Musik und Ekstase gegen die Traurigkeit

SHMUEL BARZILAI ist seit mehr als 30 Jahren Oberkantor der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) am Stadttempel. Für INFO EUROPA gibt er einen Einblick in die Rolle der Musik im Chassidismus und verrät, was sich hinter der religiösen Ekstase verbirgt.

Eine jüdische Erzählung berichtet von Rabbi Schabtai, einem sehr armen Buchbinder aus einer polnischen Kleinstadt. Trotz all seiner Arbeit konnte er am Schabbat nicht mehr als etwas Brot und gesalzenen Fisch für das gemeinsame Fest aufbringen. Doch der Rabbi blieb trotz aller Widrigkeiten fröhlich und hatte die Angewohnheit, an jedem Schabbat mit großer Freude zu tanzen. Er lebte zur gleichen Zeit wie Israel ben Eliezer (1700–1760), bekannt als »Baal Schem Tov« (Meister des guten Namens), dem Begründer des Chassidismus. Dieser sah die Tänze von Rabbi Schabtai und sagte ihm, dass er als Verdienst für seinen freudvollen G-ttesdienst* einen Sohn zeugen werde, der die Augen Israels erleuchten wird. Und tatsächlich wurde dem armen Buchbinder ein Sohn geboren, der später einflussreiche Lehrer und Prediger Israel Hopstein von Kozienice. Überlieferungen wie diese zeigen, wie zentral das freudvolle Musizieren und Singen im Chassidismus ist.

Die jüdische Erneuerungsbewegung wurde in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Osteuropa gegründet und bildet bis heute einen wichtigen Teil des Judentums. Im Chassidismus sind nicht nur das Studium der Tora, sondern auch kleine Taten (als Dienste an G-tt) von wichtiger Bedeutung. Den G-ttesdienst mit Freude zu verrichten, ist eine Idee, die das äußere Erscheinungsbild des Chassidismus stark prägt. Die Literatur ist voll von Lehren, die diese Absicht zum Ausdruck bringen. Viele im Umfeld des Chassidismus erklärten sie sogar zu einer der Neuerungen, die der Chassidismus brachte, und zu einem seiner typischsten Charakterzüge. Musik ist ein zentraler Ausdruck dieser Freude. Dem Musikforscher Abraham Zvi Idelson (1882–1938) zufolge bestehe der wesentliche Wert der Melodie darin, dass sie zu einem Erwachen und einer Freude führe, denn die Traurigkeit stamme von der »anderen Seite« (Sitra achra). Der Gesang hilft dabei, die Traurigkeit in unserem Inneren zu vertreiben. Denn nur ein G-ttesdienst mit Freude ist ein vollständiger Dienst, und dazu braucht es Gesang und Melodie.

Geschichte und Gegenwart

Blicken wir zurück in die lange Geschichte des Judentums, bildeten Instrumente und Gesang schon früh Fixpunkte des G-ttesdienstes. Im Tempel wurde der Gesang von den diensthabenden Lewiim ausgeführt. Sie sangen im Tempel Gesänge des Dankes und des Lobes, während das tägliche Opfer gebracht wurde, wie im »Buch der Chronik« geschrieben steht. Ihr Gesang im Tempel wurde von Musikinstrumenten begleitet, von Flöte, Harfe und Lyra, von Pauke und verschiedenen Zimbeln. Dieser Gesang der Lewiim wurde nicht als »Hintergrundmusik« verstanden, sondern war integraler Bestandteil des G-ttesdienstes und nach der Meinung von Rabbi Meir konnte er sogar das Opferritual verzögern, wie es im Traktat Erechin des Talmud heißt. Aus dem Tempel wanderte der Gesang in die Synagoge. Sie ist der öffentliche Versammlungsort für das dreimal täglich zu verrichtende Gebet, für die Gebete am Schabbat und Feiertag, für das Lernen der heiligen Bücher (wie Tanach, Mischnah, Talmud etc.), aber auch für verschiedene Zusammenkünfte und Veranstaltungen. Die Synagoge entwickelte ihre Bedeutung im Exil und wurde zum Mittelpunkt des geistigen, moralischen und öffentlichen Lebens des Volkes, sie diente als Befestigung seines Bestehens, und ist gewiss bis heute ein Ort der Ehre und Pracht der Gemeinde Israels. Jedes öffentliche Ereignis und jede Versammlung von Tora-Lernenden, Persönlichkeiten des Gemeindelebens oder Versammlungen des Volkes zu Zeiten der Freude oder der Not hatten ihren Platz in der Synagoge. Das liturgische Rezitativ war und ist die wichtigste Disziplin des Vorbeters. Er macht von verschiedenen traditionellen melodischen Mustern Gebrauch, von denen einige festgelegt, andere flexibel sind. Als Oberkantor habe ich neben der traditionellen Musik auch viele neue Melodien in den G-ttesdienst mitgebracht, damit möglichst viele Gemeindemitglieder mitsingen können. Ich finde, wenn man zusammen singt, kommt nicht nur viel Freude auf, sondern alle fühlen, dass sie nicht nur passiv, sondern aktiv mitbeten können. Ich habe auch einen Kinderchor gegründet. Er singt zusätzlich zu dem Erwachsenenchor an jedem Schabbat und Feiertag. Der Kinderchor bringt frischen Wind und Freude in die Gemeinde und in die Familien, in denen diese Melodien gesungen werden.

Bedeutungsvolle Tänze

Neben dem Gesang spielt auch der Tanz eine wichtige Rolle im Chassidismus. Die religiöse Ekstase, die mit dem Tanz erstarkt und aufsteigt, lässt die Tanzenden die Welt um sie herum vergessen und erhebt sie zum Himmel. Dahinter steht die Überzeugung, dass der G-ttesdienst im Tanz nicht nur mit der Seele geschieht, sondern auch mit dem Körper. Die Freude ist nicht nur in Geist und Seele, sondern auch zur Gänze in uns und unserem Körper. Für diesen Augenblick der Ekstase ist es uns Menschen möglich, unseren Geist nach oben zu erheben und uns mit G-tt zu verbinden. In einem Interview, das ich mit dem ehemaligen Oberrabbiner von Österreich, Rabbi Chaim Eisenberg, führte, brachte der Rabbiner weitere Erklärungen über die Bedeutung von Tänzen im Chassidismus vor: »Zum Beispiel beim Simchat Tora, wenn man mit der Tora in einem Kreis tanzt, so heißt das, man hat den Kreis der Tora-Lesung beendet. Eine andere Erklärung ist, dass im Kreis alle gleich weit von der Mitte sind, und die Mitte ist das Zentrum, und Zentrum ist die Tora, oder der liebe G-tt, und wir sind gleich weit und sollen nicht glauben, der eine ist nahe und der andere ist weit. Diese Tanzbewegungen haben viel zu bedeuten, Tanz ist viel mehr als Disco.«

*G-tt ist eine von mehreren Schreibweisen im Judentum, um das Wort Gott zu vermeiden. Besonders orthodoxen Jüd*innen ist es wichtig, den Namen nicht auf einen menschlichen Begriff zu reduzieren.

 

Mag. Shmuel Barzilai ist Kantor und Komponist, geboren in Jerusalem. Er studierte an der Yeshiva »Beer Yaakov«, K‘nesset Chiskijahu und Hevron, am Rabbiner College in Givataim (Israel), am Institut für Kantoren-Gesang der Stadt Tel Aviv sowie Philosophie und Judaistik an der Universität Wien. Seit 1992 ist er als Oberkantor der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien tätig.