Speak Up! Meeting in Sarajevo

From 3 to 5 April 2025, the Speak Up! Meeting took place in Sarajevo, Bosnia and Herzegovina, implemented by Idemo!, IDM, the Austrian Foreign Ministry, Erste Foundation and the US Embassy. For the fifth time, the workshop brought together young political leaders from various political parties in BiH to discuss key issues and identify priority areas for the country’s future.  

During a reception at the Austrian Embassy in Sarajevo on 3 April, hosted by Austrian Ambassador Georg Diwald, the group had the opportunity to meet with Austrian Foreign Minister Beate Meinl-Reisinger, who emphasized Austria’s continued support for the EU accession of the Western Balkan countries.  

On 4 April, participants engaged with a range of experts and activists from BiH as well as Austria. Sebastian Schäffer moderated a discussion with Austria’s Special Envoy for the Western Balkans Ambassador Ulrike Hartmann about the Austrian View on the Status quo in BiH. The following session with Katarina Tadić (Programme Manager at the European Fund for the Balkans) on how to build a compelling narrative for funding applications, was moderated by Sophia Beiter. Kambis Kohansal Vajargah (Head of Startup-Services and Deputy Head of Founder-Services at the Austrian Federal Economic Chamber) shared insights about economic cooperation on start up level, Stefan Sengl (Skills Group) introduced the participants to the fundamentals of political campaigning and activists from the movement Karton Revolucija presented their work.  

We would like to thank everyone for their dedication to this project and especially Teresa Reiter for her continuous support! 

 

Die Zukunft ist noch nicht vorbei!

Arbeitslosigkeit, Ausgeschlossenheit, multiple Krisen: Die Jugend in den ex-jugoslawischen Ländern scheint perspektivlos. PIA BREZAVŠČEK zeigt, wie Künstler*innen mit Blick in die Vergangenheit die Zukunft zurückerobern.

Womöglich sind Sie mit dem Futurismus bekannt. Die in Italien begründete Kunstströmung verbreitete sich Anfang des 20. Jahrhunderts zuerst in Europa und schließlich auch über den Kontinent hinaus. Doch haben Sie auch vom Jugofuturismus (Yugofuturism, YUFU) gehört? Im kommenden versuche ich, Ihnen die künstlerisch unausgeschöpften Potenziale dieses Konzepts zu erläutern, das auch unserer Jubiläumsausgabe der Zeitschrift Maska ihren Namen schenkte. 

Maska ist ein über 200 Jahre altes Institut für Verlagswesen und Performancekunst in Slowenien. Nach der 22-jährigen Leitung durch den Künstler Janez Janša* traten wir als neues Team seine Nachfolge an. Wir gehören zu einer Generation, die Jugoslawien nie bewusst miterlebte. Dennoch haben wir Erfahrungen zweiter Hand: die noch existierende Infrastruktur und Architektur, die Geschichten unserer Eltern und Großeltern. Sie wuchsen in einem multiethnisch und sozialistisch geprägten Umfeld auf, in dem die Menschen größtenteils glaubten, eine gemeinsame Zukunft aufzubauen. Wir hingegen sollten globalisierte Kinder einer neugeborenen Republik Slowenien werden. Im Gegensatz zu anderen Nachfolgestaaten Jugoslawiens war unser Abschied vom alten Staat nicht allzu traumatisch, doch der Enthusiasmus für einen neuen slowenischen Nationalstaat wurde durch die Privatisierung und die spätere Finanzkrise schnell gedämpft. Die Wende hat unsere Zukunft abgeschafft. Vor allem Millennials und jüngere Generationen verloren durch die Transformation zum Kapitalismus den Glauben an den „Fortschritt“. Ökologische und politische Krisen lassen uns vielmehr einen Weltuntergang erahnen. 

Der Appell in Form des Jugofuturismus beruht dennoch nicht auf einem Gefühl der Nostalgie. Jugoslawien zerfiel auf eine brutale Art und Weise, was kaum die Folge eines perfekten Staatsmodells sein kann. Der Staat war nicht frei von Nationalismen, Chauvinismus und Aufhetzung – Aspekte, die wir nicht vermissen. Doch in der damaligen Multiethnizität, im sozialistischen Feminismus, im Prinzip der Gleichheit aller Menschen und dem Recht auf ein sinnerfülltes Leben und Freizeit sowie im sozialen Wohnbau sehen wir eine Fülle unausgeschöpfter Potenziale. Jugofuturismus soll kein neues politisches Programm für die Zukunft sein, er ist das Politikum an sich, wieder an die Zukunft zu glauben. Er gibt den Mut, uns die Mitgestaltung der Welt anzueignen und uns nicht einfach den Regeln eines hegemonialen Plans anzupassen. Seit unserer Jubiläumsausgabe 2020 haben wir daher eine Vielzahl unterschiedlicher Projekte realisiert. Autor*innen aus dem ehemaligen Jugoslawien, Bulgarien und dem Vereinigen Königreich trugen bisher mit künstlerischen oder theoriebezogenen Artikeln zu unserer Zeitschrift bei. 2021 organisierten wir eine Konferenz auf der 34. Biennale für grafische Künste in Ljubljana, die dem jugoslawischen Technologiekonglomerat Iskra Delta gewidmet war. Eine weitere Konferenz fand 2022 auf dem Internationalen Theaterfestival BITEF in Belgrad statt. Da wir unser Projekt allen Interessierten zugänglich machen möchten, richteten wir mit der Open Source Programmierergruppe Kompot eine Internetseite ein. Hier kann jede*r Gedanken zum Jugofuturismus teilen und direkt neue Konzepte hinzufügen oder bestehende bearbeiten. So entsteht ein kollaboratives, dezentralisiertes „jugofuturistisches Manifest“. 

Peripherie empowern 

In Anlehnung an das Konzept des Afrofuturismus kann eine weitere politische Dimension auf den Jugofuturismus angewendet werden: Ethnische oder anderweitig marginalisierte Gruppen haben die künstlerische Kraft, Identitäten und Gesellschaften wiederherzustellen oder zu reparieren, die als zukunftslos und rückständig bezeichnet werden. Die Nachfolgestaaten Jugoslawiens unterschieden sich teilweise stark in Bezug auf ihre wirtschaftliche Situation und die Einbindung in die EU. Doch ihnen allen ist eine gewisse Zukunftslosigkeit gemein, die sich in Jugendarbeitslosigkeit, Abwanderung und Wirtschaftsmigration zeigt. Viele haben zudem das Gefühl nur am Rande Europas zu existieren. Aus dieser Perspektive kann der Jugofuturismus eine kreative Erinnerung daran sein, dass eine besondere Kraft in der Einheit liegt. Durch Nationalismen zersplitterte und durch Eurozentrismus entfremdete Menschen können wieder zusammenfinden. Die Autorin Ana Fazekaš schreibt in Maska dazu, dass wir die überwältigenden Gefühle des Zurückbleibens und der Hoffnungslosigkeit nicht bekämpfen, sondern annehmen sollten. In der Akzeptanz dieser Gefühle kann eine gewisse Befreiung liegen, da wir unser Verlierertum endlich bejahen und es nicht mehr schamhaft zu verstecken versuchen. 

Zwischen Utopie und Dystopie 

Nichtsdestotrotz ist Jugofuturismus eine Frage und keine Antwort. Wir versuchen einen kreativen Funken zu entfachen, und Anlässe zu bieten, um sich wieder interregional zu vernetzen. Für die Nachkriegsgenerationen gab es bisher kaum derartige Möglichkeiten. 

Da Maska auch ein Institut für künstlerische Produktion im Bereich der performativen Künste ist, veröffentlichten wir 2022 eine offene Ausschreibung für eine jugofuturistische Performance. Schließlich wurde das Stück „How well did you perform today?“ der bosnischen Performance-Künstlerin Alma Gačanin beim YUFU Cycle Event im Jänner dieses Jahres uraufgeführt. Es zeigt eine feministische Dystopie, die in einem Fitnessstudio der Zukunft spielt. In dem Stück werden sexuelle, emotionale und ausbeuterische Dimensionen der Arbeit erforscht. Außerdem beauftragte Maska Performer*innen und Forscher*innen, sich mit der Idee einer alternativen Zukunft des Künstlers und Forschers Rok Kranjc auseinanderzusetzen: In „Future 14b“ führte ein Alien durch den „Krater“, eine verlassene Baustelle in Ljubljana, und zeigte Stationen unserer utopischen und dystopischen Zukunft. 

In Zusammenarbeit mit Radio Študent, dem ältesten unabhängigen Radio in Europa, entstand zudem eine Reihe von Sendungen und kurzen Experimentalfilmen. Sie handeln von wichtiger Infrastruktur wie Straßen und Eisenbahnen in postjugoslawischer Zeit, Roadtrips der „verlorenen Generation“ und von Kultmodestücken wie den Trainingsanzügen aus den Achtzigern, die heute recycelt werden und wieder im Trend liegen. Für letzteres Projekt arbeiteten wir mit dem Lehrstuhl für Textil- und Modedesign der Fakultät für Natur- und Ingenieurwissenschaften zusammen. Innerhalb eines Semesters verwandelten Studierende alte Trainingsanzüge in Designerstücke zum Thema Jugofuturismus.  

Für uns steht Jugofuturismus erst am Anfang. Mit unserer partizipatorischen Webseite und weiteren künstlerischen und interdisziplinären Initiativen möchten wir den Funken der Kreativität immer wieder neu entfachen und Wege für sinnvolle interregionale und internationale Verbindungen schaffen. 

 

Janez Janša (geboren Emil Hravtin) ist einer von drei slowenischen Künstlern, die sich 2007 nach dem rechtspopulistischen Politiker und ehemaligen Ministerpräsidenten Sloweniens umbenannten. 

“I, Robot”: Science and Learning in the Digital Era. Presentation of the DRC Strategic Foresight Project

IDM in cooperation with the School of Economics and Business, University of Sarajevo

The Covid-19 crisis proved to be a significant impetus in the long-term trend of digitalisation in higher education and learning. Distance education and remote learning has become a daily experience and a new normal, even for digitally less-prepared universities in Central, Eastern and South-Eastern Europe. Innovative digital education emerging from the all-encompassing digital transition of our age can, on one hand, support open, transparent and flexible research and schooling. On the other hand, however, it also brings with it many drawbacks, such as challenging the interdependency of both student and student-teacher relationships, as has been seen in the months during the pandemic.

In this regard, the discussion presented five possible scenarios and relevant policy recommendations in the area of digitalization of science and learning. These were developed within the framework of the strategic foresight project funded by the Danube Rectors’ Conference and implemented by the Institute for the Danube Region and Central Europe in 2022. Consequently, the experts on digitalization, e-learning and innovation in education discussed the various scenarios and their visions of science and learning in the digital era.

You can watch the discussion on our IDM YouTube channel.

Maintaining a Conflict: Putin’s Shadow Hand in the Bosnia and Herzegovina Crisis

On 4 March 2022, NATO Secretary General Stoltenberg warned that Georgia, Moldova and Bosnia and Herzegovina (henceforth Bosnia) are the next countries vulnerable to Russia’s malign actions, following the war in Ukraine. Why Bosnia? What are Russia’s interests in Bosnia?  

Bosnia was the first country in Europe to undergo genocide genocide since the Second World War, which is why the slightest crises in the country bring back memories of bloody conflict. In addition, the perpetrators of the genocide are portrayed as heroes heroes or publicly endorsed. Most of Bosnia’s unresolved problems are not caused by Russia, but are exploited by Russia for geopolitical interests in the Balkans and beyond.  

Bosnia’s political architecture is extremely complex. All three main entities have uncompromising political desires: the Serbians are looking for independence, the Bosniaks are seeking a further centralization, and the Croats want to create a third entity. While the Dayton Peace Agreement of 1995 ended the bloody civil war that caused over 100,000 casualties, it left the country ungovernable and dysfunctional, frequently described as an ethnocracy. With two entities, three presidents in rotation (one Croat-Catholic, one Serbian-Orthodox and one Bosniak Muslim), 14 governments, 165 ministers, and dozens of hundreds of local authorities, there are too many conflicting interests to form a coherent political framework.  

Russia’s staunchest ally in Bosnia and Europe is the president of Republika Srpska, hardline nationalist Milorad Dodik. In his opinion, Bosnia is an artificial state. Since the start of the Russian war in Ukraine in February 2022, Dodik is one of the few European leaders to have visited Moscow for a private audience with the Russian president Vladimir Putin, and to have endorsed Russia’s sham referendums in occupied parts of Ukraine. In January 2023, Dodik awarded Putin with the highest medal of honour. Due to his destabilizing actions, Dodik and the entire leadership of Republika Srpska were subject to sanctions and put on a blacklist by the USA.  

Dodik shares many of the same ideologies as Putin: they both oppose NATO-expansion and what they call “West degenerative ideology” such as liberalism and LGBTQ rights, while favouring extreme nationalism and an autocratic style of governing. Putin is not the only authoritarian ally of Dodik, he has also built up good relations with Hungary’s Viktor Orban 

Because of Dodik’s veto, Bosnia is the only European country other than neighbouring Serbia not to have placed sanctions on Russia. To Putin, Bosnia is irrelevant, merely a playground to undermine NATO and the EU and to create further trouble and disruption for them. Russia was one of the Dayton signatories and even deployed troops on peacekeeping missions to Bosnia in the mid-1990s, but since Putin became president, Russian relations with the West have deteriorated. One of their favourite channels for expanding Russian influence is the UN’s veto power. The EU and the USA have played their card with have played their card with the High Representative for Bosnia, currently held by the former German Minister of Agriculture, Christian Schmidt, who has the final word on all matters. Meanwhile, in the aftermath of Putin’s famous speech in Munich in 2007, Russia supported Republika Srpska’s secession agenda, questioned Bosnia’s sovereignty, regarded the Hague Tribunal as illegitimate and vetoed the recognition of Srebrenica as genocide. At the UN Security Council on 11 May 2022, Russian Ambassador Vasily Nebenzya referred to Schmidt as an illegal High Representative, thereby playing the Dodik card.  

Although Russia is the main spoiler in the Bosnian crisis, it has hardly exerted any economic or financial leverage. The EU is Bosnia’s main trading partner, Russia accounted for only 0.3% of exports and 1.6% of imports in 2022. For direct investment, Moscow ranked 9th out of the top 10 investors in Bosnia, accounting for less than 3% of total investment. Moscow’s ability to play a role in a country with virtually no economic tools is remarkable. Yet this is due to Moscow’s willingness to work with anyone without trying to change its actions or ideology. More recently, Russia has employed entities such as the Night Wolves, who were involved in the 2014 Crimea secession, and were reported to be present in Bosnia. In 2018, it was reported that Russian mercenaries were training paramilitary forces in Bosnia on behalf of Dodik, and in 2022 it was suspected that the Wagner Group had established a recruiting office in Balkan.  

With the USA debacle in Iraq and Afghanistan, and EU attention diverted by multiple internal crises, Dodik seized the moment in December 2021 to take a further step towards his desire to secede from Bosnia by unilaterally withdrawing Republika Srpska from the tax, defence, health and judicial systems. Every action of secession that Dodik takes is vetoed by the High Representative, the only person able to stop Dodik’s path to secession.   

Lacking the funds to back the secession of Banja Luka, Russia has exploited every alternative to maintain the crisis in Bosnia at no cost, and it appears to be continuing this trend. Russia has managed to maintain a dysfunctional state in the middle of Europe with minimal capital investment. In holding Bosnia in a permanent crisis, Putin’s main aim is to demonstrate the weakness and unreliability of the USA and the EU in preserving peace and stability in its own backyard. Putin is trying to position Russia as rule-maker rather than rule-follower and sees opportunity whenever a crisis occurs; in the case of Bosnia, he is a rule-breaker. Nonetheless, it was not Putin who triggered the dysfunction, corruption or democratic backsliding in the first place.  

The Russian aggression in Ukraine, along with Russia’s malicious actions of interfering in the local and national elections of Western democracy, as well as using the internet for a misinformation campaign to provoke further division, have made the US and the EU better understand Russian agendas and tactics. If the EU pays more attention to the Bosnian crisis, it could close the Russian channels of interference. However, this depends entirely on the general outcome of the war in Ukraine and further enlargement of the EU in the so-called Western Balkans. Although Russia is far from challenging the EU directly, it is pursuing a realistic and opportunistic scheme to undermine the EU via the weakest members or, in the Bosnian case, via the accession candidates. One of the ways to stop Russia meddling in Bosnian affairs is further integration into the EU, as well as a clear path towards full membership.  

  

Rigels Lenja is a Ph.D. student at the Institute of Eastern and Southeastern European History at the Ludwig Maximilian University of Munich. 

Euphorie aus der Dose

Die Straßen bis zum Stadion sind voll mit ihnen: Graffitis, die Loyalität zu lokalen Fußballklubs ausdrücken. In ihrem Text beschreibt MELANIE JAINDL die Euphorie, die ihre Schöpfer*innen bewegt und erklärt, welche Konflikte sich hinter den Wandbildern von Ljubljana bis nach Skopje verbergen.

Was, wenn Wände sprechen könnten? Welche Geschichten würden sie uns wohl erzählen? Es ist ein spannendes Gedankenexperiment, oft aufgegriffen in Musik und Literatur. Doch was, wenn ich Ihnen sage, dass sie das schon die ganze Zeit tun? Die Wände einer Stadt machen sich zwar nicht mit Lauten bemerkbar, doch aufmerksamen Passant*innen verraten sie vieles über die Menschen, die tagtäglich an ihnen vorüberziehen.

Nacht und Nebel

Sticker, Schablonenmuster und Tags, aber auch große Graffiti-Pieces mit künstlerischem Charakter – für viele zeugen sie bloß von Vandalismus, für den slowenischen Kulturwissenschafter Mitja Velikonja sind es allerdings subkulturelle Ausdrucksformen von politischem Dissens und Zugehörigkeit. Seit über 20 Jahren erforscht er ihre kulturelle und politische Bedeutung: »Sie erfüllen eine kritische öffentliche Funktion, indem sie ästhetische Harmonie zerstö ren.« Vor allem Fußballfan-Graffitis sind in europäischen Städten nicht zu übersehen. Die Anhänger*innen lokaler Vereine tragen den Anspruch auf »ihre« Stadt öffentlich aus. Markiert ein konkurrierender Verein ihr Territorium, wird das Graffiti in kürzester Zeit gecrosst (Szenebegriff für übermalen/durchkreuzen). Diese »Graffiti-Kriege« werden vorzugsweise nachts ausgetragen, im Schutz der Dunkelheit vor polizeilichen Konsequenzen und Rival*innen.

Alle für einen

In Europa zählt Fußball zu einem nahezu unantastbaren Kulturgut. Betrachtete Karl Marx noch Religion als »Opium des Volkes«, schreibt der links-anarchistische Autor Gabriel Kuhn dem Fußball diese Bezeichnung zu. Auf dem Spielfeld treten Arbeiter*innen gegen Arbeiter*innen an – das lenkt vom Klassenkampf ab. Gleichzeitig waren es vor allem Arbeiter*innen, die den Fußball professionalisierten, denn vielen blieb keine Zeit, ihn als reines Hobby zu verfolgen. Immerhin mussten sie Geld verdienen. Heute können nur wenige vom Fußballspielen leben, allerdings schafft nun die daran anknüpfende Industrie Arbeitsplätze, und noch mehr Profit. Die immense Kommerzialisierung wurde von den oberen Schichten im Westen vorangetrieben. Maskuliner Körperkult gepaart mit Masseneuphorie im Stadion und bei Public-Viewing-Veranstaltungen, dazu eine Prise Lokalpatriotismus und voilà: Geboren wurde ein Kulturphänomen, ebenso banal wie auch politisch.

Doch eine Mannschaft ist nichts ohne ihre Fans. In seinen Büchern über Fußballfan-Graffiti unterscheidet Velikonja drei Gruppen: die normalen, unorganisierten Fans, radikalere Ultras und schließlich die gewaltbereiten Hooligans. Obwohl gelegentliche Ausschreitungen bei Spielen überall vorkommen, erlangen sie in den Communitys der jugoslawischen Nachfolgestaaten immer wieder traurige Berühmtheit. Die bis heute bestehenden ethnischen Spannungen, die während der Kriege in den 1990er Jahren ihren Höhepunkt erreichten, entladen sich oft beim Aufeinandertreffen rivalisierender Fangemeinden. Die Ekstase der Fans wandelt sich dann zum Blutrausch. Einer dieser Kämpfe machte sogar Geschichte.

Das Spiel, das niemals stattfand

Am 13. Mai 1990 traf das Team Roter Stern Belgrad im Zagreber Maksimir-Stadion auf das kroatische Heimteam Dinamo. Bis heute zählen die beiden Teams zu den beliebtesten Mannschaften in der Region. Mit dabei sind auch ihre Ultras, die kroatischen Bad Blue Boys und die serbischen Delije. Bereits tagsüber kam es zwischen ihnen zu Schlägereien in der Stadt. Als Delije-Anhänger*innen vor Anpfiff die Tribüne demolierten, stürmten die Bad Blue Boys das Spielfeld und lieferten sich ein Gefecht mit der jugoslawischen Polizei, rund 150 Personen wurden verletzt. Der gesamte Gewaltexzess wurde live im Fernsehen ausgestrahlt. Bis heute stilisieren die Bad Blue Boys diesen Tag als den wahren Kriegsbeginn. Tatsächlich marschierten viele der Ultras aus den jugoslawischen Republiken kurz darauf an vorderster Kriegsfront und gründeten Paramilizen. Heute weist eine Gedenktafel am Maksimir-Stadion auf den Vorfall vor über 30 Jahren hin.

Wettbewerb abseits des Stadions

Verglichen mit diesen Gewaltausbrüchen wirkt das Crossen von Gegner*innengraffiti und der damit verbundene Adrenalinkick wie ein Kavaliersdelikt. In seinen Gesprächen mit slowenischen Ultras stellte Velikonja fest, dass sich die Fans von verbreiteten Vorurteilen abgrenzen wollen. So zum Beispiel von ihrer vermeintlichen Einbindung ins organisierte Verbrechen, die zumindest teilweise bei den Fanclubs der südlichen Nachbar*innen besteht. Das heißt allerdings nicht, dass die slowenischen Ultras weniger radikal oder nationalistisch sind.

»Die Fans beteuerten oft, dass sie gegnerische Fans nicht als Feinde, sondern als Konkurrent*innen sehen. Sie teilen ihren Lebensstil und ihre Werte«, schreibt Velikonja. So verabreden sich Hooligans manchmal im Vorfeld von Spielen zu Schlägereien – quasi als Wettbewerb außerhalb des Spielfeldes. Das Vorurteil, sie alle seien politisch rechts, treffe laut Velikonja nicht zu: »Scheinbar mühelos verbinden sie politische Extreme in ihrer Fankunst, auch wenn der Großteil trotzdem eher rechts ist.« Eine bedeutende Minderheit ist aber auch links und tritt gegen Homo- und Transphobie ein. Sie alle verbindet eine Form des Lokalpatriotismus und die Ablehnung der Überkommerzialisierung von Fußball durch die FIFA und UEFA. »Fußball kann man nicht vom Sofa aus schauen«, erklärte ein slowenischer Ultra im Interview mit Velikonja. Ihre wahren Feinde seien vielmehr die Medien, die Polizei und gewisse Klubmanager*innen.

Diese Zu- und Abneigungen spiegeln sich an den Wänden wider. Graffiti ist eine Vereinnahmung des öffentlichen Raums, der wie auch der Fußball immer stärker kommerzialisiert wird. Über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten, doch ein genauer Blick auf die Schriften und Bilder an städtischen Außenwänden lohnt sich. Sie werden vieles über die Menschen, die dahinter leben, erfahren.

 

Melanie Jaindl ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am IDM. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen den Westbalkan, Migration und Asyl, intersektionaler Feminismus und soziale (Un-)Gerechtigkeit.

Balkan, Ukraine und Moldau nach Europa – sofort!

„„Gschichtn“ von Fußball, Freiheit und Zukunft“ 

In seinem Kommentar fordert IDM-Geschäftsführer Sebastian Schäffer eine dringende Reform des EU-Beitrittsprozesses und erklärt seine Beweggründe für die Entstehung der “Gschichtn” über die Länder des (West-)Balkans, Ukraine und Republik Moldau. 

Eine dringende Reform des EU-Beitrittsprozesses  

Die EU-Erweiterung ist und bleibt das wichtigste Instrument zur Transformation auf dem europäischen Kontinent. In Artikel 49 des Vertrags über die Europäische Union heißt es wie folgt: 

 „Jeder europäische Staat, der die in Artikel 2 genannten Werte achtet und sich für ihre Förderung einsetzt, kann beantragen, Mitglied der Union zu werden.“ Konkret heißt das: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“  

Leider ist der Beitrittsprozess in den vergangenen Jahren immer technischer und langwieriger geworden. Einzelne Mitgliedstaaten nutzten ihre Möglichkeit, Fortschritte  auch ohne gerechtfertigte Gründe zu blockieren. Das geschah zu verschiedenen Zeitpunkten des Prozesses, etwabevor ein Land den Kandidatenstatus erhielt, bevor die Verhandlungen eröffnet wurden, bevor diese abgeschlossen wurden und dann auch noch vor der endgültigen Aufnahme. Das hat natürlich Auswirkungen auf die Transformationskraft der EU. Der Austritt des Vereinigten Königreichs hatte ebenfallsEinfluss darauf. Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass eine EU-Mitgliedschaft weiterhin für die betroffenen Länder attraktiv ist und die europäische Integration eines der wichtigsten politischen Projekte darstellt. Doch der Prozess muss dringend reformiert werden. Vorschläge dazu gibt es genug, doch es braucht mehr Mut, um die Aufgabe anzugehen. Der Sorge vor einer langen und schwierigen Vertragsrevision möchte ich entgegenhalten: Vom Vertrag von Nizza zum Vertrag von Lissabon – inklusive gescheitertem Verfassungsvertrag und zunächst negativen Volksentscheid in Irland – vergingen etwas mehr als sechs Jahre. Hätten wir direkt nach dem Brexit-Referendum den Mut gehabt, die Verträge und damit auch den Erweiterungsprozess zu reformieren, könnten wir dies bereits jetzt anwenden! 

“Balkan nach Europa – sofort!” 

Im Sommer 2020 fragte mich Erhard Busek, ob wir gemeinsam ein Buch zum Westbalkan schreiben wollen. Ich war sofort begeistert und habe recherchiert, was darüber von wem in den letzten Jahren publiziert wurde Gemeinsam mit einer Kollegin am IDM erstellten wir eine umfangreiche Liste von Titeln in mehreren Sprachen und kamen zu der Erkenntnis, dass es nicht unbedingt Bedarf für weitere umfassende Publikationen gibt. Zudem wurde das Projekt immer größer und es drohte langwierig zu werden. Erhard und mir verband eine gewisse Ungeduld im Hinblick auf die Umsetzung von Aktivitäten für unsere Region, was sicherlich für die Beteiligten nicht immer einfach ist. Die Plattform story.one bietet dieser  Möglichkeit relativ rasch ein Buch zu veröffentlichen und sich aufgrund der maximalen Zeichenanzahl einer Geschichte von 2500 Zeichen(es können höchstens 17 Geschichten in ein Buch) auf das Wesentliche zu beschränken. Somit hatten wir den geeigneten Rahmen für unser Projekt gefunden. Die „Gschichtn“ über Grenzen, Glauben und Grausamkeiten, über Fabeln, Frieden und Fußball verknüpften wir mit unserem Plädoyer  über die sofortige Aufnahme aller Westbalkanstaaten in die EU. 

Ein Frühjahr, das alles veränderte… 

Der 24. Februar 2022 war für uns alle ein Schock. Als dann die Ukraine und später auch die Republik Moldau sowie Georgien einen Beitrittsantrag zur EU stellten, haben wir begonnen zu überlegen, ob wir nicht eine Art Nachfolgepublikation schreiben sollten. Leider ist Erhard dann plötzlich am 13. März 2022 verstorben. Dieser neue Schock hat erneut unsere Prioritäten verschoben und das Projekt geriet in den Hintergrund. Als dann nach den Weihnachtsfeiertagen etwas Ruhe eingekehrt ist, holte ich die Idee wieder hervor und begann auszuprobieren, wie es sich anfühlt, das Buch alleine zu schreiben. Mir wurde rasch klar, dass es funktioniert. 

„Ukraine & Moldau nach Europa – sofort!“ 

„Ukraine & Moldau nach Europa – sofort!“ ist zunächst eine Verneigung vor Erhard Busek. Es ist auch eine Verbeugung vor den Menschen, die in der Ukraine für unsere Werte kämpfen. Ich versuche – ähnlich wie bei „Balkan nach Europa – sofort!“ – durch „Gschichtn“ von Fußball, Freiheit und Zukunft Zusammenhänge aufzuzeigen, Zugehörigkeit herzustellen, Zusammengehörigkeit zu veranschaulichen, Zusammenhalt zu vermitteln und damit hoffentlich dazu beitragen, dass die Zeitenwende, wie der 24. Februar 2022 weithin inzwischen bezeichnet wird, am Ende positive Assoziationen hervorruft. Anders als in der ersten Publikation ist aber hier kein konkretes Plädoyer für eine sofortige EU-Mitgliedschaft der Ukraine und/oder Moldau enthalten, weil es nicht mit den gleichen Vorschlägen, die wir im Hinblick auf die Westbalkanstaaten gemacht haben, umsetzbar ist. Ich wollte dennoch durch den Titel bewusst eine Kontinuität in der Arbeit des IDM darstellen.    

Balkan nach Europa – sofort!

Erhard Busek (Vizekanzler a.D. und Vorsitzender des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa – IDM in Wien) und Sebastian Schäffer (Geschäftsführer IDM) fordern die sofortige Aufnahme aller Westbalkanstaaten in die EU. Ihr Plädoyer verbinden sie mit „Gschichtln“ über Grenzen, Glauben und Grausamkeiten, über Fabeln, Frieden und Fußball. So bilden die persönlichen Erlebnisse und Erinnerungen der Autoren auch ein Zeugnis ihrer Zeit.