Customized Gods: Die Wiederverzauberung Mittelosteuropas

Von der Kirchenbank ins Yoga-Studio: Der Historiker und Anthropologe ALESSANDRO TESTA erforscht die vielen Gesichter moderner Religiosität. Wie säkular ist Mittelosteuropa heute tatsächlich? Wo suchen die Menschen nach Sinn? Einblicke in den Trend zum Glauben nach Maß.

Eines hatten die Gesellschaften Mittelosteuropas in den Jahren vor 1989 gemeinsam: den Mangel an religiösen Ausdrucksformen im öffentlichen Raum. Ganz im Gegensatz zum Beginn des Jahrhunderts, als noch häufig religiöse Zeremonien stattfanden und die Kirchen voll waren. Die Gründe für diese Veränderungen lagen in der generellen Säkularisierung sowie im Versuch der kommunistischen Regime den Staatsatheismus durchzusetzen. Dabei kam es über die Jahrzehnte zu einer konstruierten Säkularisierung. Der staatliche Atheismus war allerdings nie eine »spontane«, volksnahe Umsetzung der von Karl Marx oder Vladimir Lenin postulierten Thesen. Denn tief im Inneren blieben die Massen auch unter der kommunistischen Führung überwiegend religiös, insbesondere in Ländern wie Polen, Ungarn oder Jugoslawien.

Religiöse Wiederbelebung?

Heute beobachten wir in der Region eine große Vielfalt an religiösen und spirituellen Praktiken: Dazu zählen etwa Formen der Volksmagie im ländlichen Ostböhmen, die Hingabe der Prager*innen zum Wiederaufbau der katholischen Mariensäule inmitten der Altstadt, oder die heidnische Wiederbelebung in Ungarn und ihre Nähe zum Neonationalismus. In der Slowakei und in Tschechien finden der Buddhismus und Yoga-Praktiken viel Anklang, besonders unter Unternehmer*innen. Und in Polen ist der Katholizismus nach wie vor sehr präsent, was zu Protesten gegen den kirchlichen Einfluss auf die Politik führt. Seit der Wende werden in Rumänien vermehrt orthodoxe Tempel gebaut, während in Tschechien sogenannte »Pseudoreligionen« oder »Parodiereligionen« aufkommen, darunter die »Kirche des Bieres« oder der »Pastafarianismus«. Manchmal entstehen auch »erfundene Religionen«, die auf populärkulturellen Massenprodukten wie Filmen basieren. Dazu zählt der »Jediismus« und der »Matrixismus«, die beide besonders in Tschechien erfolgreich sind.

Doch was steckt hinter dieser religiösen Wiederbelebung in post-sozialistischen Ländern? Welche Formen der Spiritualität haben sich seit 1989 herausgebildet? Diese »postsozialistischen Religionsfragen« beschäftigen die Forschung seit mehr als zwei Jahrzehnten. Zwischen 2020 und 2022 leitete ich ein ERC CZ-Forschungsprojekt, das die Entstehung und das Wiederauftauchen inoffizieller und alternativer religiöser Phänomene in den postkommunistischen Ländern Mittelosteuropas untersuchte. Dabei legten wir den Fokus auf interdisziplinäre Methoden und neue Ansätze. Mein Team und ich lernten die Menschen hinter der »Wiederverzauberung« kennen, beobachteten ihre Rituale und sprachen mit ihnen über ihre Überzeugungen. So habe ich zum Beispiel eine Reihe älterer Frauen und Männer interviewt, die an der Prager Mariensäule beteten, und traf mehrere junge Männer, die in Hlinsko die Masopust-Prozession (Fasching) organisierten.

Maßgeschneiderter Glaube

Einige der genannten Beispiele deuten auf eine spirituelle Wiederbelebung hin. Andere wiederum auf einen allgemeinen Trend zur Abnahme der Religiosität in post-säkularen Gesellschaften. Doch unabhängig davon, aus welchem Blickwinkel wir diese Phänomene betrachten, lassen sie einen tiefgreifenden Wandel in Mittelosteuropa nach dem Fall des Kommunismus erkennen. Die Religionsfreiheit, die Demokratie und die darauffolgende neoliberale Politik haben das religiöse Leben beeinflusst. Gleichzeitig führten die digitale Revolution und die Konsumkultur zur Erosion traditioneller, gemeinschaftsorientierter, kirchlicher Formen des Glaubens. Infolgedessen beschleunigte sich die Individualisierung der Religion, zum Beispiel durch Formen ritueller Kreativität, die von den Praktizierenden »maßgeschneidert« werden, um ihre eigenen religiösen Bedürfnisse außerhalb eines dogmatischen oder gemeinschaftlichen Rahmens zu befriedigen. Symptomatisch dafür ist der Trend zum Neo-Schamanismus und Neo-Heidentum. Die Individualisierung ist vielleicht der sichtbarste und am tiefsten verwurzelte Aspekt im religiösen Leben des gesamten Westens.

Religiös, aber anders

Jahrzehntelang postulierte die Religionssoziologie und -anthropologie Max Webers Theorie der »Entzauberung der Welt«, also den Niedergang der Religion in der modernen Welt. Doch im Gegenteil dazu beobachten wir in Industriegesellschaften in den letzten Jahrzehnten eher einen komplexen, vielschichtigen Wandel der religiösen Gefühle, Überzeugungen und Praktiken. Es entstanden mehrere Theorien, darunter die der »Wiederverzauberung«, um die steigende Bedeutung von Religion in Europa zu erklären. Statt auf der Idee der Säkularisierung zu beharren, ziehen es viele Wissenschaftler*innen vor, den gegenwärtigen Zeitgeist in der Welt als eine globalisierte »Postsäkularität« zu charakterisieren: eine Zeit, die nicht weniger religiös, sondern vielmehr anders religiös ist.

»Wiederverzauberung« scheint ein geeignetes Konzept zu sein, um die Veränderungsprozesse seit 1989 zu charakterisieren. Es verweist auf die kulturelle Praktik, ein Objekt, eine Handlung, eine Darstellung oder eine Beziehung mit einer magischen, spirituellen, transzendenten oder unheimlichen Dimension aufzuladen. Es scheint, dass immer mehr jüngere Mittelosteuropäer*innen einen Drang nach religiöser Besänftigung verspüren, nach mehr als nur materiellen existenziellen Antworten und nach Selbstbesinnung. Manchmal spielen sie auch nur mit religiösen oder religionsähnlichen Symbolen, denn die Macht der Religion, der Magie und anderer verzauberter Wirklichkeiten findet sich heute nicht nur in den üblichen Ritualen oder Kontexten, sondern hat sich auch auf Gegenstände, Gefühle und Lebensstile sowie auf die Popkultur übertragen. Viele greifen heute auf diese wiederverzauberten Darstellungen und Praktiken zurück, weil diese Phänomene sinnstiftend sind. Sie sind auf dem »religiösen Markt« erhältlich und leicht auf die Bedürfnisse des spätmodernen Individuums anzuwenden.

 

Alessandro Testa hat in Italien und Frankreich studiert und war Lise-MeitnerPostdoc an der Universität Wien. Aktuell ist er Professor an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Karlsuniversität in Prag.