Euphorie aus der Dose

Die Straßen bis zum Stadion sind voll mit ihnen: Graffitis, die Loyalität zu lokalen Fußballklubs ausdrücken. In ihrem Text beschreibt MELANIE JAINDL die Euphorie, die ihre Schöpfer*innen bewegt und erklärt, welche Konflikte sich hinter den Wandbildern von Ljubljana bis nach Skopje verbergen.

Was, wenn Wände sprechen könnten? Welche Geschichten würden sie uns wohl erzählen? Es ist ein spannendes Gedankenexperiment, oft aufgegriffen in Musik und Literatur. Doch was, wenn ich Ihnen sage, dass sie das schon die ganze Zeit tun? Die Wände einer Stadt machen sich zwar nicht mit Lauten bemerkbar, doch aufmerksamen Passant*innen verraten sie vieles über die Menschen, die tagtäglich an ihnen vorüberziehen.

Nacht und Nebel

Sticker, Schablonenmuster und Tags, aber auch große Graffiti-Pieces mit künstlerischem Charakter – für viele zeugen sie bloß von Vandalismus, für den slowenischen Kulturwissenschafter Mitja Velikonja sind es allerdings subkulturelle Ausdrucksformen von politischem Dissens und Zugehörigkeit. Seit über 20 Jahren erforscht er ihre kulturelle und politische Bedeutung: »Sie erfüllen eine kritische öffentliche Funktion, indem sie ästhetische Harmonie zerstö ren.« Vor allem Fußballfan-Graffitis sind in europäischen Städten nicht zu übersehen. Die Anhänger*innen lokaler Vereine tragen den Anspruch auf »ihre« Stadt öffentlich aus. Markiert ein konkurrierender Verein ihr Territorium, wird das Graffiti in kürzester Zeit gecrosst (Szenebegriff für übermalen/durchkreuzen). Diese »Graffiti-Kriege« werden vorzugsweise nachts ausgetragen, im Schutz der Dunkelheit vor polizeilichen Konsequenzen und Rival*innen.

Alle für einen

In Europa zählt Fußball zu einem nahezu unantastbaren Kulturgut. Betrachtete Karl Marx noch Religion als »Opium des Volkes«, schreibt der links-anarchistische Autor Gabriel Kuhn dem Fußball diese Bezeichnung zu. Auf dem Spielfeld treten Arbeiter*innen gegen Arbeiter*innen an – das lenkt vom Klassenkampf ab. Gleichzeitig waren es vor allem Arbeiter*innen, die den Fußball professionalisierten, denn vielen blieb keine Zeit, ihn als reines Hobby zu verfolgen. Immerhin mussten sie Geld verdienen. Heute können nur wenige vom Fußballspielen leben, allerdings schafft nun die daran anknüpfende Industrie Arbeitsplätze, und noch mehr Profit. Die immense Kommerzialisierung wurde von den oberen Schichten im Westen vorangetrieben. Maskuliner Körperkult gepaart mit Masseneuphorie im Stadion und bei Public-Viewing-Veranstaltungen, dazu eine Prise Lokalpatriotismus und voilà: Geboren wurde ein Kulturphänomen, ebenso banal wie auch politisch.

Doch eine Mannschaft ist nichts ohne ihre Fans. In seinen Büchern über Fußballfan-Graffiti unterscheidet Velikonja drei Gruppen: die normalen, unorganisierten Fans, radikalere Ultras und schließlich die gewaltbereiten Hooligans. Obwohl gelegentliche Ausschreitungen bei Spielen überall vorkommen, erlangen sie in den Communitys der jugoslawischen Nachfolgestaaten immer wieder traurige Berühmtheit. Die bis heute bestehenden ethnischen Spannungen, die während der Kriege in den 1990er Jahren ihren Höhepunkt erreichten, entladen sich oft beim Aufeinandertreffen rivalisierender Fangemeinden. Die Ekstase der Fans wandelt sich dann zum Blutrausch. Einer dieser Kämpfe machte sogar Geschichte.

Das Spiel, das niemals stattfand

Am 13. Mai 1990 traf das Team Roter Stern Belgrad im Zagreber Maksimir-Stadion auf das kroatische Heimteam Dinamo. Bis heute zählen die beiden Teams zu den beliebtesten Mannschaften in der Region. Mit dabei sind auch ihre Ultras, die kroatischen Bad Blue Boys und die serbischen Delije. Bereits tagsüber kam es zwischen ihnen zu Schlägereien in der Stadt. Als Delije-Anhänger*innen vor Anpfiff die Tribüne demolierten, stürmten die Bad Blue Boys das Spielfeld und lieferten sich ein Gefecht mit der jugoslawischen Polizei, rund 150 Personen wurden verletzt. Der gesamte Gewaltexzess wurde live im Fernsehen ausgestrahlt. Bis heute stilisieren die Bad Blue Boys diesen Tag als den wahren Kriegsbeginn. Tatsächlich marschierten viele der Ultras aus den jugoslawischen Republiken kurz darauf an vorderster Kriegsfront und gründeten Paramilizen. Heute weist eine Gedenktafel am Maksimir-Stadion auf den Vorfall vor über 30 Jahren hin.

Wettbewerb abseits des Stadions

Verglichen mit diesen Gewaltausbrüchen wirkt das Crossen von Gegner*innengraffiti und der damit verbundene Adrenalinkick wie ein Kavaliersdelikt. In seinen Gesprächen mit slowenischen Ultras stellte Velikonja fest, dass sich die Fans von verbreiteten Vorurteilen abgrenzen wollen. So zum Beispiel von ihrer vermeintlichen Einbindung ins organisierte Verbrechen, die zumindest teilweise bei den Fanclubs der südlichen Nachbar*innen besteht. Das heißt allerdings nicht, dass die slowenischen Ultras weniger radikal oder nationalistisch sind.

»Die Fans beteuerten oft, dass sie gegnerische Fans nicht als Feinde, sondern als Konkurrent*innen sehen. Sie teilen ihren Lebensstil und ihre Werte«, schreibt Velikonja. So verabreden sich Hooligans manchmal im Vorfeld von Spielen zu Schlägereien – quasi als Wettbewerb außerhalb des Spielfeldes. Das Vorurteil, sie alle seien politisch rechts, treffe laut Velikonja nicht zu: »Scheinbar mühelos verbinden sie politische Extreme in ihrer Fankunst, auch wenn der Großteil trotzdem eher rechts ist.« Eine bedeutende Minderheit ist aber auch links und tritt gegen Homo- und Transphobie ein. Sie alle verbindet eine Form des Lokalpatriotismus und die Ablehnung der Überkommerzialisierung von Fußball durch die FIFA und UEFA. »Fußball kann man nicht vom Sofa aus schauen«, erklärte ein slowenischer Ultra im Interview mit Velikonja. Ihre wahren Feinde seien vielmehr die Medien, die Polizei und gewisse Klubmanager*innen.

Diese Zu- und Abneigungen spiegeln sich an den Wänden wider. Graffiti ist eine Vereinnahmung des öffentlichen Raums, der wie auch der Fußball immer stärker kommerzialisiert wird. Über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten, doch ein genauer Blick auf die Schriften und Bilder an städtischen Außenwänden lohnt sich. Sie werden vieles über die Menschen, die dahinter leben, erfahren.

 

Melanie Jaindl ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am IDM. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen den Westbalkan, Migration und Asyl, intersektionaler Feminismus und soziale (Un-)Gerechtigkeit.