COVID-19 und vorbestehende Grunderkrankungen der Demokratie

Wie gut funktioniert die Demokratie im Notzustand? Welchen Einfluss hat die Pandemie auf Politik und Rechtsstaatlichkeit in Europa? Der Verfassungsjurist Arkadiusz Radwan wirft einen Blick in das PatientInnenblatt unserer Gesellschaft und warnt vor gefährlichen Grunderkrankungen.

Der Vormarsch der Pandemie durch Europa hat Vieles auf den Prüfstand gebracht: nationales und europäisches Krisenmanagement, die Belastbarkeit unserer Gesundheitssysteme, Solidarität zwischen den Generationen, globale Geschäftsmodelle und Lieferketten, das Dogma der Kapitalverkehrsfreiheit, das Primat des Konsumdenkens und nicht zuletzt auch Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Doch hat die Pandemie etwas Neues über die Verfasstheit unserer Gesellschaft und unsere konstitutionelle Ordnung enthüllt? Oder hat sie nur bestehendes Wissen bestätigt? Viele der COVID-bedingten verfassungsrechtlichen Probleme sind überwiegend prozedural-technischer Natur, beispielsweise die reine Briefwahl, die Arbeitsweise der Parlamente in Zeiten von Isolation und Social Distancing, Gerichtstermine via Video usw. Andere Probleme sind teils juristischer, teils politisch-philosophischer Natur: Wie kann der durch den Lockdown entstandene Schaden ersetzt werden? Wie sieht eine gerechte Verteilung der Kosten aus? Die letzte Frage hat auch eine klare europäische Dimension und wirft erneut das Thema der Vergemeinschaftung der Haftung für Staatsanleihen auf.

Notzustand als politische Waffe

Eine Naturkatastrophe wie die Pandemie versetzt unsere Prioritäten und ändert, wie wir Güter gegeneinander abwägen: Sicherheit und Schutz öffentlicher Gesundheit mögen Maßnahmen rechtfertigen, die deutlich weiter in Grundfreiheiten, wie etwa Bewegungs- und Versammlungsfreiheit, eingreifen, als es unter anderen Umständen denkbar wäre. Legislative und administrative Handlungen werden zusätzlich durch das sogenannte Action Bias intensiviert: Effizientes Krisenmanagement erfordert, dass die EntscheidungsträgerInnen über ausreichende Handlungsspielräume verfügen, die schnelles und flexibles Agieren ermöglichen. In den meisten Fällen ist diese Zielsetzung mit Beachtung herkömmlicher Prozeduren und unter Befolgung demokratischer Meinungsbildungsprozesse aber kaum realisierbar. Der Weg zur Legalisierung von Shortcuts und Bypässen der rechtsstaatlichen Standardverfahren führt üblicherweise durch die Verhängung eines im nationalen Recht vorgesehenen Notstands, beispielsweise eines Ausnahme-, Katastrophen-, oder Epidemiezustandes. Weltweit haben sich ungefähr 100 Staaten bzw. Bundesstaaten oder autonome Regionen im Zuge der Corona-Krise für die Verhängung eines derartigen Zustandes entschieden. Ein Notstand, wie rechtsvergleichend heterogen diese Kategorie auch sein mag, beinhaltet das Recht der Regierung, manche Freiheitsrechte der BürgerInnen vorübergehend einzuschränken oder auszusetzen. Auch die Gewaltenteilung wird geschwächt bzw. teilweise aufgehoben. Da all dies die Macht der Exekutive festigt, liegt die Vermutung nahe, autoritäre Regierungen wären schneller dazu geneigt, States of Emergency einzuführen. Diese Vermutung wird nur teilweise durch komparativ-empirische Untersuchungen belegt: Zwar verhängten Autokratien durchschnittlich schneller und bei einer deutlich niedrigeren Zahl bestätigter COVID-Fälle einen Notzustand, doch im Vergleich zu Demokratien entschieden sie sich insgesamt seltener dafür (Bjørnskov, Voigt). Dies ist dadurch zu erklären, dass der Machtzuwachs der Regierung in Autokratien durch Notzustände geringer ausfällt als in Demokratien. Diverse Variationen von States of Emergency wurden zu Narrativen, die in vielen Ländern unterschiedlich von der Regierung oder Opposition genutzt wurden, je nachdem, wer sich durch die Verhängung des Notzustands begünstigt oder benachteiligt sah. So geriet etwa Ungarns Premierminister Viktor Orbán, der eine rasche Verhängung des Ausnahmezustands herbeigeführt hat, in die Kritik der Opposition sowie des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte mit dem Vorwurf, er nutze die Pandemie dafür aus, seine Macht zu konsolidieren. Eine historisch begründete Skepsis wurde auch in Frankreich gegen die Erteilung von außergewöhnlichen Kompetenzen (Pouvoirs exceptionnels) nach Art. 16 der französischen Verfassung für den Präsidenten geäußert. In Polen war es dagegen nicht die Regierung, sondern die Opposition, die die Verhängung des Katastrophenzustandes forderte, um dadurch die Durchführung der verfassungsrechtlich dubiosen Präsidentschaftswahl zu unterbinden.

Wahlen im Schatten der Pandemie

Besonderes Augenmerk gebührt der Wirkung der Pandemie auf Wahlen, da anhand dieser etwaige COVID-Anfälligkeiten der Demokratie am besten illustriert werden können. Die Kommunalwahlen in Bayern wurden in der Stichwahlrunde am 29. März zum ersten Mal als reine Briefwahl organisiert. Ein Schulterschluss aller Fraktionen trotz kurzfristiger Neugestaltung der Regeln sicherte dabei das Vertrauen der WählerInnen und verzeichnete eine bemerkenswerte Wahlbeteiligung. Die local elections im Vereinigten Königreich wurden weitgehend einvernehmlich vom 7. Mai 2020 auf den 6. Mai 2021 verschoben. Die erste Runde der élections municipales in Frankreich (15. März) wurde trotz bestehender Infektionsgefahr mit Akzeptanz aller Parteien durchgeführt, die Stichwahl musste aber aufgrund der verschärften Lage auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Diese Beispiele belegen, dass jede Lösung denkbar ist, wenn die überwiegende Mehrheit der politischen AkteurInnen alle Meinungen berücksichtigt, die Vorgehensweise gemeinsam bestimmt und dabei auf das Vertrauen der BürgerInnen in demokratische Vorgänge geachtet wird. Gegenbeispiele umfassen Polen und Serbien, wo die Pandemie auf unterschiedliche Art und Weise den Wahlprozess beeinträchtigt hat.

In Polen fiel der Ausbruch der Pandemie zeitlich mit der Präsidentschaftswahl zusammen. Die regierende PiS-Partei hatte auf den ursprünglich für den 10. Mai festgelegten Wahltermin beharrt. Die Opposition erklärte sich sehr skeptisch und forderte die Verhängung des Katastrophenzustandes, wodurch die Wahlen automatisch verschoben werden müssten. Über Wochen hinweg dominierte der Streit um Wahltermine die öffentliche Debatte. Die Glaubwürdigkeit der Regierung, etwa zu offiziellen Angaben über bestätigte COVID-19-Fälle, war erschüttert. Meinungsumfragen sahen die polnische Regierung im EU-weiten Vergleich auf dem zweitniedrigsten Rang des Vertrauens-Rankings. Zudem drohte Polen eine jahrelange Demokratiekrise: Falls der Amtsinhaber Andrzej Duda bei rekordniedriger Wahlbeteiligung wiedergewählt worden wäre, hätten hunderttausende WählerInnen die Wahl vor dem Obersten Gericht angefochten. Das Abrutschen Polens ins Chaos konnte schließlich verhindert werden, indem der Stellvertretende Premierminister Jarosław Gowin sein Amt opferte und politische Verluste riskierte. Die Wahlen wurden vom Mai auf Juni verschoben und Polen verzeichnete eine der höchsten Wahlbeteiligungen der letzten 25 Jahre. Was als wahres Fest der Demokratie schien, wurde jedoch durch den ausgeprägten Geist des politischen Tribalismus verdorben. Ähnlich wie in Polen hat sich die Politik in Serbien eher nach politischem Kalkül als nach der Gesundheitspolitik orientiert. Die mögliche Wirkung der Pandemie auf das Verhalten der WählerInnen und die Wahlchancen der Parteien fungierten dabei als wichtigster Wegweiser für die opportunistisch agierenden MachthaberInnen.

Immunität der Demokratie

Kann Demokratie gegen das Virus immun werden? Meine Antwort darauf ähnelt jener der Medizin: Entscheidend sind die vorbestehenden Grunderkrankungen. Dazu zähle ich die politische Polarisierung im Zeitalter der digitalen Demokratie, die Schwäche der Institutionen sowie das niedrige Niveau des sozialen Vertrauens. Die Pandemie hat gezeigt: VertreterInnen gegenteiliger Positionen sehen sich in ihren vorpandemischen Vorstellungen bestätigt und dazu berufen, sie noch stärker zu artikulieren. Während die einen zu mehr Wirtschaftspatriotismus aufrufen, liefern die anderen ein Plädoyer für mehr übernationale Koordinierung. »Nur Nationalstaat« vs. »nur gemeinsames Europa« lauten die Antworten auf die Frage, wer erfolgreich aus der Krise hervorgeht. COVID-19 hat uns nicht verändert, wir sind genauso, wie wir schon zuvor waren, bloß krasser und intensiver. Die Pandemie ist in der Lage, die steigende politische und gesellschaftliche Polarisierung noch weiter voranzutreiben. In ihr sehe ich somit die gegenwärtig gefährlichste Grunderkrankung der Demokratie. Ich fürchte, dass wir früher einen Impfstoff gegen COVID-19 entwickeln, als eine konstitutionell-institutionelle Prophylaxe gegen das Virus der Polarisierung anbieten zu können.

 

Prof. Dr. Arkadiusz Radwan ist Direktor des Wissenschaftlichen Zentrums der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Wien und Professor an der Vytautas-Magnus-Universität Kaunas sowie an der Universität Warschau. Radwan ist Gründer des Allerhand Institute of Advanced Legal Studies in Krakau. Zudem ist er Mitglied des Internationalen Rates des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM).