Ist das jetzt schon Zukunft?

Für MARTIN BOROSS bietet die Pandemie eine Gelegenheit für den »kreativen Neustart im Gehirn«. Warum zeitgenössisches Theater neben guter Technik auch regionales Bewusstsein braucht, erzählt der ungarische Theatermacher im Interview mit ANITA GÓCZA.

Welche Auswirkungen hatte die Pandemie auf Ihre Arbeit? Haben Sie eine digitale Revolution erlebt?

Wir alle mussten darüber nachdenken, ob es irgendeinen Aspekt unserer Arbeit gibt, der auf den Bildschirm übertragen werden kann. Für mich lautete die Frage: Können wir etwas auf dem Bildschirm erschaffen, können wir die Leute so sehr begeistern, dass sie ein Online-Theaterereignis statt Netflix wählen würden? Ich habe das als eine Herausforderung angenommen, die neue Qualitäten, Dramaturgien und Ästhetiken hervorbringen kann. Wenn man sein Gehirn im kreativen Prozess nicht neu starten kann, führt das nur zu Kompromissen. Anfangs dachte man, dass es sich um eine vorübergehende Phase handelt, aber jetzt denken viele, dass vieles bleiben könnte.

Ob vorübergehend oder nicht, Ihre Premiere des Stücks Addressless führten Sie Mitte Januar 2022 im Rattlestick Playwrights Theatre in New York durch, als Online-Version.

Wir haben im Januar des Vorjahres entschieden, diese Aufführung online zu zeigen. Damals dachten wir nicht, dass COVID in einem Jahr noch eine Rolle spielen würde. Das Hauptargument für die Online-Version war, dass wir so ein größeres Publikum als das in Manhattan erreichen wollten. Ein weiterer ausschlaggebender Faktor war, dass die Form der Aufführung eine immersive, interaktive Erfahrung ermöglicht, genau wie bei einem Computerspiel. Daher ist das Online-Format zu hundert Prozent dafür geeignet. Während der ersten Welle der Pandemie wurde oft gesagt, dass kleine Theaterkollektive durch die Online-Streams ihr Publikum vervielfachen können. Ist das in Ihrem Fall passiert? Ja, absolut. Letztes Jahr haben wir die Aufführung Ex Cathedra für zwei Plattformen entwickelt: Wir haben sie live im Theater gezeigt und sie auch online gestreamt. So konnten wir viel mehr Menschen erreichen. Uns war es auch wichtig, dass das Theater für Menschen, die auf dem Land leben, zugänglich wird. Aus den Statistiken ging hervor, dass viele im Ausland lebende UngarInnen die Online-Show gesehen haben. Und es gab noch einen weiteren Bonus: Die Online-Version wurde Teil einer ungarischen Theater-Streaming-Plattform, auf der man aus den Aufführungen einer Vielzahl ungarischer Theater auswählen konnte. Auf diese Weise konnten viele Menschen, die zuvor keine unabhängigen, experimentellen Aufführungen besucht hatten, daran teilhaben.

Ist so eine Streaming-Plattform auch auf internationaler Ebene vorstellbar? Etwa eine Seite, die Theatererlebnisse aus ganz Europa anbietet?

Es wäre toll, wenn wir die Möglichkeit hätten, unsere Online-Aufführungen einem europäischen Publikum zu zeigen. Um auf die ungarische Plattform zurückzukommen: Wir waren die erste Gruppe, die englische Untertitel für den Stream gemacht hat. Aber man darf nicht vergessen, dass die Erstellung von Online-Versionen einer Aufführung eine Menge Geld kostet, auch wenn es sich nur um einen Livestream handelt. Dazu braucht es viele Kameras, Schnitt, Nachbearbeitung, Untertitel. Ich würde es begrüßen, wenn verschiedene europäische FördergeberInnen dies unterstützen würden.

Also erleben wir eine Umbruchszeit im Theater?

All das ist wieder eine Frage der Bewertung der gegenwärtigen Situation: Betrachte ich sie als etwas Vorläufiges oder nicht. Es könnte eine wichtige Lektion für Europa sein, zu lernen, in Zeiten der Wirtschaftskrise in kleineren Projekten zu denken, sich aktiv auf lokale PartnerInnen zu verlassen und das Publikum als MäzenInnen zu betrachten, die sich an der Arbeit des Theaters beteiligen wollen. Wir experimentieren weiter mit dem Internet. Am Ende des letzten Sommers entwickelten wir einen ortsspezifischen performativen Doku-Spaziergang (Colony – escape stories) in einer ehemaligen Tabakfabrik in Budapest. Wenn er das nächste Mal im Frühjahr gezeigt wird, werden die Leute die Möglichkeit haben, auch ein Ticket für die Online-Version zu erwerben.

Wie kann ich mir einen Online-Spaziergang von zuhause aus vorstellen?

Ich weiß, das klingt wie ein Widerspruch in sich, aber das ist es nicht. Natürlich haben wir erhebliche Änderungen vorgenommen, die Schwerpunkte werden anders sein: Die OnlineVersion wird viel stärker von einer bestimmten Geschichte bestimmt sein. Der Hauptgrund für die Schaffung dieser Alternative war die Tatsache, dass nur 25 Personen an der eigentlichen Wanderung teilnehmen können. Es gab aber immer eine größere Nachfrage. Ich bin überzeugt, dass eine Online-Version immer das Ergebnis einer erheblichen Anpassungsarbeit ist. Je mehr man den gleichen Effekt auf dem Bildschirm erreichen will, desto mehr ist das Ergebnis zum Scheitern verurteilt. Und es gibt immer Konzepte/Genres, die sich leichter auf den Bildschirm übertragen lassen.

Welche Strategien setzen Sie ein, um die ZuschauerInnen am Bildschirm zu fesseln?

Wenn man online arbeitet, muss es entweder visuell fesselnd oder interaktiv oder sehr persönlich und charakterorientiert sein, um die Form zu legitimieren. Technisch ist das zum Beispiel durch Nahaufnahmen möglich. Es schafft immer eine besondere Intimität, wenn die SchauspielerInnen in die Kamera sprechen als ob sie einem direkt in die Augen schauen. Mein Ziel ist es, eine Situation zu schaffen, in der die ZuschauerInnen zu AkteurInnen und SchöpferInnen werden und so in den Raum der Performance hineingezogen werden. Im Fall von Addressless bilden die ZuschauerInnen verschiedene miteinander konkurrierende Gruppen, die in Breakout-Räumen auf Zoom miteinander kommunizieren. Der Fortschritt des Spiels wird durch ihre Entscheidungen gesteuert. Auch der häufige Wechsel verschiedener Elemente und Genres – Animation, Grafikdesign, musikalische Effekte und Videos – spielt eine wichtige Rolle für die Wirkung. Ein weiterer bedeutender Faktor für die endgültige Form ist die Bearbeitung, da sie eine Art des Geschichtenerzählens darstellt. Die Plattform selbst ist ebenfalls wichtig für den Erfolg. Ich kann mich an ein Projekt eines ungarischen Komponisten erinnern, die Geiseloper von Samu Gryllus in Zusammenarbeit mit Brina Stinehelfer. Sie nutzten dafür eine spezielle Plattform (SpatialChat), die sich für die Bewegung im virtuellen Raum gut eignet. Wer das Theater-Erlebnis maximieren will, muss sich mit den technischen Möglichkeiten vertraut machen.

Die Pandemieerfahrung hat auch unser Gemeinschaftsgefühl beeinflusst. Können wir heute von einem gemeinsamen Europa sprechen?

Die Kluft zwischen dem Osten und dem Westen Europas ist riesig, und es gibt keine Hoffnung, aufzuholen, in dem Sinne, wie wir UngarInnen es uns vor 30 Jahren vielleicht vorgestellt haben. Aber ich denke auch, dass es von Zeit zu Zeit sinnvoll ist, die Richtung zu hinterfragen, in die wir gehen. Es scheint nicht zu funktionieren, wenn wir versuchen, eine »billige Kopie« der westlichen Welt zu werden. Ich würde es nicht als Euroskeptizismus bezeichnen, aber es wäre gut, wenn wir die Dualität von Ost und West vergessen würden. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir uns mehr auf regionale Zusammenarbeit konzentrieren sollten. Wir bereiten gerade eine Kooperation mit einem kleinen Stadttheater in Kyjiw vor, und wir haben einige Erfahrungen dieser Art in Cluj-Napoca gemacht. Wir wollen uns nicht nur auf die Creative-EuropePartnerschaften etwa mit Deutschland, Frankreich und den Niederlanden stützen. Wir stehen jetzt an einer Weggabelung. Ich hoffe wirklich, dass die wirtschaftlichen Schwierigkeiten nicht zu provinziellen, geschlossenen Gesellschaften ohne echte Zusammenarbeit und gemeinsames Denken führen werden.

(Das Interview wurde im Jänner 2022 geführt)

 

Martin Boross (*1988) ist ein ungarischer Theaterregisseur, Autor und Schauspieler. Er erwarb sein Diplom in Dramaturgie an der Universität für Theater- und Filmkunst in Budapest. Seit 2011 hat er 20 Theateraufführungen inszeniert. Seine Werke wurden von Theatern in 36 Städten in 11 Ländern aufgeführt. Aktuell leitet er das Budapester Kollektiv für zeitgenössisches Theater STEREO AKT.

Anita Gócza (*1970) arbeitete 15 Jahre lang als Radio-Reporterin und Redakteurin für die nationale Radiostation in Ungarn. Seit 2011 ist sie als freie Journalistin mit Fokus auf kulturellen Themen sowie als Dozentin für Online-und Radiojournalismus an der Budapest Metropolitan University tätig.