Von Odesa nach Wien  

Nachdem sie das IDM/DRK-Ukraine-Stipendium erhalten hatte, trat Olga Kyrychenko im Mai 2022 dem IDM bei. In diesem Blogartikel erzählt Olga von ihrem Leben vor dem Ausbruch des Krieges und wie sich der russische Angriffskrieg auf ihre Familie und ihre Heimatstadt Odessa ausgewirkt hat. 

Vor

Mein Name ist Olga Kyrychenko. Ich bin in der schönen, sonnigen Stadt Odessa in der Ukraine geboren und aufgewachsen und habe dort mein ganzes Leben verbracht. Ich habe die besten Eltern der Welt, beide befinden sich jetzt im Ruhestand. Ich habe auch eine ältere, jetzt verheiratete Schwester, die eine hübsche kleine Tochter hat. Mein Vater hat damals das Gymnasium mit Auszeichnung abgeschlossen und hat nun auch zwei höhere Abschlüsse. Als wir jünger waren, hat er meiner Schwester und mir immer gesagt wie wichtig Bildung ist und wie sie uns in der Zukunft helfen wird. Ich nahm seinen Rat sehr ernst, lernte fleißig und schloss die Schule schließlich, genau wie wer, mit Auszeichnung ab. Der besondere Schulabschluss erlaubte mir ohne Aufnahmeprüfung an der Universität studieren. 

Ich startete mein Studium am Fachbereich für Ökologie und Umweltschutz der Staatlichen Ökologischen Universität Odessa. Zum Zeitpunkt meines Studienstarts war dieser Fachbereich sehr populär. Zu meinem Spezialgebiet gehörte die Ökologie der Erholungs- und Kurortwirtschaft. Nachdem ich 10 Jahre lang in der Schule und 5 Jahre lang an der Universität studiert hatte, dachte ich – Gott sei Dank! Ich werde nie wieder studieren! 

Aber man soll niemals nie sagen! 

 

Familie und Beruf 

Seit Abschluss der Universität bin ich glücklich mit einem meiner Kommilitonen verheiratet. Mein Mann ist Wirtschaftswissenschaftler und arbeitet ferner als Dozent. Ich fing an für eine Firma zu arbeiten, die maßstabsgetreue Modelle von Seeschiffen herstellt. Dort kümmerte ich mich um Papierkram, Logistikbereiche und die Kommunikation mit den Kunden. Aufgrund der globalen und ukrainischen Krisen ging die Nachfrage nach maßstabsgetreuen Modellen jedoch allmählich zurück. Ich begann mehr und mehr von zu Hause aus zu arbeiten und nach fast 10 Jahren im Unternehmen brachte ich unseren wunderbaren Sohn Vitalii zur Welt.  

Dann jedoch entwickelten sich unerwartete globale Herausforderungen: die COVID-19-Pandemie, Ausgangssperren und Quarantänen. Da das Thema Modellentwicklungen völlig irrelevant wurde, kündigte ich meinen bisherigen Job und nahm eine Stelle als leitende Laborassistentin in der Abteilung für internationale Wirtschaftsbeziehungen der Nationalen Universität Odessa Mechnikov an. Während des Sommers arbeitete ich auch im Auswahlausschuss mit und entschied mich weiterhin auch endgültig an der Universität zu promovieren (sag niemals nie!).

Zurück an der Universität! 

Nachdem ich die Aufnahmeprüfungen in zwei verschiedenen Bereichen erfolgreich bestanden hatte, startete ich das Master-Fernstudium in Psychologie und war gleichzeitig im ersten Jahr des Postgraduiertenstudiums der Abteilung für internationale Wirtschaftsbeziehungen.  

Hier begann eine interessante Phase, die Phase des „Themas des Dissertationsprojekts“. Bis mein Betreuer und ich uns einigen konnten, habe ich etwa dreimal das Thema meiner Arbeit gewechselt. Und ich bin ihm sehr dankbar, dass er meine Themen mehrmals abgelehnt hat. Einmal gab er mir einen, für die Wahl des Themas ausgezeichneten und entscheidenden Rat: „Olga, hören Sie nicht auf andere, hören Sie auf sich selbst! Und vergessen Sie nicht, Sie können jederzeit das Thema wechseln.“ Als ich an jenem Tag nach Hause fuhr, dachte ich darüber nach was er gesagt hatte.  

Ja, hier ist es! Heureka! Ich möchte über internationalen Tourismus schreiben. In diesem Themenfeld hatte ich damals auch schon meine Grundausbildung gemacht und die tourismusbezogenen Themen an der Universität hatten mir schon damals immer sehr gut gefallen. Ich schrieb eine endgültige Fassung meines Dissertationsthemas und nach einer kleinen Korrektur wurde sie von meinem Betreuer genehmigt. Als finales Endergebnis lautet das Thema meiner Doktorarbeit nun „Die Auswirkungen des internationalen Tourismus auf die sozioökonomische Entwicklung der EU-Länder“.  

Derzeit habe ich mehrere Artikel in Monographien veröffentlicht und arbeite an einem weiteren Artikel. Das erste Jahr meines Studiums war hart. Zunächst habe ich mich mitten in meinem Studium mit dem Coronavirus infiziert. Mein Mann war im Krankenhaus und wurde mit Sauerstoff behandelt, während mein Sohn und ich es leichter hatten und zu Hause bleiben konnten. Zum Glück konnte ich in dieser Zeit davon profitieren, dass sich das Studium bereits ins Internet verlagert hatte. Mit Anbruch des neuen Jahres begann sich alles zu bessern und zu normalisieren… es schien, als ob das Leben wieder in Ordnung wäre, als ob ich Kraft und Lust hätte weiterzumachen und an meinen wissenschaftlichen Projekten zu arbeiten. Aber dann, eines Morgens… 

Am 24. Februar 2022, dem Geburtstag meiner Schwester, teilte sich unser Leben scharf in VOR und NACH. 

…NACHHER

An diesem Morgen wurde ich, wie viele andere Ukrainer, von Explosionsgeräuschen geweckt. Mit zitternden Händen griff ich zum Telefon, um zu sehen, was in den öffentlichen Medien geschrieben wurde… Nachdem ich die Nachrichten gelesen hatte, weckte ich meinen Mann mit den Worten „Wach auf!“. Der Krieg hat begonnen…   

Olga: Primorsky-Boulevard/Duke-Statue – auch ein berühmter Ort in Odessa mit einem schönen Blick auf den Seehafen (in der Nähe unserer Stadtverwaltung und des Opernhauses) – soweit ich weiß, ist er immer noch für Spaziergänger gesperrt und die Duke-Statue ist immer noch mit Sandsäcken bedeckt. 

Ich hätte nie gedacht, dass man diesen Satz bei uns in der Ukraine hören würde. Der Mensch ist ein Lebewesen, das sich an alles gewöhnt und sich schnell an neue Gegebenheiten anpasst. Ganz gleich, wie beängstigend diese Dinge auch sein mögen. Wir leben weiterhin in einer neuen Realität. Im Vergleich zu anderen Städten wie Charkow, Tschernihiw und Mariupol war Odessa ein wenig sicherer, aber das machte linderte den Schmerz nicht. 

 Nach ein paar Wochen wurde es auch in Odessa richtig gefährlich und viele Raketen begannen auf meine Stadt zu fliegen. An einem dieser Tage erhielt ich einen Brief von meinem Vorgesetzten, in dem er mir mitteilte, dass es die Möglichkeit gäbe nach Wien zu gehen, um dort wissenschaftliche Forschung zu betreiben. 

Olga: „Hier ist ein Foto von meinem Mann und meinem Sohn mit einer patriotischen Katze an der Wand. Das ist nur eines davon, und in Odessa gibt es noch viele mehr. Odessa ist berühmt für seine Katzenliebe (in der Ukraine sagt man „Odessas Katzen“). Als der Krieg begann, fingen die Bürger in ganz Odessa an patriotische Katzen mit der ukrainischen Flagge zu malen.“ 

Unsere Universität arbeitet seit langem erfolgreich an internationalen Programmen und schickt ihre Studierenden zum Erfahrungsaustausch und zu Forschungsarbeiten an andere Universitäten und Institute in ganz Europa. Ende Juni 2022 wurde sie ONU Mitglied der Europäischen Universitätsstiftung wodurch sicherlich neue Bildungsmöglichkeiten für Dozenten und Studierende eröffnet wurden. 

Mein Betreuer schickte mir also einen Brief und ich wandte mich an unseren Vizerektor für internationale Beziehungen, um einige Fragen zu klären. Es blieb wenig Zeit zum Nachdenken. Mir wurde gesagt, dass die Antwort so schnell wie möglich erfolgen sollte. Ich sprach mit meinem Mann und er sagte mir: „Mach das mal! Du schaffst das schon! Es gab einige Aspekte, die auch für mich wichtig waren. Eine davon ist mein Sohn. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte sich mir diese Frage nicht gestellt, aber jetzt, wo in meinem Land Krieg herrscht, konnte ich ihn nicht allein lassen und ihn in einem unsicheren Odessa zurücklassen. Zu meinem Glück und meiner Freude erlaubte und ermöglichte der Geschäftsführer der IDM, Herr Sebastian Schäffer, mir, dass es kein Problem wäre meinen Sohn mit nach Wien und zum Institut zu nehmen. So begann der Prozess. Nach einiger Zeit landeten mein Sohn und ich in einer wunderschönen Stadt – Wien. Wien empfing uns mit Wärme, Sonnenschein und Freundlichkeit. Und die Menschen, die ich gleich bei der Ankunft am Bahnhof traf, waren freundlich und halfen uns bei scheinbar elementaren Dingen, wie zum Beispiel beim Tragen unseres Gepäcks. Aber es sind genau diese kleinen Dinge, auf denen menschliche Beziehungen aufbauen. Für manche Menschen mag das nichts Besonderes sein, aber für mich war es in diesem Moment eine große Hilfe. Ich mit einem kleinen Kind, mit zwei riesigen Koffern, mit einem kompletten Missverständnis, was nun? Und hier ist ein einfaches – lass mich dir mit dem Gepäck helfen… Ich bin diesen wunderbaren Menschen von ganzem Herzen dankbar.   

Olga: „Unser berühmtes Opernhaus, das von seiner Architektur her zu den schönsten Theatern Europas gehört. In den ersten Kriegsmonaten war das Opernhaus geschlossen, aber jetzt ist es für Besucher geöffnet. Das moderne Gebäude des Opernhauses wurde übrigens 1887 vom Architekturbüro Fellner und Helmer im Stil des Neuen Wiener Barocks erbaut. 

Es war großartig das IDM-Team kennenzulernen. Alle waren sehr nett, hilfsbereit und verständnisvoll. An diesen Ort wurde mir mit einer solchen Hilfsbereitschaft und Unterstützung begegnet. Dank des IDM, und insbesondere Herrn Sebastian Schäffer, bin ich hier in Wien, einer Stadt, die mich so sehr an meine Heimat Odessa erinnert. Ich bin mit meinem Sohn in Sicherheit und kann in Ruhe und Sicherheit an meinem Projekt arbeiten – ohne ständig von Sirenen und der Notwendigkeit sich vor Raketen zu verstecken unterbrochen zu werden.  

Abschließend möchte ich sagen, dass ich daran glaube, dass in meinem Heimatland irgendwann Frieden einkehren wird. Wir werden die Ukraine wiederherstellen und uns ein neues Leben und Glück aufbauen. Unser Leben wird nie mehr dasselbe sein, aber ich glaube, dass uns eine strahlende und bessere Zukunft erwartet. Wie unser Philosophiedozent uns einmal gesagt hat: „Euer Krieg liegt noch in der Zukunft… und es ist der wichtigste Krieg… ihr seid unsere wissenschaftliche Elite und die Zukunft der Ukraine hängt von euch ab…“ 

Dies ist etwas, worüber wir nachdenken sollten.