Kontrapunkte im Donauraum

Hungrig nach Musik, Leben und Inspiration kam die kroatische Komponistin MARGARETA FEREK-PETRIĆ vor 20 Jahren nach Wien. Heute leitet sie als erste Frau die Musikbiennale Zagreb. Über ihre persönliche Reise sowie die Geschichte und Gegenwart des Festivals erzählt sie in ihrem Gastbeitrag für INFO EUROPA.

Ende des Sommers 2002 packte ich meinen Koffer mit ganz wenigen Kleidern und ganz vielen CDs, einem Kroatisch-Deutsch Wörterbuch und meinem kaputten, komischen Kuschelmonster. Ich setzte mich ins Auto zu meinem Vater, der mich in ein Mädchen-Studierendenheim im dritten Bezirk nach Wien fuhr, wo wir das günstigste Doppelzimmer der Stadt fanden, das für eine undefinierbare Zeit mein Zuhause sein würde. Ich war eine Neunzehnjährige ohne wirkliche Deutschkenntnisse, die die Kompositions-Zulassungsprüfung auf der Wiener Musikuniversität geschafft hatte. Ihre Eltern wollten ihr, aus ehrlichstem Balkanstolz, Liebe und Ego heraus, diese Erfahrung nicht verweigern. Nach Abschluss des Gymnasiums und dem Besuch der Musikschule, deren System ganz anders ist als in Österreich, wollte ich so schnell wie möglich weg aus Zagreb. Der Krieg war seit einigen Jahren vorbei, die prekären Familienverhältnisse hatten sich etwas gebessert und ich wollte raus in die Welt, ich war hungrig und neugierig nach Lebenserfahrung und Begegnungen mit interessanten Menschen. Ich wollte unabhängig sein, war auf der Suche nach mir selbst – als junge Frau, potentielle Künstlerin, als Bewohnerin dieses Universums.

Gleichgewicht als Grundlage

In meinen Teenagerjahren begann ich zu komponieren. Fast jeden Tag schrieb ich Kontrapunkt und Harmonielehre-Übungen während der Mathestunden. Die sogenannte Musikwelt, mit der ich damals zu tun hatte, entsprach meinen Bedürfnissen und gab mir den nötigen Raum für Ausdruck und Kreativität, den ich sonst nur in meinem Kopf hatte. Eine unschuldige, süße Leidenschaft für das künstlerische Tun und Sein verband unsere Clique in der Musikschule: Wir spielten und sangen zusammen und ließen uns auch mal heimlich über Nacht in der Musikschule einsperren, damit wir genug Platz und Zeit für das Musizieren hatten. Humor und Spaß waren genauso wichtig wie der intellektuelle Austausch und das Träumen von Idealen. Auf eine gewisse Art und Weise waren wir extrem, während die Welt um uns herum ebenso ins Extreme zu zerfallen schien. Die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen wir in den 1990er Jahren in Kroatien aufwuchsen, waren weder einfach noch gesund oder positiv, doch ich weiß, dass mir damals die Musik und die damit verbundenen Menschen für immer ein inneres Wissen über die Wichtigkeit von Balance zwischen Hingabe, Spaß und harter Arbeit geschenkt haben.

Geburtsstunde im Kalten Krieg

Fast zwanzig Jahre später, nach einigen Kompositionspreisen und Stipendien, zahlreichen Aufführungen und einer langen Liste an Werken, fühle ich mich als Wahlwienerin, die mit Zagreb zutiefst verwurzelt blieb. Vor allem pflege ich diese Verbundenheit umso stärker, seit mich der Komponistenbund Kroatiens zur künstlerischen Leiterin der Musikbiennale Zagreb ernannte – als erste Frau in der Leitungsposition seit Gründung des Festivals. Die Musikbiennale Zagreb zählt zu den angesehensten Festivals für zeitgenössische Musik im ehemals kommunistischen Osteuropa. Milko Kelemen, der 1961 das Festival gegründet hatte, fand, dass sich Jugoslawien nach dem Zweiten Weltkrieg in Isolation, Primitivismus und Provinzialismus befand und dass sich der Zustand speziell auf die KomponistInnen und deren Bewusstsein negativ auswirkte. Nach seiner Rückkehr von Aufenthalten in Paris und München empfand er die in Jugoslawien komponierte Musik als mindestens 80 Jahre im Rückstand gegenüber jener in Westeuropa. Die Idee des Festivals wurde geboren. 1959 rief Milko Kelemen den Bürgermeister von Zagreb an und legte ihm seine Pläne vor. Dieser zeigte sich erfreut, stellte aber gleich zu Beginn klar, dass er ihm zwar ein ganzes Zimmer voll Dinaren zur Verfügung stellen könne, aber keinen einzelnen Dollar. Das war entmutigend, denn ohne Devisen konnte Kelemen damals kein einziges ausländisches Opernhaus, kein Sinfonieorchester und keinen großen Dirigenten nach Zagreb einladen. Er kam auf eine Idee, wie er die Spannungen des Kalten Krieges zu seinem Vorteil nutzen konnte: Kelemen reiste in die Sowjetunion, um die damalige Kulturministerin zu treffen, die versprach, ein Gastspiel des Bolschoi-Balletts auf der Musikbiennale Zagreb zu ermöglichen. Anschließend reiste Kelemen auf eigene Initiative nach Washington. Als er den USAmerikanerInnen mitteilte, dass KünstlerInnen aus der Sowjetunion in Zagreb gastieren würden, sagten diese prompt ihre finanzierte Teilnahme zu. Unter den gegebenen politischen Umständen war es eine Frage des Prestiges. Die weiteren Projekte kamen dann wie von selbst in Gang. Zusagen aus Westdeutschland und Frankreich folgten. Einige Wochen vor der Eröffnung der ersten Musikbiennale machten jedoch Gerüchte die Runde, wonach der Bund der Kommunisten Jugoslawiens ein Verbot des geplanten Zagreber Festivals fordere, weil dessen Ost-West-Konzept den Verfall und die Dekadenz der bürgerlichen westlichen Gesellschaft ins Land zu bringen drohte. Dem damaligen Marketingleiter, Ivo Vuljević, ist es zu verdanken, dass er die GegnerInnen der Biennale davon überzeugen konnte, das Publikum selbst entscheiden zu lassen, was ihm gefiel und was nicht. Heute scheint es selbstverständlich, dass sich viele Musikrichtungen überschneiden und eine fast utopisch kreative Freiheit herrscht. Mir ist aber klar, wie leicht die Dinge an Gewicht verlieren und wie fragil die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks ist. Umso wichtiger ist es, einen Teil der Kulturlandschaft direkt der zeitgenössischen Musik zu widmen und das Experimentelle als natürlichen Teil unserer Gesellschaft hervorzuheben. Die Lust nach Abenteuer im Klang unterstützt das Sehnen nach Freiheit und somit sind diese Lust und deren Verwirklichung auch heute wichtige Mittel, um schwierigen politischen Entwicklungen entgegenzuwirken.

Auf Vielfalt aufbauen

Auch wenn das Festival einige musikalischpolitische Skandale hinter sich hat, wird es nun doch seit 1961 in jedem ungeraden Jahr abgehalten, selbst über die harten Kriegsjahre hinweg. Die Corona-Pandemie sowie die verheerenden Folgen einer Reihe von Erdbeben in Zagreb im Jahr 2020 führten dazu, dass die 60. JubiläumsAusgabe nicht wie geplant nur im Frühjahr stattfinden konnte. Stattdessen wurde sie in vier Veranstaltungsblöcken übers Jahr verteilt unter dem Titel (Re)construction – Continuum abgehalten. Mein Team und ich durften dazu ein Programm zusammenstellen, das mit  verschiedenen MusikliebhaberInnen kommunizieren, alle Generationen ansprechen und die Stadt Zagreb bereichern sollte. Es fanden Konzerte mit etablierten InterpretInnen sowie NachwuchsmusikerInnen statt. Die Zusammenarbeit mit Studierenden spielte eine wichtige Rolle. Wir boten auch zahlreiche Workshops und Installationen sowie ein Kinderprogramm an. Ein großer Teil der Formate fand online statt, was uns eine stärkere internationale Aufmerksamkeit und Nachhaltigkeit ermöglichte. Für mich war klar, dass sich ein Festival dieses Kalibers von der Masse abheben, aktuelle, brennende Themen aufgreifen und die Vielfalt der zeitgenössischen Musik akzentuieren muss. Sowohl Teilnehmende als auch BesucherInnen können sich so für das Ungewöhnliche öffnen und ihr Umfeld selbst bereichern. Das Wichtigste dabei ist immer die höchste Qualität der Aufführungen, Gleichberechtigung als Selbstverständlichkeit, aber auch die Vernetzung mit dem Publikum aus allen Altersgruppen. Als Komponistin und künstlerische Leiterin genieße ich die Vielseitigkeit dieser Aufgabe und möchte auch weiterhin in meiner Arbeit die Vielfalt hervorheben.

Margareta Ferek-Petrić (*1982, Zagreb) ist Komponistin und künstlerische Leiterin der Musikbiennale Zagreb. Ihre Musik wird als farbenreich, humorvoll und tiefgründig beschrieben.