Die Zukunft von Bosnien und Herzegowina? Aus der Sicht der betroffenen Eliten

Eine Studie über die Einstellungen und Meinungen von Vertretern führender Bevölkerungsgruppen in Bosnien und Herzegowina zur zukünftigen Entwicklung ihres Landes

Projektziel:

 

Projektträger: IDM – Institut für den Donauraum und Mitteleuropa, Wien; Autoren der Studie: Dr. Alfred C. LUGERT, fmr. Associate Professor of Political Science, University of New Orleans, und Prof. Dr. Werner VARGA, Univ.- Lektor an der Wirschaftsuniversität Wien. Finanziert durch den Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank

 

Teil A. Analysen und Forschungsbericht von Dr. Werner Varga

„Wir haben alle verloren“, so lautet ein Tenor der Befragten. Angesichts dessen scheint das Leben im alten Jugoslawien wie ein verlorenes Paradies – dort gab es, was es heute kaum gibt: Sicherheit – physisch und materiell, Arbeitsplätze und Zukunftsaussichten aufgrund der gesicherten Sozialleistungen, aber auch Reisefreiheit. Dieses „goldene Zeitalter“ ist vorüber. Besonders betroffen sind die Befragten davon, dass Länder, die (in ihrer Entwicklung) deutlich hinter BiH rangierten, jetzt vor dem Land liegen und – wie Rumänien und Bulgarien – nunmehr vor der Aufnahme in die EU stehen, während das eigene Land nicht einmal die Zusage zu Beitrittsverhandlungen erreichen konnte. Ausgangspunkt dieser retrograden Entwicklung bildete die Politik Milosevics, mit ihrer anti-demokratischen, nicht marktwirtschaftlichen Ausrichtung, die den Ansatz, eine Konföderation zu bilden, versperrte. Aus der Sicht vieler – meist muslimischer Politiker – ergab sich daraus zwischen 1988 und 1992 ein „window of opportunity“, das es rasch zu nützen galt. Die serbische Seite sah hingegen keine dringende Notwendigkeit zu raschen Veränderungen. Sie hatten „ihr Jugoslawien“. In dieser Zeit kam es wohl auch zu einer Fehleinschätzung auf Seiten der EU. „Es war so, dass die EU uns zu jener Zeit drängte, ein Referendum abzuhalten. Anschließend zeigte sie uns den Rücken.“, sagt einer der muslimischen Zeitzeugen. Damit war die sich bildende junge Demokratie – mit ihren neu entstehenden Parteien –überfordert. Zudem war kurz zuvor die „völlige Gleichberechtigung der Völker im Präsidium von BiH, ohne Rücksicht auf ihre Zahl“ beschlossen worden. Dies ist bis heute eines der theoretisch und praktisch ungelösten Probleme des Landes, die Überschneidungen zwischen dem kollektiven, die Nationalität bewahrenden Rechtsansatz und dem demokratischen, auf den Einzelnen ausgerichteten Bürger-Recht. Im Dayton-Friedensschluss festgeschrieben, blockieren die Vitalen Nationalen Interessen (kollektiver Rechtsansatz) die Entwicklung und Organisation des Staates. Die „monströsen Strukturen des bosnischen Staates“ sind eines der Resultate, das Fehlen eines „bosnischen Bürgers“ ein weiteres. „Ich weiß nicht, von welchem Bürger sie reden“, war eine der Antworten, „vom Bürger Serben, von den Bürgern Kroaten, den Bürgern Bosnijaken-Muslime oder jenen, denen die Nationalität kein Anliegen ist“. Die sog. Internationale Gemeinschaft (IG) sehen die bosnischen Gesprächspartner als ein Problem sui generis. Viel zu häufig, so wird geklagt, werden die Interessen der einzelnen Länder vertreten, die einander entgegengesetzt oder zumindest nicht kompatibel sind. Im Rechtssystem z.B. wollen die USA anglo-sächsisches Recht angewendet sehen, die Europäer das kontinentale Rechtssystem. Während die USA die Gesamtheit der Medien privat sehen wollen, passen den Europäern öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten durchaus ins Konzept. Zwar wird generell anerkannt, dass das Office des High Representative notwendig war, aber nicht alle sind der Meinung, dass es noch immer notwendig ist. Die Machtfülle des OHR ist insofern ein Ärgernis, als der HR sie nicht entschieden einsetzt. Dazu kommt, dass diese „Machtfülle“ (Bonn-Powers) nicht das Produkt eines konsistenten Plans, sondern ein Stückwerk einzelner ad hoc Entscheidungen ist. So hat das OHR den Friedensvertrag als „Dayton proper“ mit Klauen und Zähnen geschützt, und jene aus ihren Ämtern entfernt, die dagegen opponierten. Heute wird „Dayton proper“ vom OHR nicht nur nicht verteidigt, sondern die Beachtung der „Europäischen Werte“ erwartet. Aber gerade die Werteübereinstimmung innerhalb der sog. Internationalen Gemeinschaft ist oft nicht gegeben. Generell ist festzustellen, dass das OHR außerhalb jeglichen Rechtrahmens agiert – seine Entscheidungen nicht transparent sind, und er durch den „Sintra Peace Implementation Council (PIC) zu wenig kontrolliert wird. (Ein Land zur Demokratie zu führen ist kein Halbtags-JOB!). Wir sind nicht AFRIKA! Dieser Ausspruch eines Interviewpartners steht für ein weiteres Dilemma der IG: der Qualität und dem Auftreten ihrer, meist jungen, Repräsentanten. Die Klage wird darüber geführt (neben der Arroganz der Jugend im Auftreten), dass häufig junge Theoretiker, Universitätsabgänger lediglich mit Lehrbuchwissen sendet, während man Praktiker benötigen würde, das theoretische Wissen sei vorhanden, „wir sind ja nicht in …..“ Ein Neustart BiHs bedarf der Versöhnung – davon zeigen sich viele überzeugt. Doch Verbrechen und Verbrecher müssen bestraft werden. Es waren nicht „die …“Serben“, „die Kroaten“ die Muslime“, sondern Einzelne. Gefordert wird eine „objektive Wahrheit“. Was ist Propaganda, was Wahrheit – dies ist vielen nicht klar. Darüber hinaus benötigt der „Bosnier“ eine verbesserte Kommunikation zwischen den Nationalitäten..

Teil B. Analysen und Forschungsbericht von Dr. Alfred C. Lugert

BIH und die nationale Frage: Ein zukunftsorientierter Lösungsansatz der nationalen Frage und der Reduktion eines antagonistischen Nationalismus, wird – abgesehen von der grundlegenden Verbesserung der wirtschaftlichen Lage – auch in der Verbesserung der unsicheren emotionalen Befindlichkeit der Befragten in ihrer eigenen Volksgruppe, sowie in der wechselseitigen Respektierung der Volksgruppen und ihrer Kultur und unterschiedlichen Bezeichnung der Landessprache(n) gesehen.

Beziehungen zu den Nachbarstaaten: Eigenpositionierungen und positive und negative Einstellungen zu den Nachbarländern Kroatien und Serbien (SCG) zeigen deutliche nationale Differenzierungen, sowie auch eine – trotz aller mentalen Vorbehalte vorhandene – Identifikation mit dem staatlich definierten Territorium BIH. Die Zukunft von BIH wird auch im hohen Maße in der Abhängigkeit von der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung in Serbien und in Kroatien (auch hinsichtlich EU, Kosovo, Montenegro etc.) gesehen. Mediensituation: Die Mediensituation wird meistens negativ gesehen. Den Medien in Bosnien und Herzegowina wird ein sehr grosser nationaler bis nationalistischer Einfluss auf die Bevölkerung zugesprochen; besonders wird aber auch zwischen den politischen Entscheidungsträgern und den Medien ein besorgniserregender starker wechselseitiger Einfluss gesehen. Ein Übergang vom früheren Mediensystem in Ex-Jugoslawien ist – wie in anderen gesellschaftliche Bereichen – in seiner ganzen Dimension schwer zu verarbeiten. BIH Regierungen, Politiker und politische Parteien: Die Beurteilung der verschiedenen Regierungen für die Zukunft des Landes fällt insgesamt schlecht aus. Die negativsten Stellungnahmen und Bewertungen erhielt die Regierung des Gesamtstaates von BIH. An zweiter negativer Stelle folgen die Regierungen der beiden Entitäten. Kantonsregierungen, die es nur in der Föderation von Bosnien und Herzegowina gibt, werden etwas besser beurteilt. Mehrheitlich positiv hingegen ist die Beurteilung der Bezirksverwaltungen. Den Politikern und den Parteien wird die Fähigkeit das Land in eine bessere Zukunft zu führen in den allermeisten Fällen abgesprochen. Nicht die internationale Gemeinschaft sollte die Hauptverantwortung für die Zukunft des Landes haben, sondern die Bürger des Landes selbst.

BIH und die Internationale Gemeinschaft:

Die überwiegende Mehrheit meint, dass die Ausländer die Probleme von BIH nicht verstehen. Die Leistung der Internationalen Gemeinschaft zur Lösung der Probleme in Bosnien und Herzegowina wird sehr differenziert, positiv und negativ, beurteilt. Oft wird die Meinung ausgesprochen, dass ein tatkräftiges Eingreifen der Internationalen Gemeinschaft den Krieg hätte verhindern können. Hier wird besonders die EU (resp. EG) sehr kritisiert. Die USA konnte mit ‚Dayton‘ den Krieg stoppen, ohne aber eine wirklich weiterführende Konzeption für Bosnien und Herzegowina zu erreichen. Die führend genannten Länder bei ihrer politischen Unterstützung und Hilfeleistung sind der Reihe ihrer Häufigkeit nach: An erster Stelle die USA, gefolgt von Österreich, EU-Staaten generell, Deutschland, Grossbritannien und Frankreich. Insgesamt findet man die Befürworter einer hauptsächlich europäischen Anbindung für die Zukunft – sowie die Befürworter einer gemischten Europa + USA Anbindung von Bosnien und Herzegowina – zu ungefähr gleich großen Teilen. Die zukünftige politische Organisation und Struktur von BIH: Bosnien und Herzegowina als akzeptierter ‚eigener‘ Staat wird in Frage gestellt. Nur ein geringer Teil der Befragten – meist sind es nur bosnische Serben – sind mit der derzeitigen. von ‚Dayton‘ vereinbarten politischen Organisation und Struktur des Landes in Form von zwei Entitäten halbwegs zufrieden. Am häufigsten genannt wird die Änderung der gegenwärtigen innerstaatlichen Struktur zu Gunsten einer ‚Regionallösung‘ durch Schaffung mehrerer – meist 5 – Regionen, die entweder ethnisch-nationale Mehrheiten beinhalten, oder aber nach rein ökonomischen und historisch-geographischen Gesichtspunkten zu bestimmen sind. Bildung und Schulen: Das Schulsystem ist eines der sozialen Felder, die eine sehr hohe Priorität in der Aufmerksamkeit und Besorgnis der Befragten einnimmt. Rund die Hälfte der Befragten sind mit dem Schulsystem unzufrieden. Der Wunsch die nationale Frage zu lösen, der Wunsch nach Erreichung der innerstaatlichen Toleranz – auch bei Trennung der Schulsysteme – sowie der Wunsch nach international anerkannter Qualität zum Wohle der jungen Menschen, wird deutlich. Die Versuche der Internationalen Gemeinschaft – und hier vor allem der OSZE – werden meist sehr negativ-kritisch beurteilt.

  • ProjektleitungUniv. -Prof. Dr. Ingfrid Schütz-Müller, Universität Wien