Biodiversität: Mehr als nur Artenvielfalt

Vom großflächigen Ökosystem bis zur DNA einzelner Arten: Vielfalt zeigt sich auf verschiedenen Ebenen. Für effektiven Naturschutz bedeutet das, der Komplexität mit verstärkter Forschung zu begegnen. Die NaturschutzbiologInnen Julia GEUE und Henri THOMASSEN erklären, was es braucht, um Vielfalt als Ganzes zu begreifen.

Was stellen Sie sich unter Biodiversität vor? Vielleicht denken Sie an einen Regenwald mit all seinen verschiedenen Tier- und Pflanzenarten. Unddas zu Recht, denn Regenwälder gehören zu den »vielfältigsten« Regionen der Welt, wenn es um die Anzahl der dort lebenden Arten geht! Aber biologische Vielfalt ist mehr als die generelle Anzahl und Vielfalt von Arten. Sie umfasst auch die Fülle an Arten, die in einem speziellen Gebiet zusammenleben und darin miteinander interagieren, sowie die Diversität der Ökosysteme. Auf der kleinsten Ebene umfasst sie all die verschiedenen Gene und ihre Formen wie sie in der DNA von Lebewesen vorhanden sind. Ein Gen ist jener Teil der DNA, welcher ein bestimmtes Merkmal bedingt. Die verschiedenen Formen von Genen werden Allele genannt. So kann beispielsweise ein Gen, das die Blütenfarbe bestimmt, in seiner einfachsten Form eine von zwei verschiedenen Formen (Allele) annehmen: eine Form für weiße und eine Form für rote Blüten. Gene bestimmen also das Spielfeld, innerhalb dessen ein Organismus jede beliebige Form annehmen kann. Ohne Variation in Genen und Allelen gäbe es keine Vielfalt zwischen Individuen, Arten oder Ökosystemen. Die unterschiedlichen Formen von Allelen kommen durch den Prozess der Zellteilung zustande, bei dem die DNA des Organismus repliziert wird. Wenn jedoch beim Kopieren der Erbinformation Fehler passieren, sprechen wir von Mutationen. Sie sind dann die Quelle neu entstandener Vielfalt. Einige Mutationen können für das Individuum nachteilig (negative Mutation), andere wiederum von Vorteil (positive Mutation) sein. Eine »positive Mutation« kann etwa dazu führen, dass ein Beutetier schneller läuft als ein Raubtier. Das ermöglicht ihm einen Vorteil zu anderen, langsameren Tieren derselben Art. Es kann aufgrund seiner Überlebensfähigkeit mehr Nachkommen aufziehen, seine vorteilhafte Mutation an zukünftige Generationen weitergeben und damit ebenfalls schnelle Läufer in die Welt setzen. Dieser Prozess wird als Natürliche Selektion bezeichnet. Die Individuen mit dem vorteilhaften Allel sind besser angepasst als die ohne.

Eine Frage der Priorität

Der biologische Reichtum unserer Erde ist durch menschliches Handeln stark bedroht. Verschmutzung, Überfischung, Zerstörung von Lebensräumen, Klimawandel usw. Die Liste der Bedrohungen ist lang und wohlbekannt. Obwohl die ethischen Überlegungen zum Verlust der biologischen Vielfalt von Person zu Person unterschiedlich sind, gibt es viele objektive Gründe, warum der Verlust der biologischen Vielfalt schlecht für uns Menschen ist. Um nur einige ihrer Leistungen zu nennen: Viele Insektenarten bestäuben Nutzpflanzen und sorgen damit für Essen auf unseren Tellern; ein gesundes Ökosystem kontrolliert die Arten, die wir als Schädlinge betrachten; Mikroorganismen tragen zur Reinigung der Umwelt bei; Mangroven und Korallenriffe schützen unsere Küstengebiete; Zeit in der Natur zu verbringen ist gut für unsere mentale Gesundheit uvm. Es liegt also in unserem Interesse, die biologische Vielfalt zu schützen und dafür zu sorgen, dass sie nicht völlig verloren geht. Aber wie können wir entscheiden, was wir zuerst schützen und worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten sollen? Es gibt eine lange Reihe an verschiedenen Formen der Prioritätensetzung beim Schutz der biologischen Vielfalt. Wichtig dabei ist, dass die meiste Aufmerksamkeit bisher nur einem Teil der biologischen Vielfalt gewidmet wurde: der Artenvielfalt. Gebiete, in denen es viele Arten gibt, sind Hotspots des Artenreichtums und werden gegenüber anderen, weniger artenreichen Gebieten bevorzugt. Das ist sehr sinnvoll, denn der Schutz von Hotspots schützt viele Arten auf einmal und ist damit eine effiziente Strategie. Die Idee ist also, dass die biologische Vielfalt auf Dauer erhalten bleibt, solange wir genügend Land zur Verfügung stellen, um alle vorhandenen Arten zu schützen. Aber was passiert, wenn die Verschmutzung der Umwelt in Naturschutzgebiete vordringt? Was, wenn der Klimawandel die Naturschutzgebiete wärmer und trockener macht? Was, wenn sich die Lebewesen dieser Gebiete nicht gut an die neuen Bedingungen anpassen, wenn sie nicht über jene Allele verfügen, die ihnen den nötigen Vorteil verschaffen, wenn das Klima extremer wird? Diese Individuen würden es trotz engagierten Artenschutzes nicht schaffen, und die Art (der sie angehören) könnte an den Rand des Aussterbens gebracht werden. Hätten einige Individuen das nötige Allel, könnten sie sich besser an wärmere und trockenere Bedingungen anpassen. Durch ihre Nachkommenschaft hätten nicht nur sie, sondern auch die gesamte Art bessere Chancen, langfristig zu überleben. Mit diesem Beispiel wollen wir zeigen, wie wichtig es ist, nicht nur die Arten zu schützen, sondern auch die genetische Vielfalt innerhalb dieser Arten – all die verschiedenen Allele von Genen. Ein zentraler Schritt besteht in der Kartierung der genetischen Vielfalt. Doch die genetische Variation und ihre Verteilung über das Verbreitungsgebiet einer Art zu ermitteln, ist keine leichte Aufgabe. Bei den meisten Arten, abgesehen von beliebten und faszinierenden Arten wie den Vögeln, wissen wir oft nicht einmal genau, wo sie vorkommen, geschweige denn, wie ihre genetische Variation verteilt ist. Richten wir den Fokus auf eine weitverbreitete Vogelart wie den Haussperling, wissen wir genau wo dieser vorkommt und können dadurch auch die genetische Vielfalt an verschiedenen Standorten kartieren. Diese genetische Vielfalt kann man anschließend mit Umweltvariablen verknüpfen und somit über das gesamte Verbreitungsgebiet übertragen. Das Verstehen von genetischen Verbreitungsmustern ermöglicht Einblicke in evolutionäre Prozesse, etwa die genannte Natürliche Selektion. Mit diesem Verständnis können WissenschaftlerInnen nachvollziehen, wie sich Veränderungen in der Umwelt auf die biologische Vielfalt (besonders auf die genetische Vielfalt) auswirken. Das ermöglicht es schließlich, angemessene Maßnahmen zur Erhaltung und bessere Managementpraktiken zu ergreifen.

Forschung für gezielten Naturschutz

Biodiversität ist ein sehr komplexes Konstrukt, und häufig ist es nicht möglich, die gesamte biologische Vielfalt auf diese Weise zu erfassen. Daher sind Wissenschaft und Naturschutz häufig auf den Einsatz von sogenannten Biodiversitäts-Stellvertreter-Indikatoren (Biodiversity surrogates) angewiesen. Darunter verstehen wir Maßstäbe für die biologische Vielfalt, die hoffentlich auch andere Ebenen der biologischen Vielfalt repräsentieren. So können beispielsweise Gegenden mit einem Reichtum an Vogelarten auch viele Amphibienarten aufweisen oder insgesamt Hotspots für eine große Vielfalt an Ökosystemen/Habitaten darstellen. Allerdings wissen wir auch, dass diese Überschneidung leider nicht immer der Fall ist. Eine Studie zur Verwendung der genannten Stellvertreter-Indikatoren in Rumänien hat gezeigt, dass wir nur bedingt darauf vertrauen können. In dieser Studie wurden zwei von insgesamt drei Biodiversitätslevel untersucht, darunter die Vielfalt der Arten und Ökosysteme. Wir identifizierten Hotspots mit einem Reichtum von 137 verschiedenen Vogelarten und verglichen sie mit jenen Gegenden, die eine hohe Vielfalt an Habitaten aufweisen. Die Hotspots haben sich nur teilweise überschnitten, weshalb sie weniger effizient als gegenseitige Maßstäbe für Biodiversität dienen als ursprünglich angenommen.

Genetische Vielfalt untersuchen

Nun stellt sich die Frage, ob Hotspots des Artenreichtums auch Hotspots der genetischen Variation sein könnten. Die Antwort steht noch aus, aber es scheint zumindest keine allgemeingültige Aussage zu geben. Die Aufgabe der Forschung besteht also darin, die genetische Variation, den Artenreichtum und die Vielfalt der Lebensräume und Ökosysteme zu kartieren und in der Folge die Erkenntnisse bei der Festlegung von Naturschutzgebieten und deren Erhaltung zu berücksichtigen.

 

Henri Thomassen ist Naturschutzbiologe an der Universität Tübingen (Deutschland) und arbeitet an der Schnittstelle zwischen Evolutionsbiologie, Ökologie und Naturschutz. Sein besonderes Interesse gilt dem Verständnis und dem Schutz der genetischen Vielfalt. Er hat in vielen Regionen der Welt gearbeitet, konzentriert sich aber derzeit auf Osteuropa und Deutschland.

Julia Geue ist Naturschutzbiologin und arbeitet an der Universität Umeå (Schweden). Ihr Hauptinteresse gilt der Zusammenführung von verschiedenen Forschungsbereichen, wie der Evolutionsökologie, Genetik und der Erhaltung der biologischen Vielfalt. Sie hat bisher mit unterschiedlichen Arten von Vögeln, Hummeln und Nadelbäumen in verschiedenen Regionen Osteuropas und Eurasiens gearbeitet.