Barfuß über glühende Kohlen

Der Anthropologe DIMITRIS XYGALATAS erforscht ekstatische Zeremonien auf der ganzen Welt. In Nordgriechenland traf er auf eine Gemeinde der Anastenaria, die das Ritual des Feuerlaufs praktizieren. In seinem Gastbeitrag erklärt er den Sinn hinter dem kollektiven Leiden.

In einem kleinen Dorf im ländlichen Griechenland versammelt sich eine Gruppe von Menschen in einem unscheinbaren rechteckigen Gebäude mit einem Terrakotta-Ziegeldach. Es hat die Größe eines Einfamilienhauses, besteht aber aus einem einzigen Raum, der groß genug ist, um ein paar hundert Menschen zu fassen, wenn sie sich dicht aneinanderdrängen. An diesem Tag ist es bis auf den letzten Platz gefüllt. In der Mitte sitzen ein paar Leute im Kreis und schwingen lethargisch zur Melodie einer Leier. Um sie herum befindet sich eine Menschenmenge, die die Szene schweigend beobachtet. Bald beginnen die Menschen im inneren Kreis zu singen. Doch die Stimmung ist nicht festlich. Ihre Gesichter sind düster, sie atmen schwer. Gelegentlich stoßen sie kalte Schreie aus, als würden sie von einer unsichtbaren Macht gequält. Der Raum macht einen kargen Eindruck. Außer ein paar Holzbänken gibt es keine Möbel. Auf einem kleinen Regal an der Wand stehen zwei mit roten Tüchern bedeckte Ikonen, ein Weihrauchfass und ein paar Kerzen. In der gegenüberliegenden Ecke sitzen eine Handvoll Musiker*innen. Bald vibriert der Raum von den Klängen zweier großer Ziegenfelltrommeln. Nach und nach stehen die Menschen auf und beginnen zu tanzen. Zunächst bewegen sie sich sehr langsam, machen nur wenige Schritte. Doch als das Trommeln intensiver wird, folgen ihre Körper dem Rhythmus und geben sämtliche Kontrolle ab. Die Ikonen werden unter den Tänzer*innen herumgereicht. Das scheint eine starke Wirkung auf sie zu haben. Sie weinen, schreien und wirbeln mit rollenden Augen durch den überfüllten Saal. Die Darbietung ist so stark, dass sie auch viele Zuschauer*innen zu Tränen rührt.

Als die Musik nach fast einer Stunde aufhört, scheinen die Tänzer*innen kurz vor dem Zusammenbruch zu stehen. Aber nach einer kurzen Pause wird der ganze Prozess wiederholt, wieder und wieder, und das fast drei Tage lang. In der letzten Nacht verlässt die Gruppe den Raum, um den Tanz draußen fortzusetzen, dieses Mal jedoch barfuß über einer Grube mit glühenden Kohlen.

Diese Szene habe ich zum ersten Mal im Jahr 2005 miterlebt, als ich mit den Recherchen für meine Doktorarbeit in Anthropologie begann. Der Schauplatz war das Dorf Agia Eleni, Heimat einer AnastenariaGemeinde. Das sind orthodoxe Christ*innen in Nordgriechenland und Bulgarien, die für ihre besondere Verehrung der Heiligen Konstantin und Helena bekannt sind. Diesen Heiligen wird nachgesagt, dass sie ihre Anhänger*innen zum Tanz zwingen, von ihnen Besitz ergreifen und sie schließlich unversehrt durch das Feuer führen.

Wenn sich der Himmel öffnet

Die Feuerlauf-Zeremonien spielten eine wichtige Rolle dabei, die Gemeinschaften der Anastenaria zusammenzuhalten, auch wenn sie im Laufe der Jahrhunderte mit Krieg, Exil, Verfolgung und anderen Problemen zu kämpfen hatten. Die Gläubigen betrachten ihre Rituale als Schlüsselmomente und unverzichtbaren Teil ihres Daseins. Dennoch ist der Feuerlauf eine turbulente Erfahrung, die von den Tänzer*innen mit den Worten »Anstrengung«, »Kampf« und »Leiden« beschrieben wird. Anastenaria bedeutet im Griechischen »die Seufzer«, was auf das emotionale Stöhnen während des Tanzes zurückzuführen ist.

Nicht selten berichten die Betroffenen von einem veränderten Bewusstseinszustand, in dem sie außergewöhnliche Visionen erleben. Eine Frau erzählte mir: »Als ich tanzte, öffnete ich die Augen, und die Decke war weg. Da war nichts mehr! Ich sah den Himmel, klar und blau. Ich sah die Engel in weißen Kleidern. Sie tanzten und sangen die große Doxologie*. Ich tanzte weiter und rief: Der Himmel hat sich geöffnet, und die Engel sind herabgestiegen! Sie singen!«

Als Anthropologe, der sich seit mehr als zwei Jahrzehnten mit Ritualen beschäftigt, bin ich bei verschiedenen ekstatischen Zeremonien auf ähnliche Erzählungen gestoßen. Oft werde ich gefragt, ob die Praktizierenden psychotrope Substanzen verwenden. Sind ihre Visionen etwa auf die Einnahme eines Halluzinogens zurückzuführen? Bewältigen sie die Schmerzen, die mit vielen dieser Rituale verbunden sind, dank des Konsums von Alkohol oder eines anderen Betäubungsmittels?

Zweifellos ist der Einsatz von Rauschmitteln in vielen Kulturen seit langem ein wichtiger Bestandteil religiöser Zeremonien. Im antiken Griechenland wurde etwa bei Riten ein Gebräu namens Kykeon verabreicht, von dem man annahm, dass es eine Trance herbeiführt. Auf mehreren Pazifikinseln wird bei wichtigen Ritualen ein psychoaktives Getränk aus der Wurzel der Kava-Pflanze getrunken. Und in Nordamerika sind Halluzinogene wie Peyote und Ayahuasca bei vielen Indigenen die zeremoniellen Drogen der Wahl.

Durch die Beeinflussung der Gehirnchemie können solche Substanzen starke Gefühle der Ekstase und Transzendenz hervorrufen, weshalb sie oft als Entheogene* bezeichnet werden, ein griechisches Wort, das soviel bedeutet wie »das Göttliche im Inneren erzeugen«. In einem 1962 in Boston durchgeführten Experiment brachten Forscher*innen eine Gruppe von Theologiestudierenden am Karfreitag in eine Kapelle und baten sie, vor dem Gottesdienst eine Substanz einzunehmen. Die eine Hälfte der Studierenden, die nach dem Zufallsprinzip ausgewählt wurde, erhielt den psychoaktiven Wirkstoff Psilocybin, der in sogenannten Magic Mushrooms enthalten ist. Die andere Hälfte nahm ein Placebo zu sich, mit einem Wirkstoff versetzt, der zwar ähnliche körperliche Empfindungen wie Hitze, Kribbeln und Juckreiz hervorruft, aber keine halluzinogenen Eigenschaften besitzt. Diejenigen, die die Droge einnahmen, berichteten von tiefgreifenden religiösen Erfahrungen in der Kapelle, und viele von ihnen empfanden diese Erfahrungen später als lebensverändernd. Die Personen aus der Kontrollgruppe erlebten dagegen nicht viele Phänomene der mystischen Typologie, und wenn, dann nur in geringem Ausmaß. Andere Studien haben seitdem ähnliche Wirkungen festgestellt.

Rituale ohne Drogen

Drogen sind allerdings nicht der einzige Weg zu spirituellen Erfahrungen. Manchmal können diese auch physiologisch herbeigeführt werden, und zwar durch die Funktion von gewissen Ritualen, den Körper und den Geist zu manipulieren. Indem sie die Bewegungen und die Körperhaltung der Praktizierenden, die Atmung oder die Sinneseindrücke steuern, wirken sie als natürliche Entheogene. Die Rituale, die ich untersucht habe, gehören meist zu dieser letzteren Art. Die Teilnehmenden an diesen Zeremonien nehmen keine Drogen. Tatsächlich müssen sie in der Regel für mehrere Tage vor der Zeremonie auf die Einnahme sämtlicher Substanzen, einschließlich Alkohol, verzichten. Die Auswirkungen der Zeremonien auf das Bewusstsein ähneln jedoch oft verblüffend jenen von chemischen Rauschmitteln. Nehmen wir zum Beispiel das Thimidi, ein schmerzhaftes hinduistisches Ritual, bei dem die Menschen nach einer anstrengenden, mehrstündigen Prozession unter der brennenden Sonne barfuß über glühende Kohlen laufen. In einer Studie über dieses Ritual auf Mauritius stellten meine Kolleg*innen und ich fest, dass sich die Teilnehmenden trotz der körperlichen Anstrengung nicht müde, sondern euphorisch fühlten. Diese Effekte deuten auf eine Erhöhung des Endorphinspiegels hin – Neurochemikalien, die für ein Phänomen verantwortlich sind, das als »Runner’s High« bekannt ist: das ekstatische Hochgefühl, das nach längerer Anstrengung auftritt und von dem Marathonläufer*innen oft berichten. Endorphine stehen unter anderem auch im Zusammenhang mit sozialer Bindung, was die verbindende Kraft dieser Rituale erklären könnte.

Andere Studien stellten fest, dass selbst einige der schmerzhaftesten Rituale positive Gefühle auslösen können. Beim Thaipusam Kavadi, das von Angehörigen des Volks der Tamilen auf der ganzen Welt durchgeführt wird, durchbohren Menschen ihre Körper mit Nadelspießen. Danach treten sie eine lange Pilgerreise an, bei der sie schwere Schreine auf dem Rücken tragen. Manche legen die Strecke sogar in Schuhen aus spitzen Nägeln zurück. Andere ziehen riesige Wägen an Haken, die an der Haut ihres Rückens befestigt sind. Mit Hilfe von tragbaren Sensoren konnten wir feststellen, dass diese Rituale außerordentlich viel Stress verursachen. Auffallend ist jedoch, dass sich dieser Stress schnell in positive Gefühle verwandelt. Je mehr Nadeln die Menschen in ihre Haut steckten und je mehr sie während der Prozession litten, desto mehr stieg ihr psychisches Wohlbefinden einige Wochen später.

Krankheit oder Heilung?

Es ist kein Zufall, dass ekstatische Rituale häufig als kulturelles Heilmittel für verschiedene Krankheiten verschrieben werden, insbesondere im Zusammenhang mit Angststörungen. Durch körperliche und sensorische Hyperstimulation kann das Belohnungssystem des Gehirns aktiviert werden, welches den Gehalt an Neurotransmittern wie Dopamin und Serotonin reguliert. So kann sie gesteigerte Empfindungen, eine bessere Stimmung und ein allgemeines Gefühl des Wohlbefindens erzeugen. Dieses System hat sich entwickelt, um unser Überleben zu sichern, etwa durch Nahrungsaufnahme und Paarung. Der oft erlebte Dopaminschub führt zu Glücksgefühlen und einem Gefühl tiefer Sinnhaftigkeit. Wenn der Serotonin- und Dopaminspiegel im Ungleichgewicht ist, kann es andererseits zu Angstzuständen, Depressionen und anderen psychischen Störungen kommen. Die meisten Antidepressiva zielen daher auf die Wiederherstellung des Serotonin- und Dopaminspiegels im Gehirn ab.

Es ist jedoch wichtig zu wissen, dass die Wirkung ekstatischer Rituale ebenso wie die ihrer pharmakologischen Gegenstücke stark vom Kontext abhängt. Erwartungen sind ausschlaggebend. Trance kann gelenkt, erlernt und herbeigeführt werden, und ein Großteil der tatsächlichen Erfahrung wird durch Interpretation gefiltert. Eine Halluzination allein zu erleben kann beängstigend sein, aber im Zuge einer gemeinschaftlichen Zeremonie kann sie wünschenswert sein. Was in einem Kontext als Krankheit angesehen wird, betrachten wir unter anderen Umständen als Segen. Die Anastenaria glauben, dass die Heilsuchenden leiden, weil sie von den Heiligen auserwählt wurden. Ihre Symptome sind nicht Ausdruck von Krankheit, sondern ein mühsamer, aber lohnender und ehrenvoller Weg, die Berufung der Heiligen anzunehmen.

*Doxologie: Fachwort der Liturgie, bezeichnet das Rühmen der Herrlichkeit Gottes, oft als Abschluss eines Gebets

*Entheogene: spirituell nutzbare halluzinogene Substanzen, Psychedelika

 

Dimitris Xygalatas ist Anthropologe und Kognitionswissenschaftler an der Universität von Connecticut, wo er das Labor für experimentelle Anthropologie leitet. Er erforscht u.a. Rituale und andere Formen der Gruppenzugehörigkeit und betrieb dafür mehrere Jahre lang Feldforschung in Südeuropa und im Indischen Ozean.