Nordmazedonien: Der Weg in die EU führt über Bulgarien
Nach dem Namenstreit mit Griechenland legt nun Bulgarien seinem Nachbarland Nordmazedonien Steine in den Weg zur EU. SOPHIA BEITER erklärt im Gespräch mit ULF BRUNNBAUER und ZORAN GEORGIEV die Konfliktpunkte.
Die Osterweiterung im Jahr 2007 weckte auch in Nordmazedonien Hoffnung auf einen baldigen Beitritt zur EU. Um die Zeit bis dahin zu überbrücken, beantragten zehntausende Mazedonier*innen die bulgarische Staatsbürgerschaft, um der hohen Arbeitslosigkeit im eigenen Land zu entfliehen. Notwendig dafür ist der Beweis bulgarischer Abstammung und den konnten aufgrund der verzweigten Vergangenheit beider Länder viele Mazedonier*innen erbringen. Auch Künstler Zoran Georgiev stammt aus einer multiethnischen Familie. Aufgewachsen ist er in Nordmazedonien, aber seine Mutter ist Serbin und sein Vater Bulgare. Georgiev selbst meint: „Ich bin Bulgare, weil am Balkan sagen wir, dass man die Linie des Vaters erbt. Tatsächlich wäre wohl halb Serbe, halb Bulgare die korrekte Antwort.“ Georgiev ging nach Sofia, um dort Kunst zu studieren. Er lernte auch Bulgarisch und beantragte schließlich die bulgarische Staatsbürgerschaft, bevor ihn die Liebe nach Berlin verschlug, wo er mittlerweile lebt und arbeitet.
Doch es gebe auch Mazedonier*innen, die aus Verzweiflung Bulgar*innen auf dem Papier werden. „Ein hoher Anteil der Menschen, die die bulgarische Staatsbürgerschaft beantragen, sind nicht davon überzeugt, dass sie Bulgar*innen sind. In ihrer Heimat sind sie aber arbeitslos“, so Georgiev. „Mit dem bulgarischen Pass in der Hand verlassen 90% das Land, um zum Beispiel als LKW-Fahrer*innen für europäische Firmen zu arbeiten.“ Bevor auf Druck der EU die Erlangung des bulgarischen Passes erschwert wurde, hieß der bulgarische Staat den Andrang auf seine Staatsbürgerschaft willkommen. Der Südosteuropahistoriker Ulf Brunnbauer sagt: „Bulgarien wollte so unter anderem auch der hohen Abwanderung entgegenwirken. Doch die meisten neuen bulgarischen Bürger*innen blieben nicht im Land.“
Das unsichtbare Hochhaus
Laut Daten der Europäischen Kommission haben von 2006 bis 2021 über 86.000 Mazedonier*innen die Staatsbürgerschaft ihres Nachbarlandes erhalten. Das sind mehr als die Hälfte der in dieser Zeit neu eingebürgerten Menschen. Georgiev erklärt: „Wenn man den bulgarischen Pass beantragt, benötigt man eine bulgarische Adresse. Da viele Mazedonier*innen aber nicht in Bulgarien leben, sondern in andere EU-Länder ziehen wollten, machten einige Bulgar*innen ein lukratives Geschäft aus der Verordnung und verkauften ihre Adressen an Staatsbürgerschaftsanwärter*innen. So fand man Wohnungen mit über 600 registrierten Menschen.“ Um den Adressen-Schwarzmarkt aufzulösen, teilte der Staat ab den frühen 2010er Jahren eine sogenannte „Arbeitsadresse“ (bulg. služeben adres) zu – und zwar allen die gleiche. Georgiev besuchte diese Adresse im Zentrum von Sofia: „Es ist ein kleines dreistöckiges Gebäude. 2014 waren dort laut Meldeamt 40.000 Menschen registriert.“ Dies inspirierte den Künstler zu einem Projekt: Das Kunstwerk „Invisible Skyscraper“ veranschaulicht das vermeintlich höchste Gebäude der Welt. Denn laut Georgievs Berechnungen müsste das Haus höher als 4.500 m sein, um alle dort gemeldeten Personen tatsächlich zu beherbergen.
Vetos von allen Seiten
Wie viele Mazedonier*innen sich tatsächlich als Angehörige der bulgarischen Minderheit in Nordmazedonien fühlen, ist unklar. Doch genau diese Minderheit ist entscheidend für den Beginn der EU-Beitrittsgespräche. Als 2020 die Verhandlungen zum EU-Beitritt nach 15 Jahren Kandidatenstatus starten sollten, legte Bulgarien auf Initiative der ultranationalistischen Partei VMRO-BND, die damals in der Regierungskoalition war, ein Veto ein. Kurz davor zog erst Griechenland sein Veto zurück, nachdem das Nachbarland die bilateralen Streitigkeiten durch das Prespa-Abkommen 2018 beilegte.
Wie auch im Streit mit Griechenland, dreht sich auch das bulgarische Veto um die mazedonische Identität. Die mazedonische Kultur beruhe demnach auf der bulgarischen, die mazedonische Sprache sei nur ein bulgarischer Dialekt und zumindest bis 1944, als in Jugoslawien die mazedonische Teilrepublik mit eigener Standardsprache etabliert wurde, habe man auch eine gemeinsame – das heißt bulgarische – Geschichte. Auffassungen wie diese halten sich in der bulgarischen Politik und Gesellschaft hartnäckig. Und die hohe Zahl der Anträge auf bulgarische Staatsbürgerschaft unterstützt aus Sicht Bulgariens dieses Narrativ. Brunnbauer spricht von einem „Phantomschmerz“, der in Bulgarien seit 1878, als der neue bulgarische Staat ohne das heutige Gebiet Nordmazedoniens errichtet wurde, existiert.
2022 gelang es schließlich, einen vorrangig durch die französische EU-Ratspräsidentschaft vermittelten Kompromiss zu treffen. Bulgarien hob das Veto unter der Bedingung auf, dass Nordmazedonien die bulgarische Minderheit in seine Verfassung aufnimmt. Für die Verfassungsänderung gibt es im nordmazedonischen Parlament allerdings keine Mehrheit (Stand: Oktober 2023). Die von der sozialdemokratischen, proeuropäischen SDSM geführte Regierung will die Änderung zwar rasch durchsetzen, um den Weg in die EU zu ebnen, doch die Opposition, allen voran die nationalistische Partei VMRO DPMNE, ist strikt dagegen. Auch der Großteil der Bevölkerung lehnt die Verfassungsänderung ab, insbesondere im Sommer 2022 gingen Tausende auf die Straße und protestierten.
Unterschiedliche Rechte für Minderheiten
Georgiev hält zwar nicht das Veto selbst, aber die Forderung der Aufnahme der bulgarischen Minderheit in die Verfassung für gerechtfertigt. Bis in die späten 1940er Jahre waren ethnische Bulgar*innen in Nordmazedonien stark vertreten. Nach Etablierung der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (SFRJ) seien die probulgarischen Stimmen dann ziemlich radikal beseitigt worden. Zur heutigen Situation sagt Brunnbauer: „Es ist schwer zu sagen, inwieweit die heutigen Bulgar*innen in Nordmazedonien Nachkommen aus dieser Zeit, oder doch eher ein Produkt bulgarischer auswärtiger Kulturpolitik sind.“
VMRO DPMNE verlautbarte, dass sie der Aufnahme der bulgarischen Minderheit in die Verfassung nur unter der Voraussetzung zustimmt, dass Bulgarien auch die nordmazedonische Minderheit anerkennt. „In Bulgarien gibt es einen unterdrückten mazedonischen Aktivismus. Wahrscheinlich handelt es sich nur um wenige Tausend Menschen in Südwestbulgarien“, meint Brunnbauer. So würde beispielsweise dem Verein Macedonian Organisation Ilinden-Pirin die Registrierung verwehrt. Der Historiker fügt hinzu: „Mittlerweile urteilte sogar der Europäische Menschenrechtsgerichtshof, dass dieses Vorgehen gegen die bulgarische Verfassung und die europäische Menschenrechtskonvention verstößt. Doch die bulgarischen Behörden ignorieren diese Urteile.“
Dass es zur gegenseitigen Aufnahme der jeweiligen Minderheiten in die Verfassung kommt, ist also unwahrscheinlich. Das hängt aber auch mit der völlig unterschiedlichen rechtlichen Situation von Minderheiten in beiden Ländern zusammen. Brunnbauer erklärt: „In Nordmazedonien gibt es weitreichende Kollektivrechte für anerkannte Minderheiten, in Bulgarien dagegen viel weniger Minderheitenrechte.“ Die Gründung von Minderheitenparteien zum Beispiel sei in Nordmazedonien üblich und wenn anerkannte Minderheiten über 20% einer Gemeinde darstellen, werde deren Sprache zur Amtssprache. Im Gegensatz dazu verbiete die bulgarische Verfassung Minderheitenparteien und selbst für größere Minderheiten, wie der türkischen, sei das Aufstellen zweisprachiger Ortsnamen in entsprechenden Gemeinden selten. Vor diesem Hintergrund würde die Anerkennung der mazedonischen Minderheit in Bulgarien rechtlich kaum etwas ändern, umgekehrt könnten die Bulgar*innen in Nordmazedonien allerdings weitgehende Rechte in Anspruch nehmen.
Ein holpriger Weg in die EU
Die Verzögerung der EU-Beitrittsgespräche steht nicht nur der EU-Mitgliedschaft Nordmazedoniens im Wege, sondern hat Auswirkungen auf den Balkan und Europa insgesamt. Nach dem Namensstreit mit Griechenland, im Zuge dessen Mazedonien sich 2019 in Nordmazedonien umbenannte, ist die Verfassungsänderung nun die zweite unbeliebte Maßnahme, die die Regierung auf Druck der EU-Länder durchführen muss. Brunnbauer und Georgiev sind sich einig, dass – selbst wenn die Verfassungsänderung im Parlament eine Mehrheit erhält – die proeuropäische Regierung bereits jetzt deutlich geschwächt wurde. Brunnbauer gibt zu bedenken: „Bei den nächsten geplanten Parlamentswahlen 2024 kann das der sozialdemokratischen Partei schaden.“ Dabei sind gerade die Sozialdemokraten aus europäischer Sicht die verlässlichsten Partner in Nordmazedonien. Vom Unmut in der Bevölkerung könnten vor allem nationalistische Parteien wie die anti-europäische VMRO DPMNE profitieren. Die Sorge ist groß, dass sich der proeuropäische Kurs des Landes dann ins Gegenteil verkehrt. Zudem verdeutlicht die Situation eine der größten Hürden des Westbalkans auf seinem Weg in die EU: das Vetorecht der Mitgliedsstaaten, das EU-Nachbarländer als Hebel in bilateralen Disputen nutzen.
Sophia Beiter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am IDM und hat Slawistik und Germanistik an der Universität Wien studiert. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen die Schwarzmeerregion, Sprachpolitik und Minderheiten.
Ulf Brunnbauer ist wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg und Professor für die Geschichte Südost- und Osteuropas der Universität Regensburg. Er forscht zur zeitgenössischen Gesellschaftsgeschichte Südosteuropas.
Zoran Georgiev ist Künstler und hat in zahlreichen internationalen Ausstellungen mitgewirkt. Seine Werke beschäftigen sich oft mit politischen und gesellschaftlichen Themen.