting oversight while creating environmental and economic risks that deepen state capture.  

The incident in Novi Sad epitomises Serbia’s systemic corruption issues. As a Chinese-backed project, it was marked by opaque documentation, favouritism, and a judiciary too weak to ensure proper prosecution. Surprisingly, Radio Television Serbia, known for its close ties to President Vučić, began reporting on the protests without denouncing them, signalling the growing public pressure. The question remains whether telecommunications will remain under Vučić’s control, as the reach of corruption may continue to limit institutional change. 

Albania’s corruption battle 

In contrast to Serbia’s centralised state capture, corruption in Albania is more fragmented. The ruling PS under Prime Minister Edi Rama has been implicated in various corruption scandals, particularly regarding public procurement and the misuse of state resources. However, opposition figures like Sali Berisha also face corruption charges. While this has led to greater scrutiny, enforcement remains inconsistent.   

Albania has seen a larger number of corruption investigations than Serbia, primarily due to SPAK, which has led to several high-profile arrests. However, convictions remain low due to political interference and operational limitations. Despite some progress made in judicial reforms through vetting processes, enforcement against powerful figures is inconsistent. The political polarisation further weakens institutional accountability, with ruling and opposition elites engaging in mutual accusations rather than pursuing systemic reforms. It remains to be seen whether the increase in convictions becomes a wider trend in Albania.  

Unlike Serbia, where geopolitical alliances reinforce corruption, Albania faces challenges from regional and criminal influences. The country’s role as a transit point for illicit trade has allowed corruption and organised crime to become deeply intertwined. Bribery within law enforcement allows drug trafficking networks to operate with impunity, further eroding public trust in state institutions.  

In Albania, the politicisation of corruption prosecutions is mirrored in the politicisation of protests. Independent bodies like SPAK are accused of bias, as corruption cases are often perceived as tools for political battles rather than impartial justice. This dynamic fuels distrust against legitimate anti-corruption bodies and limits broad-based mobilisation. Protests become closely tied to party affiliations rather than unifying in the fight against corruption. 

Can democracy emerge in Southeastern Europe? 

Transparency International’s Corruption Perception Index further highlights these contrasting realities: public perception of corruption in Serbia is worsening as the government’s deep control over state institutions has effectively closed off avenues for meaningful anti-corruption reforms, fostering widespread disillusionment. Albania, on the other hand, despite current protests, has shown slight improvement, which can be attributed to the efforts of SPAK and the fact that each political side is seeing corruption-related arrests on the countering side. However, this progress remains fragile. The public’s perception of corruption in Albania is deeply polarised, with many viewing anti-corruption efforts through a partisan lens.  

Ultimately, the protests offer a counter-narrative to the widespread portrayal of Southeastern Europe as a region plagued by illiberalism and democratic backsliding. They show that even in environments where corruption runs deep, there is the potential for democracy to emerge from below. Whether this will lead to lasting reform is uncertain. What is clear, however, is that the pace of EU integration for both Serbia and Albania hinges on the continued effectiveness of anti-corruption measures. Progress in the accession negotiations will depend on whether these countries can establish genuine, independent institutions capable of tackling corruption at all levels.

Antonie Blumberg is currently completing her Master’s in Eastern European Studies at the University of Hamburg. She holds a Bachelor’s degree in Liberal Arts and Sciences from University College Maastricht and spent two months as a trainee at the IDM. 

Edited by Malwina Talik and Rebecca Thorne.

The opinions expressed in this article represent the views of the author and do not necessarily reflect the views of the IDM. 

IDM Short Insights 43: Serbia and Albania: Protests and the EU

 

5 things you need to know about the protests in Serbia and Albania!

In November 2024, large-scale protests erupted in Serbia and Albania, exposig deep-seated corruption and raising critical questions about democracy in Southeastern Europe. In Serbia, students led mass protests after a deadly infrastructure failure linked to government corruption, while in Albania, demonstrations targeted both ruling and opposition figures involved in corruption scandals. The EU’s response has been tepid. As democracy rises from below, the key question remains: Will the EU support genuine democratic reform, or continue prioritising regional stability over accountability?

Our trainee, Antonie Blumberg, answers five key questions about the protests.

Transcript:

Southeastern Europe – a region that is often portrayed as being plagued by illiberalism and democratic backsliding. But guess what? People are fighting back offering a counter-narrative to this!  In November 2024 protests erupted in Serbia and Albania exposing corruption in a very deep-rooted manner. You haven’t heard about it? Here’s all you need to know:  

Why did the protests start?

In Serbia, in the city of Novi Sad, a train station collapsed and killed 15 people last November. Whistleblowers then revealed that corruption and nepotism were responsible for the shoddy construction work. This is part of a larger trend of non-transparent infrastructure projects tied to Chinese state companies. In Albania, different corruption scandals involving Edi Rama of the ruling Socialist Party but also different figures of opposition Democratic Party sparked corruption protests. It started in October 2024 and flared up again and again until now   

How are the Protests now developing?

Despite both protests being sparked by corruption, they developed in very different directions. In Serbia, protests are predominantly led by students, making them independent of direct political influence. In Albania, they are led by opposition forces, making them inherently politicised. 

Corruption – how bad is it?

In Serbia, we have a highly centralised form of state capture. Everything is controlled by Vučić’s ruling party, from courts to media. However, Radio Television Serbia, known for its close ties to President Vučić, now started to report on the protests without denouncing them. In Albania, corruption is way more fragmented. Both government and opposition figures are accused, making accountability a very messy political game. 

And the EU? 

The EU should back democracy as it’s emphasising democratic reforms and rule of law as the pivotal issue for the countries’ European integration… but does it? In Albania, the EU is stating: „Please, no violence, just keep talking. We do not want any rapid changes.“ And for Serbia, there is silence. Meanwhile, Vučić is closing economic deals with the EU and the protestors are not even mentioned at all.  

Is it about corruption?  

The protests aren’t just about corruption—they’re about democracy itself emerging from below. And while Western media and western politicians are not talking about them a lot, especially the protests in Serbia are historic. They are the biggest student protests since 1968. Now the question is: Will the EU step up and push for real democratic change, or will it continue to support leaders that are supposedly “stabilising” the region?  

 

 

„Tortured Poets Department“: Literatur im Krieg

Was macht der Krieg Russlands gegen die Ukraine mit Literatur und Kunst? Und welche Rolle spielt die Kultur für das Überleben in Zeiten des Krieges? Die Schriftstellerin IRYNA SLAVINSKA schreibt in ihrem literarischen Essay über den Schmerz und die Hoffnung, die in Zeilen ukrainischer Autor*innen liegen. 

Im Februar 2022 konnte ich nicht lesen. Buchstäblich. Ich konnte kein Wort verstehen, ich konnte mich auf keinen Text konzentrieren. In den ersten Märztagen nahm ich dann einen großen Gedichtband zur Hand und schlug ihn auf einer beliebigen Seite auf. Mir gelang es, zwei sehr kurze Gedichte – geschrieben von großen ukrainischen Dichtern des 20. Jahrhunderts – zu lesen. Beide starben sehr jung, nachdem sie vom NKWD, dem Volkskommissariat für innere Angelegenheiten der Sowjetunion, gefoltert worden waren. Sie wurden in Sandarmoch erschossen, einem Waldgebiet in Karelien, nur 580 km von St. Petersburg entfernt. Josef Stalin ließ in seinem Krieg gegen die ukrainische Kultur in den Dreißigern viele herausragende Talente foltern und töten. Diese Generation ukrainischer Dichter*innen, Dramatiker*innen und Schriftsteller*innen, die die Kultur- und Kunstszene in der Ukrainischen Sowjetrepublik in den Zwanzigern zum Aufblühen gebracht hatten und daraufhin vielfach verhaftet und hingerichtet wurden, nennen wir heute die Erschossene Renaissance (ukr. Rozstriljane vidrodžennja). Dieser Begriff wurde vom Literaturkritiker Jurij Lavrynenko geprägt, der auch die maßgebliche Anthologie ihrer Werke zusammenstellte.  

Heute ist meine Fähigkeit zu lesen zurück. Doch ich kann nur noch Gedichte oder Essays lesen. Je kürzer desto besser. 

Ich stehe vor meinem Bücherregal und allen meinen Büchern. 

Ich sehe mir das lyrische Debüt von Victorija Amelina an. Ihr allererster Gedichtband „Zeugnis ablegen“ (ukr. „Svidčennja“) wurde post mortem veröffentlicht. Amelinas Gedichte unterscheiden sich stark von ihren Romanen, aber ich erkenne dieselbe subtile Aufmerksamkeit für Details und die feinen Nuancen der Gefühle. Die Schriftstellerin wird dieses Buch nicht für mich signieren. Sie wurde in Kramatorsk getötet. Eine russische Rakete zielte auf ein vermeintlich äußerst gefährliches Objekt – eine Pizzeria im Stadtzentrum. Zivilist*innen starben, darunter auch die bekannte junge Autorin. Ihre späteren, reiferen Meisterwerke werden wir niemals lesen können. 

Ich schaue mir ein weiteres lyrisches Erstlingswerk an, Gedichte aus der Schießscharte” (ukr. Virši z bijnyci”) einen Gedichtband von Maksym Kryvcov, ein 33 Jahre alter Dichter. Für immer 33. Gefallen im militärischen Einsatz in der Region Charkiw. Er hatte noch die Gelegenheit, sein erstes Buch zu sehen und zu berühren. Mein Exemplar wurde jedoch bereits nach seinem Tod geliefert. Auch Krywzows spätere Meisterwerke werden wir nicht lesen.   

Der Band „Langsamer Mann“ (ukr. Povil′na ljudyna” ) enthält Gedichte von Mykola Leonovyč. Dieser ist nicht nur Dichter, sondern auch ein preisgekrönter Designer. Ein Porträt von Leonovyč ist auf dem Buchumschlag zu sehen. Er gilt seit April 2023 in der Nähe von Awdijiwka als vermisst. Der Gedichtband wurde von seiner Frau herausgegeben und von seinem Verlag veröffentlicht. Ob wir jemals seine späteren Werke lesen und sehen werden können?  

Meine Betrachtung der Texte toter oder vermisster Schriftsteller*innen verdeutlicht am wohl eindringlichsten den Einfluss des Krieges auf die ukrainische Kultur. Bereits seit der russischen Besatzung der Krym im Jahr 2014 werden ukrainische Künstler*innen von den russischen Besatzern entführt, gefoltert und getötet. Der auf der Krym verhaftete Filmregisseur Oleg Sencov verbrachte ab 2014 fünf Jahre in einem russischen Gefängnis. Der Schriftsteller und Journalist Stanislav Asjejev aus dem Donbas war von 2017 bis 2019 in einem Foltergefängnis in Donezk inhaftiert. Das Gelände und die Gebäude des Gefängnisses, in Sowjetzeiten urspünglich als Fabrik für Isoliermaterial erbaut, beherbergte vor 2014 das bekannte Zentrum für zeitgenössische Kunst „Izoljacija“. Heute sind hier Ukrainer*innen, darunter Künstler*innen und Kulturschaffende, eingesperrt. 

2022 kamen neue Namen von jenen hinzu, die die russiche Besatzung und die Kriegshandlungen nicht überlebten. Jurij Kerpatenko aus Cherson war Dirigent eines Sinfonieorchesters. Er wurde in seiner eigenen Wohnung erschossen, nachdem er sich geweigert hatte, ein großes Konzert in der besetzten Stadt Cherson zu Ehren der russischen Besatzer zu dirigieren. Ich frage mich, ob in dem Konzertprogramm auch Werke von Tschaikowsky vorgesehen waren. Oh, die große russische Kultur und ihre tödliche Schönheit! 

Mehr als 120 Künstler*innen starben bisher durch den Krieg – manche als Zivilist*innen, andere als Soldat*innen. Eine genaue Zahl gibt es nicht, aber wir kennen so viele Namen von Gefallenen. Soll ich diese Liste der Märtyrer*innen fortsetzen?  

Viel lieber würde ich einen optimistischen Essay über die dynamische ukrainische Kulturszene und ihre Widerstandsfähigkeit in Kriegszeiten schreiben. Und die Kulturszene in der Ukraine ist in der Tat lebendig und widerstandsfähig. Die Theater sind voll, Premieren ständig ausverkauft. Auch literarische Veranstaltungen, Konzerte und Kunstausstellungen sind sehr beliebt. Sind die Menschen in der Ukraine auf der Suche nach Ablenkung und finden diese in der Kunst und Kultur? Vielleicht. Meiner Meinung nach vermittelt Kultur auch die Fähigkeit, sich wieder enger mit der eigenen ukrainischen Identität zu verbinden. Und gerade in Zeiten des Krieges sucht man nach einer klaren Antwort auf die Frage: Wer bin ich? 

Seit 2022 sind insbesondere auch klassische ukrainische Werke wieder beliebter und wirken fast zeitgenössisch – und das nicht nur wegen der schönen Sprache oder des persönlichen Schreibstils einiger lange vergessener und wiederentdeckter Autor*innen. Klassische Texte, Musik und Kunstwerke können uns auch relevante Modelle für unsere derzeitige Lebenssituation liefern. Denn die Vollinvasion ist nicht der erste Krieg Russlands gegen die Ukraine. Und so kann auch ein Theaterstück aus den 1920er Jahren als wertvolles Vorbild für die Widerstandsfähigkeit der Ukrainer*innen dienen. Ein Roman aus den 1850er Jahren kann ein gutes antikoloniales Argument liefern und selbst ein Gedicht aus den 1790er Jahren gibt im heutigen Alltag in der Ukraine neue Hoffnung und Inspiration. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass unsere Soldaten sogar in der Nähe der Front Bibliotheken einrichten. 

Frühere Generationen ukrainischer Künstler*innen überlebten zwei Weltkriege, Repressionen, ungerechte Verfolgungen, Zwangsmigration und Besatzung. Ihre Erfahrungen sind für unsere heutige Realität inmitten des Krieges relevant. Deshalb ist es wichtig, die Stimmen der toten Dichter*innen zu hören. Ebenso wie die Stimmen unserer zeitgenössischen Autor*innen – ob tot oder lebendig.  

Einer meiner Lieblingsschriftsteller*innen Martin Pollack schreibt über „Kontaminierte Landschaften“. Damit bezeichnet er Orte des Massen- und Völkermords, die verbrecherische autoritäre Regime versuchen zu vertuschen. Nur die Erinnerung stellt ein Heilmittel gegen das Vergessen dieser Verbrechen und deren Orte dar. In Zeiten des Krieges ist jedes ukrainische Bücherregal und dessen Silhouette ein Zeuge der Landschaften der Ukraine – auch der kontaminierten. Die Worte, die Zeilen, die Verse, die Texte, die Erfahrungen, die Namen der Gefallenen, der Lebenden, der Verschwundenen. Erinnerung ist oft so zerbrechlich. Und gleichzeitig so mächtig.  

 

Iryna Slavinska ist eine ukrainische Journalistin, Schriftstellerin und  Radiomoderatorin. Sie ist Mitglied des PEN Ukraine. In ihren Essays im „Book of Air and Alerts“ (ukr. Povitrjana j tryvožna knyžka) beschreibt sie den Alltag in ukrainischen Städten im Krieg. 

 

Ist die Auswanderungsregion Mitteleuropa Geschichte?

Ob in Spitälern, am Bau oder in der Schule: In Mittel- und Osteuropa fehlt es an Fachkräften. Die Antwort auf diese Herausforderung ist gezielte Einwanderung – ein Phänomen, das in diesen EU-Ländern bis vor Kurzem noch unvorstellbar war, wie MALWINA TALIK erklärt.

Im Westen wurde Mittel- und Osteuropa lange Zeit vor allem mit Emigration assoziiert. In der jüngeren Geschichte der Region führten politische Ereignisse wie der ungarische Volksaufstand 1956, der Prager Frühling 1968 und die Ausrufung des Kriegsrechts in Polen 1981 zur Flucht vieler Menschen. Nach dem Ende des Kommunismus sorgten in den 1990er Jahren hohe Arbeitslosigkeit und Inflation für einen erneuten Anstieg der Auswanderung. Der EU-Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten 2004 erleichterte schließlich die Migration enorm. Viele zog es zu besser bezahlten Jobs ins EU-Ausland.

Während die massive Auswanderung den Fachkräftemangel in den westlichen EU-Ländern abschwächte, hinterließ sie einen Braindrain in den Herkunftsländern. Zwischen 2011 und 2020 stieg laut dem Atlas der Demografie, einer interaktiven Datenbank der Europäischen Kommission, der Anteil der im EU-Ausland lebenden Rumän*innen im erwerbsfähigen Alter von 14 % auf 23%. Auch in Bulgarien stieg diese Zahl von 7% auf 11% und in Polen von 4% auf 9%.

Wirtschaftlicher Aufschwung

Mittlerweile gehört die Arbeitslosigkeit in Mitteleuropa zu den niedrigsten in der EU, die Wirtschaft ist stabil und der Wohlstand steigt allmählich. Doch seit Jahren mangelt es spürbar an Fach- und Hilfskräften. Einheimische sind oft nicht mehr bereit, in Jobs zu arbeiten, die deutlich unter ihrem Qualifikationsniveau liegen. Viele Regierungen versuchten zunächst, emigrierte Staatsbürger*innen wieder für ein Leben im eigenen Land zu gewinnen. Mithilfe von Programmen wie »Gyere haza, magyar« (dt. »Komm nach Hause, Ungar*in«) oder »Powroty« (dt. »Rückkehrer*innen«) in Polen sollte die Heimkehr attraktiver gemacht werden. Diese Kampagnen informierten über Anstellungsmöglichkeiten, Formalitäten bei der Rückreise und Anreize für Rückkehrer*innen wie vorübergehende Steuersenkungen.

Einige nutzten diese Angebote und zogen zurück in ihre Herkunftsländer – insbesondere auch nach dem Brexit und während der COVID-19-Pandemie. Doch die Zahl der Heimkehrer*innen reicht für die Bedürfnisse der mittel- und osteuropäischen Wirtschaften bei weitem nicht aus. So benötigt Bulgarien mehr als 269.000 zusätzliche Arbeitskräfte. Das entspricht laut Vladislava Gubalova vom slowakischen Think Tank GLOBSEC etwa 9 % der derzeitigen Erwerbsbevölkerung.

Auch der Krieg in der Ukraine führte zu Veränderungen auf den Arbeitsmärkten. Infolge der russischen Aggression im Osten des Landes im Jahr 2014 kamen zahlreiche Ukrainer*innen in ihre EU-Nachbarländer. In Polen erhielten viele eine Arbeitserlaubnis und wurden wesentlicher Bestandteil der boomenden polnischen Wirtschaft. Ungarn zeigte sich ebenfalls interessiert an ukrainischen Arbeitskräften. Die ungarische Fluggesellschaft WizzAir betrieb laut dem ungarischen Forscher Ferenc Németh kurz vor Beginn der Vollinvasion sogar Direktflüge zu touristisch weniger attraktiven Zielen wie Saporischschja. Mit der Eskalation des Krieges im Jahr 2022 kehrten jedoch die meisten ukrainischen Männer zurück in ihre Heimat, was den Fachkräftemangel weiter verschärfte.

Mitteleuropa blickt nach Osten

Ersatz für die fehlenden Arbeitskräfte suchen die Länder Mitteleuropas mittlerweile weit über die Grenzen Europas hinweg. Immer mehr Migrant*innen aus Nicht-EU-Ländern ziehen in die Region. Laut dem Polnischen Statistischen Hauptamt stellten Ausländer*innen im Jahr 2023 rund 6,6 % aller Arbeitskräfte im Land. Die meisten stammen weiterhin aus den Nachbarstaaten Ukraine und Belarus, zuletzt aber vermehrt auch aus Indien, Kolumbien, Nepal, den Philippinen und Usbekistan. Die Anzahl der neuen Arbeitsgenehmigungen für Ausländer*innen aus Asien und Südamerika verfünffachte sich in Polen zuletzt, von 55.000 im Jahr 2019 auf 275.000 im Jahr 2023. Das bestätigt der Bericht »Migration 2.0. Poland in the Global Fight for Talent from Asia and Latin America« der Universität Warschau und der auf die Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer*innen spezialisierten EWL Group.

Als größte Wirtschaft der Region zieht Polen besonders viele Arbeitskräfte an, doch dieser Migrationstrend lässt sich in ganz Mittel- und Osteuropa beobachten. Für Drittstaatsangehörige sind die Länder nicht nur aufgrund ihrer EU-Mitgliedschaft und der höheren Lebensstandards, sondern auch aus finanzieller Sicht attraktiv – und das obwohl die Gehälter in Polen, der Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien laut Eurostat im EU-Vergleich zu den niedrigsten gehören. Trotz allem ist das monatliche Nettogehalt vieler Ausländer*innen in Polen laut »Migration 2.0« drei- bis viermal höher als in ihren Herkunftsländern.

Einwanderung abseits des Rampenlichts

Während mit der stillen Zustimmung der Regierungen der Fachkräftemangel zunehmend über Einwanderung gedeckt wird, sind viele Länder Mittel- und Osteuropas in der Öffentlichkeit für ihre migrationskritische oder gar einwanderungsfeindliche Rhetorik bekannt. So wird von jungen männlichen Geflüchteten oft behauptet, dass sie Wirtschaftsmigranten und keine »echten« Geflüchteten sein könnten. Ironischerweise ist genau diese Personengruppe dringend erforderlich für die boomenden Volkswirtschaften der Region. Laut »Migration 2.0« machen männliche Arbeitskräfte 75 % der neuen ausländischen Beschäftigten in Polen aus. Diese sind vor allem in den Bereichen Industrie, Dienstleistungen und Hotellerie tätig, 36% arbeiten auch als Handwerker. Ungarn, das sich öffentlich ebenfalls lautstark gegen Immigration ausspricht, vereinfachte zuletzt das Einwanderungsverfahren für qualifizierte Arbeiter*innen aus 15 Ländern, darunter Indonesien, die Philippinen, Kirgistan, Russland und Belarus. In Ungarn werden ausländische Arbeitskräfte insbesondere in chinesischen Batterie- und deutschen Autofabriken sowie im Bereich des Bauwesens eingesetzt.

Da der hohe Bedarf an Arbeitskräften und die zusätzlichen Visaverfahren bei Drittstaatsangehörigen große Herausforderungen für die Konsulate der mitteleuropäischen Staaten im Ausland bedeuten, wird die damit verbundene Arbeit oft an externe Firmen delegiert. Diese begleiten den meist drei bis sechs Monate dauernden Prozess von der Beantragung der Arbeitserlaubnis über die notwendigen Visaverfahren bis hin zur Einstellung der Migrant*innen in Europa. Die Verfahren sind kostspielig und können ein Vielfaches der Monatseinkünfte der Antragsteller*innen in ihren Herkunftsländern ausmachen. Es ergeben sich zudem häufig Umstände, die Korruption ermöglichen oder erleichtern. So auch im Fall eines Visaskandals, der 2023 Polen erschütterte und bei dem auch Mitarbeiter*innen des polnischen Außenministeriums ins Visier der Behörden gerieten.

Wohin führt die neue Wende?

Fast die Hälfte der Migrant*innen aus Asien und Südamerika plant laut »Migration 2.0« länger als zwei Jahre in Polen zu bleiben. Für die Zukunft wird deswegen eine nachhaltige Integrationspolitik für Migrant*innen und ihre Familien benötigt. Das vermeidet die Bildung paralleler Gesellschaften und schützt Migrant*innen vor Diskriminierung und Rassismus im Alltag.

Wir können hierbei von jenen eingewanderten Menschen lernen, die schon seit Jahrzehnten in der Region leben. Bei den regionalen Wahlen im April 2024 wurde Cao Hong Vinh als erste polnisch-vietnamesische Abgeordnete gewählt. Vietnames*innen leben seit der Zeit des Kommunismus in Polen, Tschechien und Ungarn. Vinh setzt sich aktiv für mehr interkulturelle Assistent*innen in Schulen ein, die in Zeiten steigender Einwanderung von großer Bedeutung sind. Neben einer Verbesserung der arbeitsrechtlichen Lage, der Integrationsangebote und des Zugangs zu Sprachkursen muss sich aber auch die oft von Vorurteilen und Diskriminierung geprägte Einstellung in der Aufnahmegesellschaft verändern.

Viele Mittel- und Osteuropäer*innen haben selbst Erfahrung mit Migration und pendeln mittlerweile zwischen ihrer Heimat und ihrem neuen Wohnort oder haben internationale Familien. Sie kennen die Herausforderungen, die Auswanderung und das Leben in einem fremden Land mit sich bringen, aus erster Hand. Auch sie können daher eine zentrale Rolle bei der Entwicklung einer positiven Einstellung gegenüber ausländischen Fachkräften spielen, indem sie durch das Teilen ihrer Erfahrungen und anhand ihres eigenen Beispiels für die Situation von Migrant*innen sensibilisieren.

Malwina Talik ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am IDM sowie freiberufliche Forscherin und Übersetzerin. Davor war sie als Expertin für wissenschaftliche Zusammenarbeit bei der Polnischen Akademie der Wissenschaften / Wien und Referentin für Öffentlichkeitsarbeit bei der Polnischen Botschaft ebenso in Wien tätig.

IDM Short Insights 42: Poland and Hungary. Friends no more?

Five things you need to know about the current state of Polish-Hungarian relations!  

“Pole, Hungarian, brothers be?” This old saying has been put to the test recently, as relations between the Hungarian and Polish governments continue to deteriorate. The latest flashpoint: Viktor Orbán granting political asylum to Poland’s former deputy justice minister, who is wanted on a European Arrest Warrant for serious corruption cases. 

Our colleagues, Malwina Talik and Peter Techet, answer five key questions about this case and the ongoing cooling of Hungarian-Polish relations. 

Transcript:

“Pole, Hungarian brothers be”, that’s a saying popular in both countries, which emphasizes a strong bond between them. But the relation between Poland and Hungary has turned into a family drama in recent time.

What happened?

Marcin Romanowski, who served as a deputy justice minister under the Law and Justice government, was about to be arrested. The reason? Eleven charges against him, including fraud and an attempted fraud of about 39 million euro, which were to be used for support of crime victims. But Marcin Romanowski disappeared without a trace, which is why the Polish authorities issued a European Arrest Warrant for him. Then, unexpectedly, he appeared in Hungary, where he was warmly welcomed by Viktor Orbán.

Why would Orbán do it?

Orbán is friend of Poland, but I would say only if the political allies had the power. Orbán tried to help his allies to rescue from Poland. But it’s not the first case Orbán is doing this way, because in 2019 the Hungarian authorities had Nikolai Gruevski, a former minister-president, prime minister of North Macedonia, to rescue from his own country. And now he’s living in Budapest, and he was also charged for corruption issues in North Macedonia.

Can an EU country do that?

Yes, it’s not so usual, but we can recall the case of Belgium. Because Belgium refused to extradite the former president of Catalonia, Puigdemont, to Spain, claiming that the process against him was politically motivated in Spain.

How did Poland respond?

Polish authorities consider it a hostile act by Budapest. The Polish ambassador in Hungary was summoned back to Warsaw for consultations, which in diplomatic language means a serious cooling of relations. And the Hungarian ambassador in Poland is considered persona non grata. He was also disinvited from the gala starting the Polish presidency of the EU Council. This is quite a telling and symbolic gesture because Hungary has just concluded its own presidency. And this is just one example for the growing rift between Poland and Hungary.

Why are Poland and Hungary are drifting apart?

Poland is among the most vocal supporters of Ukraine and objects vehemently to the Russian war of aggression and Russian politics. Hungary is pursuing very pro-Russian politics, that’s why even during the former Polish government, the relationship between Poland and Hungary deteriorated, because even the party of Kaczyński is quite anti-Russian and pro-Ukrainian. So I would say the issue with Ukraine would always be a problematic issue between Orbán and any Polish government. Another reason is the approach to the EU. Poland has under the current government a very pro-European stance and has the ambition of becoming an even more important player in EU affairs. And Donald Tusk poses a big threat for Orbán, because the case of Tusk demonstrates how it is possible to transform an illiberal democracy into a liberal one, even sometimes with problematic methods. And at the same time the biggest opponent of Viktor Orbán nowadays in Hungary, Péter Magyar, is sitting in the same party, the European People’s Party, like Donald Tusk. So we’ll see how the situation will evolve. Orbán has promised that he can grant asylum to even more former Polish politicians. And this could drive a further wedge between the two countries.

 

Das Baltikum in Alarmbereitschaft

Die baltischen Länder stehen seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine im Fokus der Sicherheitsfragen der NATO. Auf welche Verteidigungsmaßnahmen Estland, Lettland und Litauen setzen und welche Rolle dabei den Bürger*innen zukommt, erklärt ALEKSANDRA KUCZYŃSKA-ZONIK. 

Eine über 1.600 Kilometer lange Grenze trennt die baltischen Staaten von Russland, Belarus und der russischen Exklave Kaliningrad. Bei einem möglichen Konflikt zwischen Russland und der NATO könnten Estland, Lettland und Litauen daher an vorderster Front stehen. Die hybride Kriegsführung Russlands hat das Baltikum dagegen längst erreicht. Durch wirtschaftliche und energiepolitische Maßnahmen, illegale Migration sowie Cyberangriffe, Desinformation und Propaganda versucht Russland in den baltischen Staaten Einfluss zu nehmen und die nationale Sicherheit zu untergraben. Zwar haben Litauen, Lettland und Estland 2022 traditionelle russische Medien verboten, doch über die sozialen Medien verbreiten sich russische Narrative und Interessen weiterhin.  

Seine Provokationen und Destabilisierungsversuche weitet Russland auch auf die Ostsee aus. Im Frühjahr 2024 alarmierte das Land die NATO mit dem mittlerweile wieder zurückgezogenen Vorhaben, die Grenzen in der Ostsee neu ziehen zu wollen. Zudem nutzt Russland die sogenannte „Schattenflotte“, Schiffe ohne russische Flagge, um sanktionierte Waren und insbesondere Öl zu schmuggeln.  

Eine besondere Rolle spielt im Baltikum auch die russische Minderheit, die in Lettland und Estland etwa 30 % der Bevölkerung ausmacht. Viele Mitglieder dieser Gruppe fühlen sich kulturell nach wie vor stark mit Russland verbunden und leben oft in der Nähe der Grenze in überwiegend russischsprachigen Gemeinschaften. Integrationsprobleme führen nicht selten zu einem gewissen Misstrauen der baltischen Bevölkerung gegenüber der ethnisch russischen Minderheit, was zu gesellschaftlichen Spannungen beitragen kann. 

Aktive Beteiligung der Bürger*innen 

Aufgrund ihrer unmittelbaren Nähe zu Russland, der geringen Bevölkerungsgröße und ihres kleinen Militärs gelten die baltischen Staaten als schwer zu verteidigen. Laut Angaben der jeweiligen Verteidigungsministerien umfassen die litauischen Landstreitkräfte rund 11.500, die lettische Armee 7.300 und die estnische Armee 4.200 aktive bzw. Berufssoldat*innen. Hinzu kommen jeweils Reservist*innen, Wehrpflichtige und Freiwillige. 

Angesichts der rein militärischen Übermacht Russlands setzt das Baltikum auf ein Modell der umfassenden Gesamtverteidigung, das in Finnland bereits gut entwickelt ist. Neben dem Ausbau militärischer Fähigkeiten umfasst dieses Modell auch nichtmilitärische Verteidigungsaktivitäten. Strategische Kommunikation, Kooperationen zwischen öffentlichem und privatem Sektor und die Dezentralisierung von Verantwortlichkeiten sollen das Funktionieren wichtiger Institutionen auch in Kriegszeiten gewährleisten. Bürgerbewusstsein, patriotische Werte und eine verantwortungsvolle Haltung der Gesellschaft gegenüber dem Staat sollen gefördert werden und so die Widerstandsfähigkeit und Bereitschaft der Bürger*innen zur Verteidigung von sich selbst, ihren Angehörigen und des Landes sicherstellen. All das gilt als Voraussetzung für die gesamtgesellschaftliche Bewältigung von Krisen- und Kriegssituationen. 

So betonen die baltischen Länder die Notwendigkeit militärischer Berufsausbildungsprogramme für Jugendliche, um diese auf eine mögliche Karriere in den Streitkräften oder in anderen dem Militär nahen Bereichen vorzubereiten. In Lettland und Estland wurde Verteidigung als neues Schulfach in den Lehrplan aufgenommen, das Erlernen von Russisch als Zweitsprache wird in litauischen und lettischen Schulen dagegen immer seltener angeboten. Über 5.000 als „Elfen” bekannte Freiwillige in Litauen und die im ganzen Baltikum tätige NGO Debunk EU betreiben Faktenchecks und bekämpfen russische Propaganda durch das gezielte Aufdecken von Desinformation. Die Verwendung von Kriegssymbolen ist verboten und Veranstaltungen und Proteste in der Nähe von Denkmälern der Sowjetarmee wurden stark eingeschränkt.  

NATO-Präsenz und europäische Kooperation  

Trotz Einbindung der gesamten Bevölkerung in die nationalen Verteidigungsmaßnahmen, bleibt der wichtigste Garant für die Sicherheit im Baltikum die NATO-Mitgliedschaft und die Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten. Derzeit sind insgesamt rund 10.000 NATO-Soldat*innen in den baltischen Staaten stationiert, die meisten davon in Lettland. Seit Jahren erfüllt das Baltikum das auf dem NATO-Gipfel 2014 in Wales festgelegte Ziel, mindestens 2% des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben. Im Jahr 2024 beliefen sich die Verteidigungsausgaben in Litauen auf 2,7%, in Lettland auf 2,4% und in Estland sogar auf 3,2% des BIP.  

Eine wichtige Rolle bei der Koordinierung der Zusammenarbeit der baltischen Staaten untereinander – auch zu den Themen Sicherheit und Verteidigung – spielen die in den Neunzigern gegründete Baltische Versammlung und der Baltische Ministerrat. Es bestehen auch bedeutende militärische Verbände wie der trinationale Marineverband Baltic Naval Squadron (BALTRON) und die Baltische Verteidigungsakademie (BALTDEFCOL) zur Ausbildung von Militärpersonal. Polen ist ein wichtiger Partner bei der Stärkung der regionalen Sicherheit und beteiligt sich aktiv an der NATO-Mission Baltic Air Policing, einer Überwachung des NATO-Luftraums. 

Deutschland ist einer der engsten militärischen Verbündeten Litauens. Derzeit ist ein NATO-Bataillon unter deutscher Führung im Rahmen der NATO enhanced Forward Presence (eFP) im litauischen Rukla stationiert. Ein potenzieller Aggressor soll so abgeschreckt und das litauische Verteidigungspotenzial gestärkt werden. Über 1.000 der rund 1.600 Soldat*innen in Rukla sind Angehörige der deutschen Bundeswehr und bis 2028 soll die Einheit um 5.000 weitere Soldat*innen aufgestockt werden. Aus einer Umfrage des litauischen Meinungsforschungsinstituts „Spinter Research” aus dem Jahr 2023 geht hervor, dass 82% der litauischen Bevölkerung die Stationierung der deutschen Brigade befürworten. In den letzten Jahren erwarb die litauische Armee außerdem Ausrüstung, darunter Militärfahrzeuge und Panzerhaubitzen, im Wert von fast einer Milliarde Euro aus Deutschland. Im Jahr 2022 eröffneten die deutschen Rüstungsunternehmen Rheinmetall und KNDS Deutschland (vormals Krauss-Maffei Wegmann) ein Servicezentrum für militärische Ausrüstung im litauischen Jonava. 

Unterstützung für die Ukraine 

Im Jahr 2024 haben Estland, Lettland und Litauen die Initiative „Baltische Verteidigungslinie”, die auch Teil der NATO-Verteidigungspläne ist, ins Leben gerufen. Dabei soll die Grenze zu Russland, Belarus und Kaliningrad gegen eine mögliche Invasion geschützt und eine schnelle militärische Operation eines potenziellen Gegners blockiert oder zumindest verzögert werden. Lettland plant im Rahmen dieser Initiative das Grenzgebiet durch die Umwandlung von Entwässerungsgräben zu Panzergräben und den Bau neuer Panzergräben besser zu sichern. Darüber hinaus sollen speziell ausgewiesene Lager für Sprengstoff, Minen und technische Ausrüstung errichtet werden. Estland will mehr als 400 unterirdische Bunker bauen und der litauische Aktionsplan sieht unter anderem neue militärische Befestigungen sowie die Sicherung von Straßen und Brücken vor.  

Gleichzeitig soll die Unterstützung für die Ukraine ausgebaut werden. In Lettland wurde in Zusammenarbeit mit dem Vereinigten Königreich im Februar 2024 die sogenannte „Drohnen-Koalition” gegründet. Das Projekt zielt darauf ab, mithilfe innovativer Technologien eine stabile Versorgung der Ukraine mit Drohnen und eine sichere Lieferkette für Bauteile zu gewährleisten sowie die Drohnenherstellung im Westen zu unterstützen. Estland erklärte, dass es der Ukraine zwischen 2024 und 2027 jährlich mindestens 0,25% des BIP für militärische Zwecke zur Verfügung stellen wird. Zusätzlich leisten Estland, Lettland und Litauen auch im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU finanzielle Unterstützung an die Länder der Östlichen Partnerschaft (Ukraine, Georgien und Moldau) und tragen so zu deren Integration in den euro-atlantischen Raum bei.  

Seit Beginn der Vollinvasion Russlands in der Ukraine hat das Baltikum seine verteidigungspolitischen und militärischen Maßnahmen zur Vorbereitung auf Kriegssituationen intensiviert. Dabei lernen die baltischen Staaten auch aus den Erfahrungen der Ukraine im Krieg gegen Russland. Eine erfolgreiche nationale Verteidigungspolitik besteht nicht nur im Aufbau einer starken Armee. Maßnahmen wie der Bau von Schutzräumen, Frühwarnsysteme, die Sicherstellung der Stromversorgung, gute Erste-Hilfe-Kenntnisse in der Bevölkerung, Bildungsmaßnahmen und die Förderung gesellschaftlicher Resilienz gegenüber Desinformation sind ebenfalls essenziell. Denn am Ende ist der Erfolg, sich bei militärischen Angriffen zu schützen und das Land wirksam zu verteidigen, abhängig von sozialem Zusammenhalt, Widerstandsfähigkeit und der Verteidigungsbereitschaft und -fähigkeit der Bürger*innen und des Staates als Gemeinschaft zu handeln. 

 

Aleksandra Kuczyńska-Zonik ist Leiterin der Abteilung für das Baltikum am “Institute of Central Europe” und Assistenzprofessorin an der Katholischen Universität Johannes Paul II. in Lublin (Polen). Sie ist Politikwissenschaftlerin und Archäologin. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte umfassen die Politik und Sicherheit in Mittel- und Osteuropa sowie im postsowjetischen Raum, die russische Diaspora und das sowjetische Erbe.