Buchvorstellung und Diskussion: „Postkommunistische Regime und Mafiastaaten in Osteuropa: Beispiel Ungarn“
14. Februar 2024, Institut für den Donauraum und Mitteleuropa, Wien
Am 14. Februar 2024 wurde das Buch „Postkommunistische Regime. Akteure, Institutionen und Dynamiken“ der zwei ungarischen Soziologen Dr. Bálint Magyar und Mag. Bálint Madlovics (CEU Democracy Institute, Budapest) am IDM vorgestellt und besprochen.
Nach dem Konzept der beiden Autoren lassen sich die postkommunistischen Regime Osteuropas nicht anhand der dort vorherrschenden Ideologie verstehen, sondern die informellen Strukturen müssen in den Blick genommen. Je nachdem, ob die Oligarchie plural oder monopolistisch organisiert ist bzw. je nachdem, ob und inwiefern der Staat kriminelle Ziele verfolgt, lassen sich die einzelnen Staaten kategorisieren. Demnach sei Ungarn ein „Mafiastaat“, wo sich eine mafiaartige Clique des ganzen Landes bemächtigt habe. Die Korruption sei demnach keine Straftat oder Abnormalität, sondern das Wesen dieses Staates. Ein „Mafiastaat“ sei nicht ein Staat, in dem die Mafia versucht, den Staat zu unterwandern, sondern vielmehr ein Staat, in dem die Mafia selbst zum Staat wird und wo das Recht für kriminelle Zwecke gesetzt und angewendet wird. In einem „Mafiastaat“ gebe es keinen Konkurrenzkampf zwischen unterschiedlichen Oligarchen. Alles sei einem einzigen kriminellen Machtzentrum unterworfen. Ein solches System funktioniere „feudalistisch“: Der „Herr“ stehe an dessen Spitze und auch die „Oligarchen“ erhielten ihr Vermögen von ihm. Nicht eine Ideologie, sondern die Clan-Loyalität halte das System zusammen.
Am Anfang der Veranstaltung stellte Dr. Péter Techet, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM), das Konzept des „postkommunistischen Mafiastaates“ kurz vor. Techet erzählte von einem aktuellen Skandal in Ungarn: Nachdem die Staatspräsidentin Katalin Novák aufgrund der Begnadigung eines Mittäters in einem Kindermissbrauchsfall zurücktreten musste, meldete sich ein Fidesz-Insider zu Wort, der ungewöhnlich harsch und offen das Regime kritisierte. Der Fidesz-Insider trat von allen seinen Posten zurück und meinte, dass das Land zu einem „Familienunternehmen“ geworden sei. Techet betonte, dass der ehemalige Fidesz-Insider eben das ansprach, was die beiden Soziologen, Dr. Magyar und Mag. Madlovics in ihrem Konzept vom „postkommunistischen Mafiastaat“ theoretisch analysieren und beschreiben.
Professor Paul Lendvai, Osteuropaexperte und Kolumnist der Tageszeitung „Der Standard“, hielt die Laudatio des Buches. Er wies darauf hin, dass die Europäische Union und die westeuropäischen Politiker*innen Osteuropa immer noch nicht verstanden und deswegen keinen Umgang mit den dortigen postkommunistischen Regimen gefunden hätten. Lendvai betonte, dass Ungarn kein Einzelfall sei, weil auch andere Autokraten in der Region das ungarische Modell nachahmen wollen würden. Er lobte und empfahl das Konzept von Magyar und Madlovics, da dieses eine realistische Beschreibung der osteuropäischen Verhältnisse biete.
Nach Lendvais Einführung hielten die zwei Autoren Magyar und Madlovics einen Vortrag über ihr Konzept. Sie zeigten auf, wie ein Mafiastaat funktioniert, wie die Ideologien und das Rechtssystem benutzt werden und wie ein solcher Staat als eine kriminelle Organisation behandelt werden sollte. Sie sprachen auch über die wesentlichen Unterschiede zwischen Ungarn, der Ukraine und Polen: In Polen hätten die Nationalkonservativen den Staat nicht im kriminellen Interesse geändert; in der Ukraine hätte sich kein feudalistisches Machtzentrum etabliert. Im Gegensatz dazu sei Ungarn keine oligarchische Demokratie, weil die Oligarchen selbst von einem einzigen Machtzentrum abhängig seien. Magyar und Madlovics betonten, dass die Ideologien, die Viktor Orbán in seiner Rhetorik nutzt, nur dem Ziel dienen würden, den wahren, kriminellen Zweck des ungarischen Mafiastaates zu verstecken. Deswegen sei es irreführend, Orbán als einen christlichen Konservativen oder als Rechtsnationalisten zu sehen. Seine Politik ziele nicht auf die Verwirklichung einer Ideologie, sondern auf die Absicherung der familiären Macht ab.
Nach dem Vortrag fand eine Podiumsdiskussion statt, an der auch Dr. Helmut Brandstätter, Nationalratsabgeordneter und Spitzenkandidat der Neos für die Europaparlamentswahlen, teilnahm. Dr. Ewa Dziedzic-Ernst, Nationalratsabgeordnete der Grünen, sagte ihre Teilnahme leider aufgrund eines anderen Termins ab. In der Diskussion betonte Brandstätter, dass die Europäische Union konsequenter und entschiedener gegen illiberale Tendenzen vorgehen sollte. Er meinte, dass die Europäische Union bereits zu lange Systeme wie in Ungarn mitfinanziere. Magyar plädierte für einen anderen Umgang der EU mit Ungarn; er meinte, dass die europäische Integration ohne Ungarn vertieft werden sollte. Auch Lendvai betonte, dass die Europäische Union immer noch nicht verstanden habe, dass Ungarn die EU-Fördergelder zum Ausbau eines Mafiastaates verwendet. In der Diskussion wurde auch die negative Rolle des deutschen Kapitals in Ungarn beim Ausbau des Orbán-Systems angesprochen: Madlovics berichtete, wie Orbán deutsche Firmen in Ungarn wirtschaftlich unterstützt und politisch benutzt. Als Gegenleistung akzeptieren die deutschen Firmen die Regeln eines Mafiastaates. Brandtstätter und Lendvai wiesen allerdings auch darauf hin, dass Orbán nicht nur einen Mafiastaat in Ungarn aufbaut, sondern auch andere anti-europäische Kräfte in der EU unterstützt. Insofern sei es im elementarsten Interesse der EU, die Entwicklungen in Ungarn mit rechtlichen und finanziellen Mitteln aufzuhalten.