Das Geschäft mit der Ostalgie

Ob auf einer Fahrradtour entlang der ehemaligen Berliner Mauer, oder auf „Safari” mit dem kultigen Trabi: Besucher*innen der deutschen Hauptstadt können durch verschiedene Angebote DDR-Luft schnuppern. JOVANA JANINOVIĆ und HOLGER RASCHKE sprachen mit SOPHIA BEITER über Ostalgie im Tourismus.

Im Restaurant Volkskammerverspeisen Gäste deftige Soljanka und Königsberger Klopse, während sich Raver*innen in einem ehemaligen Atombunker darauf vorbereiten, die Nacht durchzutanzen. Manche Ostdeutschen stillen ihre Nostalgie nach der verlorenen Heimat mit ihren Lieblingssnacks wie Russisch Brot, „Mintkissen“ und Roter Grütze. In sogenannten Ostpaketen“ können sie diese ganz einfach im Internet bestellen. Das Geschäft mit der Ostalgie (Kofferwort aus Osten/Ostdeutschland und Nostalgie) boomt. Kommunistisches Erbe wird dabei ganz im Sinne des Kapitalismus vermarktet. Das weiß auch die Tourismusindustrie für sich zu nutzen. Neben DDR-Museen und Souvenirgeschäften gibt es insbesondere in Berlin unzählige Anbieter geführter Stadttouren, die sich der Zeit der DDR widmen. 

Holger Raschke ist einer dieser Tourguides. Er wuchs in den 1980ern in einem Plattenbau in Potsdam auf, von dessen Fenster er Westberlin sehen konnte. Die Trennung in Ost und West war in seiner Kindheit allgegenwärtig. In Potsdam, einer historischen Garnisonsstadt, waren damals viele sowjetische Streitkräfte stationiert – und die letzten, damals bereits russischen, zogen erst fünf Jahre nach dem Mauerfall aus Deutschland ab. 2017 gründete Raschke schließlich Berlins Taiga, um Interessierte mit auf eine Zeitreise in die DDR-Vergangenheit zu nehmen – zu Fuß, im sowjetischen Retro-Kleinbus, per Fahrrad und sogar per Kajak auf der Havel. 

Doch woher kommt der Hype rund um die DDR? Raschke meint, die Begeisterung sei unter anderem darauf zurückzuführen, dass es noch unmittelbare Bezüge zu der Zeit gibt und die DDR daher greifbarer ist als zum Beispiel das Mittelalter. Seine Gäste stammen vor allem aus dem deutsch- und englischsprachigen Raum und sind meist um die 40 Jahre alt oder älter. Einige haben persönliche Verbindungen zur DDR, sei es als ehemalige DDR-Bürger*innen oder als damals in Deutschland stationierte amerikanische oder britische Soldat*innen“, erzählt der studierte Soziologe und Tourismusmanager. Nostalgischen Gefühlen für vermeintlich bessere Zeiten möchte Raschke in seinen Touren aber keinen Raum geben: Wenn ich Gegenstände aus der DDR zeige, wie einen Mitgliedsausweis der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft, weckt das bei Gästen mit DDR-Biographie natürlich Erinnerungen. Aber ich mache keine Ostalgie-Touren, ich bin bemüht, die Geschichte sachlich und objektiv darzustellen. Ihm sei es wichtig zu vermitteln, dass Geschichte eine Abfolge von Ereignissen ist, die immer auch Konsequenzen in der Zukunft haben. Daher setzen seine Touren meist beim Ende des Zweiten Weltkrieges und den Besatzungszonen in Deutschland an. Denn auch die Entstehung der DDR käme nicht von jeher. 

Zwischen Inszenierung und Authentizität  

Dass nicht alle Anbieter so reflektiert wie Raschke handeln, beobachtete Jovana Janinović. Die Dozentin an der Tourismus-Fakultät der Universität in Kotor (Montenegro) untersuchte die Kommodifizierung von Kommunismus und dabei auch geführte Stadttouren. Sowohl bei den Gästen solcher Touren als auch bei Reiseführer*innen erkannte sie nostalgische Narrative. Janinović erzählt: Menschen schaffen es, jede Epoche zu romantisieren, egal wie hart sie war. Diese spezielle Nostalgie für die Zeit des Kommunismus ist für mich aber auch ein wichtiger Indikator dafür, dass der Kapitalismus darin versagt, Verbundenheit zu vermitteln.” Hinter dem Begriff Nostalgie verstecken sich demnach auch Ideologien, und nicht nur sentimentale Gefühle. 

Janinović nahm im Zuge ihrer Forschungen nicht nur an geführten Touren in der ehemaligen DDR, sondern auch in Ungarn, Polen und den Nachfolgestaaten der Tschechoslowakei und Jugoslawiens teil. Dabei erkannte sie wiederkehrende Muster: Obwohl der Kommunismus in all diesen Ländern hinsichtlich des Regimes, der individuellen Freiheiten und der wirtschaftlichen Umstände sehr unterschiedlich war, ähnelten sich die vermittelten Geschichten. So hörte Janinović nicht nur in Berlin, sondern auch in anderen post-kommunistischen Städten den gleichen Witz” über Lieferschwierigkeiten von Autos – nur die jeweils genannte Automarke variierte von Lada über Trabant bis hin zum Polski Fiat. Janinović verortet dieses Phänomen im Bereich der Glokalisierung (Verbindung aus Globalisierung und Lokalisierung): Die Anekdote funktioniert transnational, berücksichtigt aber lokale Besonderheiten. Die Zeit des Kommunismus wird Tourist*innen so oft als Set von bekannten, länderübergreifenden Stereotypen, Anekdoten und Witzen präsentiert, erklärt sie. 

Für Authentizität und historische Genauigkeit bleibt da oft wenig Platz. Im Massentourismus des 21. Jahrhunderts geht es um Erlebnisse, beobachtet Janinović. Daraus resultieren die Stereotypisierung, Simplifizierung und Disneyfizierung” von Inhalten und Orten. Auch Tourguide Raschke inszeniert einige seiner Touren im Retro-Kleinbus Buchanka” für ein ganz besonderes Erlebnis. Er möchte seine Gäste aber auch abseits der ausgetretenen Pfade führen. So besucht er in seinen Touren beispielsweise die ehemalige „Spionenbrücke“ (Glienicker Brücke) zwischen Berlin und Potsdam, wo die Geheimdienste CIA und KGB im Kalten Krieg verhaftete Agent*innen austauschten, oder sowjetische Ehrenmäler und Kriegsgräber von alliierten Soldat*innen im Treptower Park, die noch zur Lebenszeit Stalins in den Vierzigern errichtet wurden. Raschke erzählt: „Die Spionenbrücke ist eine herkömmliche Brücke, da wird nichts inszeniert oder kommerziell ausgeschlachtet. Und auch die Kriegsgräber sind authentische historische Orte, die unter Denkmalschutz stehen. Der berühmte Checkpoint Charlie ist für mich dagegen eher ein Negativbespiel mit Disneyland-Charakter, denn da ist nichts authentisch. Das Wachhäuschen, das Schild mit der Aufschrift ‚Sie verlassen den amerikanischen Sektor‘ – das sind alles Replika“. 

Entpolitisierte Geschichte 

Um die kommunistische Vergangenheit für die massentouristische Nutzung tauglich zu machen, wird sie auch von ihrer totalitären Seite befreit. Janinović stellte fest: „In manchen Museen wie dem DDR-Museum in Berlin oder dem Museum des Kommunismus in Prag wird den Opfern des Kommunismus, den Schauprozessen und den Folterungen durch die Geheimpolizei nicht mehr Raum gegeben als der Toilettenpapier-Knappheit oder dem Lipsi-Tanz. In seiner kommerzialisierten Form wird unter Kommunismus nicht mehr ein politisches System verstanden, sondern dessen Alltag. Zu dieser inhaltlichen Verschiebung trug auch die Privatisierung der Erinnerungskultur bei. Private Anbieter setzen tendenziell eher auf Erlebnis und Inszenierung sowie leicht zugängliche und amüsante Aspekte, um mehr Menschen und damit auch Gewinn anzuziehen. Gleichzeitig haben diese Akteure mehr Freiheiten in der Nutzung des geschichtlichen Erbes, da sie im Gegensatz zum Staat keinen Bildungsauftrag und im Gegensatz zu Historiker*innen keine Verantwortung gegenüber der globalen Gemeinschaft von Wissenschafter*innen haben.  

Allerdings ist die Kommodifizierung des Kommunismus im Tourismus nicht zwangsläufig als negativ zu betrachten. Janinović erklärt: „Die Kommodifizierung hat Geschichten und Orte ins Bewusstsein der Menschen gerückt und dazu beigetragen, dass die Zeit des Kommunismus überhaupt erst wieder thematisiert wurde.Zudem kann ein Besuch im Museum oder eine geführte Stadttour – egal ob eine um historische Genauigkeit bemühte oder eine auf Erlebnis und Sensation fokussierte – geschichtliches Interesse wecken. Janinović ist überzeugt: „Wenn man möchte, gibt es immer die Möglichkeit, etwas zu lernen, und wenn es nur um das berühmte Berliner Ampelmännchen geht. Von Reiseführer*innen hörte ich oft, dass sie ihre Rolle als Geschichtenerzähler*innen verstehen. Diejenigen, bei denen die Neugier geweckt wird, würden sich auch weiter mit dem Thema beschäftigen.  

 

 

Sophia Beiter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am IDM und hat Slawistik und Germanistik an der Universität Wien studiert. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen die Schwarzmeerregion, Sprachpolitik und Bürger*innenbeteiligung in der EU. 

Holger Raschke ist Gästeführer in Berlin, Potsdam und Umgebung. Er studierte Soziologie & Humangeografie sowie Nachhaltiges Tourismusmanagement und gründete mit Berlins Taiga einen Touren-Anbieter zur Geschichte des 20. Jahrhunderts. 

Jovana Janinović ist Dozentin an der Universität Montenegro und forscht zu den Themen Tourismus und kulturelles Erbe, Erinnerungskultur und urbaner Aktivismus.