Die endlose Flucht vor der Realität von Jerzy Afanasjew

Der Krieg gegen Drogen gleicht einem ewigen Katz- und Mausspiel: Sobald eine Substanz verboten wird, kommt schon eine neue auf den Markt. In seinem Gastbeitrag zeigt der Aktivist JERZY AFANASJEW die Vielfalt des europäischen Drogenmarktes auf und fordert bessere Behandlung statt Bestrafung.

In einem verlassenen Bunker außerhalb der belarussischen Hauptstadt Minsk tanzen sich rund ein Dutzend Jugendaktivist*innen den Schweiß von der Stirn. Auf der Wand ist ein Graffiti mit der Aufschrift »PLUR« – Peace, Love, Unity, Respect. Es ist das Rave-Äquivalent zu den Zehn Geboten. Inmitten von Partylicht und Rauch taucht plötzlich ein Kommando der SOBR auf, eine Spezialeinheit der belarussischen Polizei. Sie kommt in voller Montur und mit Drogenspürhunden. So schildert Piotr Markielau diesen Freitagabend im Jahr 2018. Zusammen mit Freund*innen gründete er Legalize Belarus, eine lokale Organisation zur Reform der Drogenpolitik im Land. Die Polizei fand an diesem Abend keine Drogen. Vielmehr bewerteten Markielau und andere die Razzia als Versuch, pro-demokratische Aktivist*innen einzuschüchtern.

Anfang der 2010er Jahre wurden die sogenannten »Legal Highs« zu einem weit verbreiteten Phänomen. Dabei handelt es sich um synthetische Substanzen, die die Wirkung illegaler Drogen nachahmen sollen. Sie werden oft als Badesalze, Lufterfrischer oder Reinigungsmittel verkauft. Da die Substanzen meist nicht in Betäubungsmittelgesetzen erwähnt werden, sind sie zwar nicht illegal, aber deswegen kaum weniger gefährlich. Als Antwort auf ihre Verbreitung in Belarus errichtete der Diktator Aljaksandr Lukaschenka neue Arbeitslager und prahlte in einer Fernsehansprache damit, dass die Inhaftierten »darum beten werden, zu sterben«. Familienangehörige bezeichnen sie »Vernichtungsanstalten«. 2020 waren mehr als 12,000 Menschen in ihnen inhaftiert, die meisten wegen geringfügigen Drogenbesitzes, Artikel 328. Das geben zumindest ihre Mütter an, die sich in der Bewegung Mütter 328 zusammenschlossen. Die Strafen sind brutal, schon eine kleine Menge Marihuana kann zu neun Jahren Gefängnis führen. Jugendliche im Alter von 14 Jahren werden zu acht Jahren in Strafkolonien verurteilt, junge Erwachsene zu zehn Jahren oder mehr. Eigentlich dürften nur Dealer*innen strafrechtlich verfolgt werden. Doch wenn zwei Freund*innen beim Rauchen eines Spliffs erwischt werden, wird eine*r von ihnen wegen Beschaffung angeklagt.

Florierender Schwarzmarkt

Was das Regime dabei zu vergessen scheint: Es ist gerade die autoritäre Politik in Belarus, die junge Menschen zu illegalen Drogen greifen lässt, insbesondere Marihuana und neuartige Aufputschmittel. In der selbsternannten letzten Diktatur Europas »greifen die Leute zu Drogen, um der Realität zu entkommen«, sagt Markielau. »Die Situation in Belarus ist schrecklich, das Regime lässt sich mit dem Stalinismus vergleichen. Die Menschen sind deprimiert und die Gehälter sind niedrig. Alles ist grau, und immer mehr gehen weg.« Die klassischen Dealer*innen gibt es in Belarus aufgrund des Polizeistaates nicht wirklich, aber der Schwarzmarkt findet seine Wege. Einfache, dennoch hochtechnologische, verschlüsselte Nachrichten-Apps oder DarknetMarktplätze sind beliebte Hilfsmittel. Der Drogenhandel erfolgt durch die Weitergabe von Koordinaten für geheime Verstecke. Die Ware wird meistens vergraben und mit einem Magneten versehen.

Markielau zufolge wurde Legalize Belarus nicht dazu gegründet, eine Cannabisindustrie aufzubauen. Vielmehr verstehen die Aktivist*innen darunter eine Menschenrechtsplattform zur Unterstützung von stigmatisierten, gewaltlosen Gefangenen. Nachdem er selbst mehrfach bei demokratischen Protesten verhaftet wurde, etwa weil er ein Protestschild fotografierte, traf Markielau eine für ihn schwierige Entscheidung und ging ins Ausland – so wie 200.000 seiner Landsleute in den letzten zwei Jahren. Laut ihm würden viele von ihnen Cannabis oder andere Drogen nehmen, denn sie konnten zwar der Diktatur entkommen, doch nicht ihren Lastern. Isoliert in fremden Ländern und ohne Unterstützungsnetzwerke falle es vielen schwer, von psychoaktiven Substanzen loszukommen. »Jede Droge hat unterschiedliche Wirkungen und Nebenwirkungen. Bier trinke ich manchmal aus sozialen Gründen. Cannabis hilft mir, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren und macht mich weniger ängstlich. Hin und wieder nehme ich LSD. Und ein- bis zweimal im Jahr nehme ich Ketamin zur Behandlung von Depressionen«, erklärt Markielau die Gründe seines Konsums.

Not macht erfinderisch

Europas Drogenmarkt wächst. Allein in den vergangenen 25 Jahren wurden nach Angaben der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD) 880 völlig neue psychoaktive Substanzen festgestellt. Es überrascht nicht, dass das Verbot gewisser Drogen nicht zu den gewünschten Ergebnissen führte – denn jedes Jahr werden neue Verbindungen entwickelt und auf den Markt gebracht. Meist in China synthetisiert und daraufhin trotz Fehlens wissenschaftlicher Daten konsumiert, scheinen die neuen Psychoaktiva symptomatisch für den unwiderstehlichen Drang zu sein, andere Bewusstseinszustände zu erleben. Auch nach mehreren Wellen der Kriminalisierung gibt es noch immer einen beträchtlichen Online-Markt für Legal Highs.

Zuerst kamen die extrem starken und gefährlichen »Analoga« von TH C, dem Hauptwirkstoff von Marihuana. Gleichzeitig erschienen Aufputschmittel wie Mephedron. Weniger populär, aber ebenfalls bekannt sind verschiedene Alternativen zu Psychedelika und Dissoziativa. Als die Gesetze verschärft wurden, strömten immer neue Ersatzstoffe aus asiatischen Fabriken auf den Markt, was an ein Katz- und Mausspiel zwischen Herstellern und Regulierungsbehörden erinnert Im Laufe der Jahre orientierten sich die Hersteller von Legal Highs weniger an Partygeher*innen und konzentrierten sich dafür mehr auf Depressiva (»Downer«) wie Xanax oder sogar Heroinalternativen. Für den niederländischen Aktivisten der Gruppe Stichting Legalize! Carl-Cyril Dreue besteht die Attraktivität von Legal Highs in der Kombination von einem einfachen Zugang wie im Supermarkt und dem Vertrauen in die Qualität. »Natürlich ist es nicht dasselbe wie illegales Zeug, aber es ist auch in Ordnung.«

Denn wenn Ärzt*innen nicht bereit seien, ein Rezept auszustellen (in der Regel aus gutem Grund), greifen manche Menschen zur Selbstmedikation: Dissoziativa gegen Depressionen, Stimulanzien gegen ADHS, oder Benzodiazepine gegen Angstzustände. »Menschen nehmen Drogen aus einem bestimmten Grund. Wenn man leidet, möchte man, dass der Schmerz verschwindet. Offensichtlich gibt es viel Leid.« Als Dreue etwa vor Jahren »einen Scheißjob in Amsterdam« hatte, nahm er »Benzos«, um ihn zu vergessen. Glücklicherweise bemerkte er, dass er damit nur die Symptome, aber nicht ihre Ursache behandelte. Kurz darauf wechselte er seinen Job. Nicht zuletzt ist auch Spaß ein wichtiger Grund Legal Highs zu konsumieren. Wenn jemand nicht an Substanzen wie MDMA herankommt, ist der Anreiz zum Experimentieren groß. Manche suchen auch Alternativen zum teuren Alkohol.

Zurück zu fremden Wurzeln

Andere suchen nach Erfahrungen, die in der traditionellen Pflanzenmedizin verwurzelt und meist in Südamerika beheimatet sind. Am bekanntesten sind die geistig und körperlich »reinigenden« Ayahuasca-Zeremonien, bei denen die Teilnehmenden ein starkes, psychedelisches Gebräu trinken. Maciej Lorenc, ein polnischer Soziologe, Übersetzer und Schriftsteller, wollte eine derartige Zeremonie mit eigenen Augen sehen und nahm an einem »spirituellen Retreat« teil: »Weiße Menschen verkleiden sich als Indigene. Sie halten sich nicht streng an die Regeln der Ayahuasca-Rituale. Es ist eine Art New-AgePuzzle, man hört von Reinkarnation, Kristallen, Astrologie. Verschiedene religiöse und spirituelle Traditionen werden miteinander vermischt.«Seinen Beobachtungen zufolge kann man die Zeremonien keiner bestimmten Gruppe zuschreiben. Es kann sein, dass dort Prominente neben Arbeiter*innen liegen, die einzige Bedingung ist die Zahlung von 100–500 Euro.

Der Innovationsfaktor solcher Zeremonien hat nachgelassen, sodass mittlerweile ein ganzes Trippy-Buffet für Liebhaber*innen von indigenen psychedelischen Köstlichkeiten entstanden ist: Changa (rauchbar), Yopo (schnupfbar), Sassafras (natürliche Vorstufe zu MDMA/ »Ecstasy«) und sogar extrem überteuerter Kakao (mit angeblich energetisierender Wirkung). Der Global Drug Survey zufolge sind die Hauptgründe für das Experimentieren mit Psychedelika Wellness, psychische Gesundheit und persönliche Herausforderungen.

Behandlung statt Bestrafung

In den letzten Jahren hat sich eine sogenannte »psychedelische Renaissance« entwickelt, insbesondere seit 2019, als das Imperial College im Vereinigten Königreich und die Johns Hopkins University in den Vereinigten Staaten spezialisierte wissenschaftliche Zentren zur medizinischen Erforschung der Substanzen gründeten. Studien zeigen, dass die psychedelisch unterstützte Psychotherapie beeindruckende Ergebnisse erzielt, etwa bei der Behandlung von Posttraumatischen Belastungsstörungen mit MDMA und klinisch resistenter Depressionen mit Ketamin oder Psilocybin. In Europa und den USA ist Ketamin bereits für psychiatrische Zwecke erhältlich, MDMA wird voraussichtlich 2024 und der Wirkstoff Psilocybin aus Zauberpilzen gegen 2026 legal zugänglich sein.

Um nachhaltige Ergebnisse zu erzielen, arbeiten Wissenschafter*innen an der Erstellung von Sicherheits- und Wirksamkeitsprotokollen für diese Pharmakotherapien. Dazu gehören auch ausführliche Sitzungen zur Vor- und Nachbereitung sowie eine ganztägige Behandlungsbetreuung. Selbst die besten Ergebnisse sind schwer aufrechtzuerhalten, da die Patient*innen unweigerlich in ihr alltägliches Umfeld zurückkehren und einen Rückfall erleiden können. Nichtsdestotrotz »ist der medizinische Weg wahrscheinlich wirksamer und sicherer als der illegale«, so der Soziologe Lorenc.

Nach über 50 Jahren Krieg gegen die Drogen verlieren immer noch viele ihre Freiheit wegen ihres Konsums. Und das nicht ohne Grund: Trotz der ernsten Risiken von Sucht, Überdosierung oder Inhaftierung können Drogen vorübergehend menschliche Bedürfnisse wie Selbstmedikation, Realitätsflucht oder Experimentieren befriedigen. Ein neuer Ansatz ist längst überfällig. Es ist verrückt, dieselben Fehler immer zu wiederholen und ein anderes Ergebnis zu erwarten. Psychoaktive Substanzen werden niemals verschwinden. Sie sind in unserer Natur verankert. Ein Motto des spanischen Analyselabors für Substanzen Energy Control besagt: Drogen sind wie Energie. Sie können nicht zerstört, sondern nur kontrolliert werden. Die Gesellschaft muss den Schwerpunkt verlagern – weg von der Bestrafung der Konsument*innen hin zu mehr Aufklärung, Behandlung und Tests zur Drogensicherheit. Wenn Milliarden von Menschen damit einverstanden sind, sich ein COVID-Abstrichstäbchen in die Nase stecken zu lassen, können wir sicher auch solche Herausforderungen in Angriff nehmen.

 

Jerzy Afanasjew ist Aktivist und setzt sich seit Jahren für mehr Aufklärung im Umgang mit Drogen ein. Er studierte am Institut für Angewandte Sozialwissenschaften der Universität Warschau und arbeitete u.a. zu Fragen psychoaktiver Substanzen bei der Social Drug Policy Initiative in Polen. Er stellt Tests zur Überprüfung der Zusammensetzung und Sicherheit von Substanzen her und gibt Kurse zum Thema.