Verschleierte Vergangenheit

Durch die Geschichte hinweg kontrollieren Politik und Gesellschaft den Dresscode von Frauen. MELANIE JAINDL macht in ihrem Essay die Politisierung von Frauenkörpern am Thema der Verschleierung deutlich.

Die patriarchale Gesellschaft vermittelt uns Frauen oft den Eindruck, wir können es nur falsch machen. Mal tragen wir zu viel, dann wieder zu wenig. Mit Minirock zeigen wir zu viel Haut, Hijab dagegen gilt in der westlichen Welt als rückschrittlich und misogyn. Muslimas müssten – so die These rechtskonservativer Gruppen, aber auch radikaler Feminist*innen – vor ihrer eigenen Kultur geschützt werden. Dabei sind es gerade Muslimas, die in der EU am häufigsten unter islamophobischen Attacken leiden. Eine Studie des European Network Against Racism (ENAR) belegt, dass in den Jahren 2014 und 2015 über 80% der von Islamophobie betroffenen Personen in den Niederlanden und Frankreich Frauen waren, besonders jene, die sichtbare religiöse Symbole wie Hijab trugen. Die Verhüllung hat tatsächlich wenig mit Tradition oder Kultur zu tun – es ist eine individuelle religiöse Entscheidung, die sich abseits vom Islam auch im Christentum, Judentum und Hinduismus finden lässt. 

Zwänge gegen Zwang? 

Stellen Sie sich vor, im Europa des 21. Jahrhunderts umzingeln bewaffnete Männer eine Frau und zwingen sie, sich auszuziehen. Dies ist leider kein Gedankenexperiment, sondern so 2016 in Nizza geschehen. Nachdem einige französische Gemeinden einen sogenannten „Burkini-Bann“ einführten, gingen Bilder um die Welt, in denen mehrere Polizisten eine Frau am Strand dazu aufforderten, ihre Tunika auszuziehen. Unter dem Hashtag #WTFFrance kritisierten unzählige User*innen das Vorgehen der französischen Polizei. Eine libysche Nutzerin schrieb: „Gratuliere Frankreich, nun habt ihr auch eine Sittenpolizei“. Damit spielte sie auf die Doppelmoral an, dass Kleidungsvorschriften in islamischen Ländern kritisiert, bei uns aber gleichzeitig eingeführt werden. Erst Anfang des Schuljahres verbot Frankreich das Tragen von Abayas an Schulen. Es sind weite Überkleider, die die Körperkonturen verbergen. Nachdem im Jahr zuvor Crop-Tops verboten wurden, müssen wir uns wohl fragen: Welches Outfit ist zu knapp, welches zu weit für eine Minderjährige? 

Auch wenn Frankreich als Vorreiter sogenannter „Verhüllungsverbote“ in Europa gilt, ist es längst nicht das einzige europäische Land, dass diese einführte. Neun weitere EU-Länder verbieten die Verschleierung des Gesichts. Die Gesetze werden so formuliert, dass sie angeblich auf Sicherheitsfaktoren wie die Identifizierung von Personen abzielen, damit sie konform mit Nichtdiskriminierungsgesetzen sind. Öffentlich werden sie aber als „Burka-Verbot“ beworben. Diesen Gesetzen gehen Debatten über Integration und vermeintliche Frauenrechte voran. Die Politik argumentiert, dass Frauen gezwungen würden, sich zu verschleiern. Doch es ist absurd, den Zwang zu einer Kleiderordnung über einen vermeintlichen Zwang zu einem gewissen Kleidungsstück zu rechtfertigen. Nicht zuletzt sind es rein populistische Maßnahmen. Als Österreich 2017 das Vollverschleierungsverbot einführte, trugen nur rund 150 Frauen im Land eine Burka oder Nikab. 

Legitimation durch Geschichte 

Ausgrenzende Gesetze findet man auch in Bosnien und Herzegowina, einem Land mit indigener muslimischer Bevölkerung. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts war auch hier die Verschleierung muslimischer Frauen nicht ungewöhnlich. Im sozialistischen Jugoslawien dagegen wurde sie als Erbe des „Türkischen Jochs“ gesehen und mit der Verdrängung von Religiosität aus der Öffentlichkeit 1950 verboten. Erst in den 1990ern wurde die Praxis der Verschleierung revitalisiert, 1992 wurde in Bosnien und Herzegowina das Verbot aufgehoben. Dies geschah gleichzeitig mit Entstehung einer ethno-religiösen Identität der Bosniak*innen – Personen, die in Jugoslawien einfach als Muslim*innen bezeichnet wurden. Vor allem Hijab feierte ein Comeback, Nikab ist dagegen immer noch eine Randerscheinung. 

Unter Protest der Betroffenen wurde in Bosnien und Herzegowina 2016 ein Hijab-Verbot für Angestellte in Gerichten verabschiedet. Einige im Land halten das Kopftuch für einen Import des radikalen und konservativen Islams, der dem Ansehen des heimischen und als progressiver verstandenen „europäischen Islams“ schade. Sie vergessen dabei die prä-sozialistische Tradition des Gesichtsschleiers in der Region.  

Diese negative Haltung zur Verschleierung in Bosnien und Herzegowina beruht auch auf westlichen Narrativen. Seit 9/11 werden Hijab und Nikab instrumentalisiert, um vermeintlich radikalen ausländischen Einfluss zu veranschaulichen. Folglich internalisieren Länder, die eine Annäherung zur EU suchen, diese Narrative im Prozess der Europäisierung. Sie wollen zeigen, dass sie einen säkularen, progressiven Islam praktizieren – ohne Verschleierung, dafür manchmal mit Alkoholkonsum. 

Frauen in Bosnien und Herzegowina greifen nun auf historische Parallelen zurück, um ihre Praxis als genauso europäisch zu rechtfertigen. Sie zeigen alte Bilder der Baščaršija, des osmanischen Teils Sarajevos, wo im Lauf der Geschichte verschiedene Formen der Verhüllung beobachtet werden können: so zum Beispiel die Feredža im 19. Jahrhundert, die vor allem von wohlhabenden Frauen in Städten getragen wurde, oder der Zar, eine modernere und modischere Form der Verhüllung, die einige Frauen ab dem 20. Jahrhundert bis zum Verbot im Sozialismus 1950 trugen. Auch wenn auf kulturelle Legitimation gesetzt wird, ist auch in Bosnien und Herzegowina Verschleierung eine persönliche Entscheidung. Gerade in Gesellschaften, wo die Praxis eine Minderheit darstellt, unterstreicht sie die Wahlfreiheit von Frauen, die sich für sie entscheiden. 

Frauenkörper als Politikum 

Kleidungsvorschriften wie das Ver- und Gebot der Verschleierung, aber auch Abtreibungsverbote oder Beschäftigung mit unbezahlter Pflegearbeit zeigen: Frauenkörper werden ständig politisiert, kontrolliert und okkupiert. Die radikalen Politiken gegen unsere Körper und unser Aussehen führen schließlich aber auch dazu, dass wir gewisse Praktiken umso eher anwenden und als Protest nach außen tragen. Feministinnen zeigen sich ohne BH oder gleich ohne Shirt, um ihre Brüste zu de-sexualisieren und zu normalisieren. Denn spätestens nach Eintritt der Pubertät werden unsere Körper objektifiziert. Andere Frauen greifen mitunter auch deswegen lieber zu weiten Gewändern. Und die Zahl der Frauen, die Nikab tragen, stieg nach Einführung entsprechender Verbote sogar teilweise an. Das Symbol der Unterdrückung wird so zum exakten Gegenteil: Es steht für Individualismus, Non-konformismus, Selbstbestimmung und Protest. Tatsächlich sind es die Politiker*innen, die Muslimas unterdrücken und zu Dresscodes zwingen – denn vor der Einführung entsprechender Verbote fragte sie niemand nach ihren Beweggründen. Diejenigen, die nicht bereit sind, Geldstrafen zu zahlen oder sich freizügiger zu zeigen, werden so in ihre eigenen vier Wände verbannt. 

In der Vergangenheit und Gegenwart finden wir immer wieder Versuche, das Erscheinungsbild von Frauen zu regulieren – ob es nun das Verlangen oder das Verbot eines bestimmten Dresscodes ist. Doch wenn Frauen, wie so oft, schon auf ihr Äußeres reduziert werden, sollten sie auch die Freiheit haben, sich durch Kleidung so auszudrücken, wie sie es wollen. 

Hijab, Burka, Nikab? 

Hijab ist ein Tuch, dass Haare, Hals und Dekolleté bedeckt. 

Nikab bedeckt zusätzlich das Gesicht, nur die Augenpartie bleibt frei. 

Burka dient der Ganzkörperverschleierung, auch die Augen werden mit einem textilen Gitter oder transparenten Schleier bedeckt. 

 

Melanie Jaindl ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am IDM. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen den Westbalkan, Migration und Asyl, intersektionaler Feminismus und soziale (Un-)Gerechtigkeit.