Drang nach Demokratisierung in Georgien

Die GeorgierInnen wollen vom Rand Europas in die Mitte der Union. Trotz guter Beziehungen zu EU-Mitgliedsländern wie Österreich kämpft das Land am Kaukasus mit territorialen und gesellschaftlichen Konflikten. Was verspricht der Ausweg nach Europa? Info Europa-Autor Jack GILL mit einem Plädoyer für mehr EU in Georgien und umgekehrt.

Während viele Länder in Europa heute jenen Frieden sowie jene Stabilität und Sicherheit genießen, die mit einer demokratischen Regierung, guter Nachbarschaft und der EU-Mitgliedschaft einhergehen, ist die liberale Demokratie für ein Land am äußersten Rand Europas eine neue und sensible Entwicklung, die vor ernsthaften Herausforderungen steht: Georgiens junge Demokratie, die in diesem Frühjahr 30 Jahre Unabhängigkeit von der Sowjetunion feierte, bleibt anfällig für Bedrohungen aus dem In- und Ausland.

Als Georgien unabhängig wurde, hatten die Jahrzehnte des Sowjetkommunismus eine politische Kultur hinterlassen, die von Korruption auf allen Ebenen durchsetzt war. Die nachfolgenden russischen Versuche der Einflussnahme, führten zur Invasion und Besetzung des Landes. Seitdem kämpft Georgien um den Aufbau einer erfolgreichen liberalen Demokratie und um die »Rückkehr« nach Europa. Eingegrenzt von autoritären Nachbarn und mit internen Gefahren konfrontiert, kämpfen die BürgerInnen für ihre Demokratie und suchen Unterstützung in Europa.

Gefahren für die Demokratie

Von außen versucht der politische Einfluss den von Georgien gewählten westlichen Weg zu untergraben, während der Konflikt in Berg-Karabach, kaum 200 Kilometer von der georgischen Hauptstadt Tbilisi (früher: Tiflis) entfernt, erst vor wenigen Monaten erneut eskalierte. Die besetzten Gebiete Abchasien und Südossetien haben die politische und wirtschaftliche Entwicklung Georgiens behindert und bleiben eine offene Wunde für alle Beteiligten. Diese ungelösten »eingefrorenen« Konflikte (frozen conflicts) hindern das Land daran, seine wichtigsten außenpolitischen Ziele zu erreichen: den Beitritt zur Europäischen Union und zum Nordatlantikpakt (NATO). Doch die Gefahren drohen nicht nur von außerhalb. Die Regierungspartei »Georgischer Traum«, die inoffiziell von dem aus Russland stammenden Milliardär Bidsina Iwanischwili geführt wird, hatte kürzlich den Führer der wichtigsten Oppositionspartei verhaften lassen. Die politische Polarisierung, die in der georgischen Gesellschaft weit verbreitet ist, gleicht nun einer Fehde. Auf lokaler Ebene ist die Grenze zwischen Staat und politischer Partei verwischt, so dass die Regierungsparteien administrative und kommunale Ressourcen nutzen können, um Wählerstimmen zu erlangen. Dieser indirekte Einfluss, bei dem staatliche Leistungen als Gefälligkeiten wahrgenommen werden, dringt tief in das Gefüge des politischen Prozesses ein und behindert die demokratische Entwicklung.

AkteurInnen der Demokratisierung

Trotz der überwältigenden Hindernisse gibt es in Georgien viele AkteurInnen, die entschlossen weiter für die Demokratie und Georgiens Platz in Europa kämpfen. Zivilgesellschaftliche Organisationen arbeiten mit europäischen und nordamerikanischen Organisationen zusammen. Eine davon ist das Europa-Georgien-Institut (EGI) mit Sitz in Tbilisi. Das EGI trägt zur Stärkung der georgischen Demokratie bei, indem es etwa mit europäischen Partnern zusammenarbeitet und daraus nicht nur Inspiration, sondern auch Techniken, Praktiken und Fachwissen bezieht. »Die Hauptidee hinter der Gründung des Instituts war es, Georgiens postsowjetischen Übergang zu unterstützen und neue Ideen zu generieren und zu fördern«, so dessen Präsident George Melaschwili im Interview mit Info Europa. Dabei gehe es vor allem darum, jenes »sowjetische und postsowjetische Erbe zu überwinden, das wir leider bis heute ertragen müssen«. Bildung ist ein Schlüsselaspekt der EGI. Ihre Programme sollen es vor allem jüngeren GeorgierInnen ermöglichen, sich in demokratische Initiativen einzubringen und den Wert demokratischer Praktiken zu verstehen. »Wir sind der festen Überzeugung, dass die Jugendarbeit der wichtigste Weg ist, den Generationenwechsel und auch die Erneuerung der Eliten in der Wirtschaft, der Wissenschaft und vor allem in der Politik sicherzustellen.« Die EGI hat innerhalb von fünf Jahren ein starkes Netzwerk von etwa 500 Menschen aufgebaut und viele der AbsolventInnen ihres Programms sind heute in Führungspositionen in politischen Parteien. Diese Menschen wollen »ihren Einfluss und ihr Gewicht vergrößern, sie unterstützen westliche Werte und haben wichtige Rollen bei pro-demokratischen Protesten gespielt.« Melaschwili hat die demokratische Entwicklung seines Landes zu seiner Mission gemacht. Er ist um die Welt gereist, um Erfahrungen zu sammeln, die seiner Meinung nach auch für Georgien wertvoll sein können. Eine davon ist das Modell der schnellen wirtschaftlichen Entwicklung Südkoreas nach dem Koreakrieg und die erfolgreichen außenpolitischen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten. Melaschwili zieht auch das Beispiel Israels heran, um Lehren für die nationale Sicherheit zu ziehen, weist aber darauf hin, dass ihm vor allem die wirtschaftliche Entwicklung wichtig sei. »Mein Hauptinteresse gilt den Lehren, die wir aus der internationalen Entwicklung und den internationalen Beziehungen ziehen können, und wie wir diese Erfahrungen dazu nutzen können, den Übergang und das wirtschaftliche Leben in Georgien zu fördern. Denn ohne eine starke Wirtschaft ist es heute fast unmöglich, an die Entwicklung von Institutionen zu denken.«

Mehr EU in Georgien, mehr Georgien in der EU

Als Georgiens größter Handelspartner spielt die EU eine immer wichtigere Rolle in der georgischen Gesellschaft. Obwohl sich die größeren Nachbarn oft in die inneren Angelegenheiten des kleinen Landes eingemischt haben, zeigt der jüngste Besuch des Präsidenten des Europäischen Rates, Charles Michel, und seine Vermittlung in der politischen Krise vom September 2020 die konstruktive Rolle, die die EU in Georgien spielt. Im Vergleich dazu, so Melaschwili, war es in den 1990er Jahren Russland, das in Georgien intervenierte, was zu gewaltsamen Konflikten und Bürgerkrieg führte.

Im Jahr 2014 unterzeichneten Georgien und die EU ein Assoziierungsabkommen, das eine weitreichende und umfassende Freihandelszone und visafreies Reisen für GeorgierInnen in den Schengen-Raum vorsieht. Seitdem kann das Land die Vorteile des Zugangs zum EU-Binnenmarkt und verbesserte Reisemöglichkeiten nutzen. Auch die Bildungschancen haben sich erweitert und viele GeorgierInnen können nun an ErasmusProgrammen teilnehmen. Solche Partnerschaften sind genauso symbolträchtig wie nützlich. Auch mit Österreich gibt es Erasmus-finanzierte Partnerschaften, etwa mit der Universität Innsbruck im Bereich der Friedens- und Konfliktforschung, wodurch Fachwissen in diesem für Georgien äußerst relevanten Bereich ausgetauscht wird.

Österreichisch-georgische Beziehungen

Die Beziehungen zwischen Österreich und Georgien haben eine lange Tradition. Die Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Bertha von Suttner lebte viele Jahre in Georgien, bevor sie nach Europa zurückkehrte. In jüngerer Zeit hat Österreich große Investitionen in die georgische Wirtschaft getätigt, unter anderem im Skigebiet Gudauri, das heute Skifahren auf hohem Niveau bietet. Der steigende Einfluss wirkt sich insgesamt positiv auf die Entwicklung Georgiens aus. Dass das Land die westliche liberale Demokratie als Entwicklungsmodell gewählt hat, zeigt sein tief verwurzeltes Bedürfnis, das postsowjetische Erbe hinter sich zu lassen. Obwohl es manchmal an europäischen demokratischen Standards mangelt und mit Problemen der Korruption zu kämpfen hat, ist Georgien nie von seinem Bekenntnis zur europäischen Integration abgewichen. Österreich war darin ein unterstützender Partner, der in die Wirtschaft investierte, Austauschprogramme finanzierte und die politische Zusammenarbeit förderte. Doch der europäische Weg Georgiens kann vorerst nur so weit gehen, wie es die andauernden territorialen Streitigkeiten erlauben. Bisher muss die demokratische Entwicklung außerhalb der Sicherheit von EU und NATO stattfinden.

Jack Gill ist Experte und Autor für internationale Angelegenheiten am Südkaukasus. Er hat einen gemeinsamen MasterAbschluss in Mittel- und Osteuropäischen, Russischen und Eurasischen Studien der Universitäten von Glasgow, Tartu und der Ilia State University, Tbilisi. Er hat bei der Organisation der nicht repräsentierten Nationen und Völker (UNPO) in Brüssel gearbeitet, wo er sich mit Minderheitengruppen aus aller Welt beschäftigte. Seit Sommer 2020 lebt er in Österreich.