Ihr Käse ist politisch
Von der Wende gezeichnet und vom Staat enttäuscht: Die BewohnerInnen eines bulgarischen Dorfes setzen lieber auf geschmuggelte Lebensmittel aus Rumänien als auf Supermarktware. Der Schmuggel ist eine Folge neoliberaler Politik, schreibt der Anthropologe STEFAN DORONDEL in seinem Gastbeitrag.
Das Dorf Slanotran liegt in Südwestbulgarien, wenige Kilometer von der Hafenstadt Vidin entfernt. Es gleicht heute einer Geistersiedlung – mit den Ruinen einer Schule, einer verlassenen Arztpraxis aus sozialistischen Zeiten und mehreren geschlossenen kleinen Restaurants. Von den einst 1600 EinwohnerInnen leben heute weniger als 400 in Slanotran. Der Asphalt der Dorfstraßen ist brüchig. Viele Häuser sind verfallen und mit Pflanzen bewachsen, die man nur in den Donauauen finden kann. Einige ihrer BesitzerInnen sind gestorben und haben keine ErbInnen, andere sind für immer weggezogen, um in Westeuropa eine bessere Arbeit zu finden. Letztere kehren meist im Sommer – adrett gekleidet und in schicken Autos – für einen kurzen Besuch ins Dorf zurück. Übrig bleiben die Alten. Sie leben von ihren mageren Renten oder Sozialleistungen. Nutztiere gibt es keine mehr. Die letzten beiden Kühe wurden vor einigen Jahren verkauft. Nur wenige Menschen bewirtschaften die Agrarflächen, manche pflegen einen kleinen Garten hinter dem Haus. Fische dienten vielleicht einmal als Nahrungsquelle, aber die meisten DorfbewohnerInnen sind nun zu alt für diese Arbeit. Die Donau ist nur einen Kilometer vom Dorf entfernt. Dahinter liegt Rumänien.
Geheimer Grenzverkehr
Slanotrans Zustand spiegelt die sozioökonomischen Veränderungen wider, die die politische Wende von 1989 auslöste. Die Kolchosen wurden in der ersten Hälfte der 1990er Jahre zerschlagen und ihre Ländereien und landbezogenen Vermögenswerte privatisiert – ein Prozess, den WissenschaftlerInnen als Entkollektivierung bezeichnen. Das Leben im ländlichen Bulgarien verschlechterte sich infolgedessen kontinuierlich, da sich die Arbeit in der Landwirtschaft nicht mehr lohnte. Stattdessen lockte Westeuropa wie der Gesang einer Sirene mit Arbeitsplätzen und einem besseren Leben. Eine Regierung folgte auf die andere. Sie alle, auch die sozialdemokratischen Regierungen, verfolgten einen neoliberalen Ansatz und trugen nicht zur Verbesserung der Lebensqualität im ländlichen Raum Bulgariens bei. Vielmehr entstand eine neue, gefräßige Elite in Politik und Wirtschaft. Sie machte die Sache noch schlimmer: Die sogenannten Neureichen werden in vielerlei Hinsicht schlechter als die alten Kader der Kommunistischen Partei wahrgenommen, denn diese waren zumindest gezwungen, ihren Reichtum unauffällig zu halten.
Die BewohnerInnen Slanotrans (und anderer Dörfer) mussten also selbst einen Weg finden, sich durchzuschlagen und ihr Einkommen aufzubessern. Eine Möglichkeit dazu ist der Schmuggel von Lebensmitteln, insbesondere Käse, Tomaten und manchmal auch Zwiebeln. Diese Produkte werden von den Dörfern aus Rumänien, gleich auf der anderen Seite der Donau, eingeführt. Um den grenzüberschreitenden Schmuggel zu verstehen, muss man die unterschiedlichen Bedingungen am bulgarischen und rumänischen Donauufer kennen. Trotz Ähnlichkeiten unterscheiden sie sich nämlich in mindestens zwei Punkten: Erstens ist der reiche Boden der OlteniaEbene – obwohl statistisch gesehen eine der ärmsten Regionen Rumäniens – ein Paradies für die Landwirtschaft. Nach der Entkollektivierung erwiesen sich die kleinen privaten Gewächshäuser, die überall in dieser Region zu finden sind, als effiziente Familienbetriebe. Die Weiden jener Gebiete, die von der sozialistischen Regierung nicht überflutet wurden, eignen sich ideal für die Nutztierhaltung. Zweitens ist die rumänische Seite neben den landwirtschaftlich besseren Bedingungen auch etwas weniger von der Abwanderung betroffen. In Bulgarien erschwert dagegen der Mangel an Arbeitskräften die Tierzucht und den Gemüseanbau.
Der Schmuggel von Käse oder Tomaten wurde durch den Bau der Brücke über die Donau, die Rumänien und Bulgarien etwa zehn Kilometer vom Dorf Slanotran entfernt verbindet, erheblich erleichtert. Schmuggel, also die Einfuhr oder Ausfuhr von Waren ohne Entrichtung der gesetzlichen Zölle, gilt natürlich als illegale Tätigkeit. Doch nicht alles, was illegal ist, ist auch moralisch verwerflich. Ich erkläre, warum. Gemeinsam mit meinem Kollegen und Freund Stelu Şerban hielt ich mich für eine längere Zeit in Slanotran auf, um das ländliche Leben zu studieren. Einer jener Menschen, die uns vor Ort am meisten geholfen haben, ist ein Schmuggler. Nennen wir ihn Georg. Er war zum Zeitpunkt unserer Forschung ein bulgarischer Rentner Anfang fünfzig. Im lokalen Sprachgebrauch ist der Lebensmittelschmuggel keineswegs unmoralisch, solange der aus Rumänien eingeführte Käse weitaus billiger und von besserer Qualität ist als der in den bulgarischen Geschäften erhältliche. Unter den LandbewohnerInnen dieser Gegend kursiert sogar ein Witz, wonach der Supermarkt-Käse zwar nach Käse aussieht, aber einen kleinen Mangel hat: Es fehlt ihm völlig an Milch. So ist er zwar vor Keimen geschützt in Plastik eingewickelt, seine Herkunft ist aber unbekannt. Zudem ist er relativ fade und teurer als jener der rumänischen HirtInnen, die über eine lange Tradition der Käseherstellung verfügen. Das Gleiche gilt auch für Tomaten.
Georg, unser Schmuggler, ist ein Mann der Gemeinschaft, er unterhält gute Beziehungen zu einigen rumänischen SchafhirtInnen. Er kauft Frischkäse von seinen rumänischen FreundInnen, lädt ihn in Plastikfässer, die mit Molke befüllt sind, packt ihn in seinen alten VW-Bus, der definitiv schon bessere Tage gesehen hat, überquert die Brücke mit der Erklärung, dass er nichts zu deklarieren habe, und parkt kurze Zeit später in der Dorfmitte und verkauft den Käse an die DorfbewohnerInnen. Er verkauft das von den Einheimischen als »echten Käse« bezeichnete Produkt auch, indem er die Zahlung annimmt, »sobald die Rente eintrifft«. In den Augen der Einheimischen grenzt dieses Entgegenkommen an Sozialhilfe.
Grenzüberschreitender Widerstand
Eines Tages beschwerte sich der Besitzer eines Dorfladens, der standardisierten Käse verkauft, bei den Behörden über diese Praxis und zeigte Georg wegen Verstößen gegen die Vorschriften zur Lebensmittelsicherheit an. Doch sobald das Auto der Behörde zu einer unangemeldeten Kontrolle in das Dorf fuhr, wurde Georg von den Leuten vor Ort gewarnt, er solle seine Waren verstecken. Er entkam jedes Mal. Georgs Rolle geht allerdings über jene des »sozialen Schmugglers« hinaus. Als ein Neureicher aus Sofia versuchte, ein Recyclingunternehmen für Altreifen in der Gegend zu eröffnen, waren Georg und andere maßgeblich an einer Protestbewegung beteiligt. Der Investor aus der Hauptstadt wollte hauptsächlich Reifen aus Österreich importieren und vor Ort verarbeiten – mit erheblichen umweltschädlichen Folgen. Den Einheimischen versprach er vermeintlich gute Löhne, die sich allerdings selbst für bulgarische Verhältnisse als niedrige Summen herausstellten. Als sich die Proteste der DorfbewohnerInnen als unwirksam erwiesen, griffen sie zu einer radikalen Geste: Sie besetzten die Donaubrücke und legten den internationalen Verkehr für etwa fünfzehn Minuten komplett lahm. Die Aktion zog so die Aufmerksamkeit nationaler wie internationaler Medien auf sich. Georg hatte dafür sein Netzwerk von FreundInnen und Bekannten sowohl in Rumänien als auch in Bulgarien mobilisiert. Darunter dieselben Personen, die ihm beim Schmuggeln von Lebensmitteln helfen. Mit ihrer Hilfe gelang es ihm, sich unter dem Radar der regionalen Behörden zu bewegen.
Eine der vielen Lehren, die man aus dieser kurzen Geschichte ziehen kann, ist, dass wir neue Worte brauchen, um Aktivitäten zu beschreiben, die aus Sicht des Staates illegal sein mögen, aber von den Einheimischen moralisch geschätzt werden. Eine weitere Lektion ist, dass der neoliberale Staat, der ganze Regionen im Stich gelassen hat, von den Einheimischen als Feind angesehen wird. Jahrelange kriminelle Laissez-faire-Politik ignorierte die Bedürfnisse der Menschen und machte den Staat zu einer Instanz, der man nicht trauen kann und die man nur vermeiden oder anfechten kann.
Autor: Stefan Dorondel ist leitender Wissenschaftler am Institut für Südosteuropastudien Bukarest der Rumänischen Akademie und am Francisc I. Rainer Institut für Anthropologie Bukarest. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen zählt (gemeinsam mit Stelu Şerban) A New Ecological Order. Development and the Transformation of Nature in Eastern Europe (Pittsburgh, PA, US, Pittsburgh University Press).