Selbstbestimmung in Österreich: eine Zeitreise durch 70 Jahre

Welche Rechte haben wir in den letzten 70 Jahren gewonnen und welche wurden uns wieder genommen? Wie selbstbestimmt können wir in Österreich im Vergleich zu anderen europäischen Ländern leben? REBECCA THORNE gibt einen Überblick der wichtigsten Meilensteine in den Bereichen Staatlichkeit, Minderheitenschutz, Migration, Inklusion, Frauen- und LGBTQIA+ Rechte.

1955: Österreich erhält rechtliche Souveränität und erklärt immerwährende Neutralität. Im Staatsvertrag werden auch die Rechte der kroatischen und slowenischen Volksgruppen garantiert. Doch es kommt zu Ausschreitungen: Beim Ortstafelsturm 1972 werden slowenische Ortstafeln in Kärnten durch Vandalismus und Gewaltandrohung verhindert. Der Streit wird erst 2011 gelöst. 

1957: Frauen dürfen ein eigenes Bankkonto eröffnen. In Frankreich wurde dieser Schritt in Richtung Unabhängigkeit schon 1881 gemacht. 

1971: Homosexualität wird legalisiert. Auch wenn heute in Polen traditionell katholische Werte sehr wichtig sind, zeigte es sich mit der Legalisierung 1932 als Vordenker. Andere Vorreiter sind die Tschechoslowakei und Ungarn 1962 und Bulgarien 1968. Heute sehen wir in Ungarn allerdings rückschrittliche Tendenzen. Seit 2021 wird dort „die Darstellung und Propagierung der Homosexualität“ gesetzlich verboten. 

1975: Mein Körper, meine Entscheidung! Abtreibung innerhalb der ersten drei Schwangerschaftsmonate wird strafrechtlich nicht länger verfolgt; legal ist Abtreibung in Österreich bis heute nicht. Jugoslawien gestattete Abtreibung bereits 1952, Ungarn 1956. Zuletzt schränkte Polen die Abtreibungsrechte erheblich ein. 

1976: Das Volksgruppengesetz sieht die Einrichtung von Volksgruppenbeiräten zur Beratung der Bundesregierung vor, doch erst in den 1990ern werden sie umgesetzt. Kroatien und Slowenien haben seit 1991 fixe Sitze für Minderheiten im Parlament, in Polen und Bulgarien gibt es keine derartigen Vertretungen. 

1979: Laut dem Gleichbehandlungsgesetz sollen Frauen bei gleicher Arbeit genauso viel verdienen wie Männer. Allerdings liegt der Gender Pay Gap noch 2022 bei 12,4%. Statistisch gesehen arbeiten Frauen somit 46 Kalendertage im Jahr unbezahlt. Rumänien weist mit 5% einen der niedrigsten Verdienstunterschiede zwischen den Geschlechtern in Europa auf. 

1983: Nach dem Personenstandsgesetzes kann man den eigenen Geschlechtseintrag ändern. Obwohl eine Operation zur Anpassung der Genitalien rechtlich nicht erforderlich war, wurde es in der Praxis noch bis 2009 verlangt. 

1989: Ungarn ist der erste Ostblockstaat, der im Frühjahr den Grenzzaun zu Österreich schrittweise abbaut. Immer mehr Menschen aus dem Osten fliehen über Ungarn und Österreich in den Westen, bis im Herbst der Eiserne Vorhang fällt. 

1990: Johanna Dohnal (SPÖ) wird erste Frauenministerin. Sie kämpfte aktiv für die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, Kinderbetreuungseinrichtungen, Schutz vor Gewalt an Frauen sowie Frauenquoten. Erst seit 2012 existiert die sogenannte „Gender Equality Commission“ auf EU-Ebene. 

1993: Durch die Integration behinderter Kinder in die Grundschulen sollen Chancengerechtigkeit und soziale Inklusion gefördert werden, 1997 kommt die entsprechende Regelung für die Sekundarstufe. Bis heute haben in Europa aber immer noch Millionen Kinder mit Behinderung keinen Zugang zu Bildung. 

1995:  Österreich tritt der EU bei. 1997 folgt der Schengen-Beitritt. Schrittweise ziehen die Länder Mittel- und Osteuropas nach. Der Westbalkan befindet sich seit 20 Jahren im EU-„Warteraum“. 

1996: „Eine Parade, die auch ein Fest ist, die auch eine Party ist“, (Andreas Brunner, Mitorganisator): Die erste Regenbogenparade rund um den Wiener Ring findet statt. 1999 hält Belarus die erste Pride-Parade östlich des ehemaligen Eisernen Vorhangs ab. Mittlerweile wird die queere Community dort wieder verdrängt. 

1997: Mit der Antidiskriminierungsbestimmung wird die Gleichbehandlung behinderter Menschen in der Verfassung verankert. 2001 wird dann auch die fremdbestimmte Sterilisation gesetzlich abgeschafft – doch bis heute nicht unter Strafe gestellt. Nur in neun EU-Ländern ist die Zwangssterilisation von Menschen mit Behinderung strafbar. 

2004: Legalisiert aber immer noch oft verpönt: Das Verbot der Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung soll dem entgegenwirken. 

2005: Die Österreichische Gebärdensprache wird auf verfassungsrechtlicher Ebene anerkannt. Seit 2011 gehört auch Ungarn zu den vier EU-Ländern, die die Gebärdensprache in der Verfassung verankert haben. 

2006: Das Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz tritt in Kraft. Mittlerweile gibt es auch auf EU-Ebene die „EU-Strategie für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (2021-2030)“. Nichtsdestotrotz bleibt die Situation in vielen Ländern mangelhaft. So sind in Kroatien nur 37% der Menschen mit Behinderung berufstätig, im Vergleich zum EU-Durchschnitt von 50%. 

2010: Nachdem gleichgeschlechtliche Paare jahrelang nach Dänemark gingen, ist es für sie nun auch in Österreich möglich, eine Lebenspartnerschaft einzugehen. Trotz der aktuellen Homophobie unter Viktor Orbán, können Lesben und Schwule in Ungarn schon 1996 ihr gegenseitiges Versprechen der Liebe und Treue unterzeichnen. 

2015: Als Reaktion auf den „langen Sommer der Migration“ werden teilweise Grenzkontrollen zu EU-Nachbarn eingeführt. Insbesondere während der Corona-Pandemie im Jahr 2020 wurden die Kontrollen an österreichischen Grenzen wieder verschärft. 2022 hat der Europäische Gerichtshof diese Grenzkontrollen als unrechtmäßig erklärt. 

2016: An allen öffentlichen Einrichtungen in Österreich müssen barrierefreie Angebote verfügbar sein. Aufgrund des „European Accessibility Act“ ist dies seit 2019 in allen EU-Mitgliedsstaaten erforderlich. Die Europäische Kommission verleiht jährlich den „Access City Award“ – 2020 wurde Warschau für städtische Barrierefreiheit ausgezeichnet.  

2019: Die Ehe wird für homosexuelle Paare geöffnet Drei Jahre zuvor durften gleichgeschlechtliche Paare schon Kinder adoptieren. Als erstes postkommunistisches Land in Europa ist die gleichgeschlechtliche Ehe seit 2022 auch in Slowenien möglich. 

 

Rebecca Thorne ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am IDM. Ihre Forschungsinteressen in der Literatur und Geschichte hinter dem Eisernen Vorhang führten sie von England über Tschechien und Sibirien nach Österreich.