Das Sediment Mittelosteuropas
Anhand von zehn Kieselsteinen kann ZOLTÁN FŰZFA alles Wichtige über das Ökosystem im ungarischen Szigetköz erzählen. ANITA GÓCZA hat den Donauliebhaber auf einer Wanderung durch das einzigartige Landschaftsschutzgebiet begleitet.
Als ich in Dunasziget, einem kleinen ungarischen Dorf am Donauufer, ankomme, regnet es. Die geplante Kanufahrt fällt somit leider buchstäblich ins Wasser. Also machen Zoltán und ich uns zu Fuß auf den Weg durch eine Landschaft, die eng mit seinem Leben verknüpft ist. Die Region Szigetköz ist ein Juwel Mitteleuropas: Die Donau schuf hier das größte Landdelta Europas mit vielen Verzweigungen, die Heimat der reichsten Wasserfauna Europas. Vor dreißig Jahren war die Natur hier noch relativ unberührt, doch die Umleitung der Donau und der Bau eines Wasserkraftwerks in den 1980er Jahren veränderten sie nachhaltig.
Ungarns Hainburg
Das Staudammprojekt Gabčíkovo-Nagymaros wurde 1977 von der damaligen Tschechoslowakei und der Volksrepublik Ungarn beschlossen. Ziel war es, die Schiffbarkeit des Flusses zu verbessern und Energie aus Wasserkraft zu erzeugen. Der Plan sah zwei Kraftwerke vor – eines auf ungarischem, eines auf tschechoslowakischem Territorium. Dazwischen sollte die Donau in einen monströsen Kanal umgeleitet werden. Anders als erwartet kam es 1988 zu Massendemonstrationen in Ungarn, auch in Bratislava wurde Kritik an den Umweltfolgen laut. Aufgrund der Proteste und finanziellen Bedenken verfügte Ungarn 1989 einen Baustopp. Österreich, das sich am Bau von Nagymaros beteiligt hatte, verhandelte eine Entschädigung. Nach der Wende kündigte Ungarn das Abkommen, doch die Slowakei realisierte das Projekt allein in einer neuen Variante und leitete einen Teil der Donau in einen knapp 40 Kilometer langen künstlichen Kanal um.
»Danach trocknete hier alles aus«, erinnert sich Zoltán als wir am Hafen von Kisvesszős unsere Szigetköz-Tour starten. »Zweieinhalb Jahre lang gab es hier überhaupt kein Wasser – der Ort wurde allmählich stumm und tot.« Später baute Ungarn eine Sohlschwelle, die den Wasserstand künstlich aufrechterhalten sollte. »Zwar sieht es jetzt aus wie vor 1992, aber mit einem Röntgenblick würde man das Problem erkennen«, erklärt Zoltán während er am Flussufer steht. »Die Donau fließt neben uns in einem betonierten Bett, aus dem sie nicht abfließen kann. Das Grundwasser fällt somit stetig ab, je weiter man sich vom Ufer entfernt. Bereits 200 Meter von hier befindet es sich auf bedenklich niedrigem Niveau.«
Jugendlicher
Widerstand »Als Gymnasiast reiste ich in die Tschechoslowakei, um gegen den Staudamm zu protestieren: Wir fotografierten die Bauarbeiten und ich schrieb darüber in der Schülerzeitung«, erzählt der Donauliebhaber. Obwohl damals noch illegal, gründeten sich in den 1980er Jahren zahlreiche Zirkel und Gruppen in Ungarn, um sich für den Umweltschutz einzusetzen.
Mit 15 Jahren wurde Zoltán Mitglied einer Organisation, die Universitätsstudierende in Mosonmagyaróvár gegründet hatten. Mithilfe der Gruppe gelang es Zoltán, die Umweltverschmutzung einer Firma aufzudecken. Ende der 1980er beobachtete er, wie sich die Farbe des Flusses veränderte. »Ich begann eine private Ermittlung: Ich musste nur die Stelle finden, an der die Farbe wechselte. Also folgte ich der Donau stromaufwärts. Aus dem Grundstück einer Fabrik ragte ein Rohr, durch das Galvanikschlamm in den Fluss geleitet wurde. Ich kletterte über den Zaun – damals gab es noch keine Überwachungskameras – und fotografierte die Ursache der Verschmutzung.«
Aufwachsen am Fluss
Während Zoltán von seinem Engagement als Jugendlicher erzählt, merkt man, dass es ihm nicht nur um Umweltschutz geht. Diesen Abschnitt der Donau zu bewahren, hat für ihn auch ganz persönliche Gründe: »Mit vier Jahren nahm mich mein Großvater am Fahrrad mit zum Donauufer. Dort angekommen, setzte er mich auf seine Schultern und überquerte die Moson-Donau – als wäre er der Heilige Christophorus. Angekommen auf den Riffinseln, wanderten wir umher, warfen Kieselsteine ins Wasser und erlebten scheinbar unendlichen Frieden.« Dort drüben, inmitten der kleinen Inseln, kann man erleben, wie die natürliche Form der Donau aussieht. Es gibt keine Anzeichen für menschliche Eingriffe, kein betoniertes Ufer, nicht einmal gepflanzte Bäume. Die Flora ist Zoltán zufolge seit Jahrtausenden dieselbe – »ein echter Dschungel.« Der Fluss gestaltet die Landschaft. Es gibt keinen Quadratmillimeter, der nicht von der Donau beeinflusst wird. So wie der Auboden, auf dem wir stehen und das gereinigte Donauwasser, das wir trinken. Die Weiden konnten nur so hoch wachsen, weil ihre Wurzeln das Grundwasser erreichen. Bei Überschwemmungen lagert die Donau bis zu zehn Jahre alten Schlamm ab, der zu fruchtbarem Boden wird. Zoltáns Liebe für diesen Ort ist offensichtlich: »Um uns herum ist eine atmende, lebendige Landschaft, die sich immer wieder neu erfindet.«
Begeisterung weitergeben
Bis heute hat sich Zoltáns Verbundenheit zum Fluss nicht verändert. »Mich begeistern die Geräusche, die Gerüche, die Wassertropfen auf den Blättern und der Nebel, der über dem Fluss schwebt.« Ursprünglich wollte er Insekten erforschen. »Aber mir wurde klar, dass ich dafür die meiste Zeit hinter einem Mikroskop verbringen würde. Noch während du eine neu entdeckte Art beschreibst, stirbt sie aus.« Also entschied er sich zu einer Ausbildung als Lehrer, um seine Faszination an andere weiterzugeben. An der Universität spürte er allerdings, dass die preußisch geprägte Schule nichts für ihn war. Deswegen absolvierte er die Waldorfausbildung, die damals in Ungarn eingeführt wurde. Nach dem Abschluss zog er wegen einer freien Stelle nach Miskolc, weit weg von seinem Fluss. »Ich lehrte sehr gerne dort, aber als ich heiratete und wir Kinder bekamen, wurde die Entfernung zu den Großeltern, die hier in Szigetköz lebten, zu einem Problem.« Im Jahr 2000 zog er deshalb mit seiner Familie wieder zurück. Zu diesem Zeitpunkt hatte Zoltán bereits den Umweltverein Pisztráng Kör (Forellenkreis) gegründet und plante eine Waldschule aufzubauen. Für den Anfang lud er mehrere Schulgruppen aus Miskolc ein, mit ihm auf der Donau zu paddeln. »Kanufahren ist die beste Art, um die Landschaft zu erkunden. Kajaks sind sportlich und schnell. Ich will aber lieber langsam in die Landschaft eintauchen. Meine Kamera und mein Fernglas sind immer dabei.« So auch jetzt, als wir auf einem Hochsitz neben dem Fluss Platz nehmen und Zoltán von der heimischen Tierwelt erzählt. Schon den ganzen Tag über hörten wir sie und verfolgten ihre Spuren. Während die Dämmerung einbricht, erreichen wir den wichtigsten Stützpunkt der heutigen Tour: die kleine Waldschule, die Zoltán 2002 mithilfe eines Bankkredits baute. Hier will er Kindern die Bedeutung eines intakten Ökosystems vermitteln. »Der Boden unter uns besteht aus 300 Metern Kies, Sand und Schlamm. Das alles ist das mineralische Sediment von Mittelosteuropa. Anhand von zehn Kieselsteinen kann ich alles zeigen und lehren. Das ist die einzige Möglichkeit, die Einstellung und den Lebensstil der Kinder zu formen, und nicht zu steuern.« Mittlerweile ist Zoltáns Traum weitergewachsen: Pisztráng Kör betreibt einen sieben Hektar großen Ökopark in der Region, der unter dem Namen Fairyland zum Hauptsitz der Organisation wurde.
Anita Gócza (geboren 1970 in Budapest) arbeitete 15 Jahre lang als Radio-Reporterin und Redakteurin für die nationale Radiostation in Ungarn. Seit 2011 ist sie als freie Journalistin mit Fokus auf kulturellen Themen sowie als Dozentin für Online-und Radiojournalismus an der Budapest Metropolitan University tätig.