Wie ein Fluss zur Wüste wurde

Das Wasser des Luma-Flusses in Albanien fließt nicht mehr in seinem natürlichen Flussbett, sondern durch Rohre. Wasserkraftwerke verwandelten das Naturparadies in eine trockene Schlucht. In seinem Gastbeitrag schreibt GËZIM HILAJ über die traurige Transformation seines Heimatstromes.

Der Text wurde in der Ausgabe 2/2023 von Info Europa veröffentlicht. Die vollständige Ausgabe ist hier zu lesen.

Der Weg zum Dorf Borje im Norden Albaniens führt über eine holprige Straße. Obwohl hier investiert wurde, spüren die Einheimischen davon nichts. »Die meisten sind in andere Länder geflohen. In Borje wurde ein Wasserkraftwerk gebaut, doch die Einwohner*innen haben kein Trinkwasser. Wir haben auch Probleme mit der Stromversorgung«, erzählt Krenar Bilali. Er ist einer der wenigen, die geblieben sind und beklagt die erheblichen Summen, die in Wasserkraftwerke am Fluss Luma gesteckt werden, während für Infrastrukturprojekte nichts übrig bleibt.

Die Luma durchfließt die Naturparks Korab-Koritnik und Vana-Schlucht. Allein in Letzterem wurden zwischen 2012 und 2016 zehn Wasserkraftwerke gebaut und fünf weitere genehmigt. Diese Anlagen ermöglichen keine gleichmäßige Strömung. Stattdessen fließt Wasser von einem Damm zum nächsten. So trocknet das Flussbett komplett aus.

Der Fall des Luma-Flusses zeigt, dass Albanien Rückschritte beim Umweltschutz macht. Doch in Fragen Wasserkraft steht das Land regional nicht alleine da. Im Jahr 2022 waren an Flüssen des Balkans 1726 Wasserkraftwerke in Betrieb und 108 befanden sich im Bau. Künftig sind 3281 weitere geplant – 404 davon in Albanien. Damit steht Albanien an dritter Stelle hinter Serbien und Griechenland. So wie am Luma-Fluss leidet die gesamte Region unter der großen Anzahl von Kleinstaudämmen.

Großer Schaden, wenig Leistung

Albanien erzeugt Strom fast ausschließlich aus Wasserkraft. Und obwohl Wasserkraftwerke als grüne Alternative zu umweltschädlichen Kohlekraftwerken gelten, trifft das nur eingeschränkt auf Kleinkraftwerke zu. Olsi Nika, Direktor der NGO EcoAlbania, erklärt: »Ein gesamter Fluss wird zerstört für extrem wenig Energiegewinn.« Nach Angaben der Energieregulierungsbehörde deckten alle kleinen Wasserkraftwerke im Jahr 2022, darunter das in Borje, nur 24,3% des nationalen Energiebedarfs. Ein Teil dieser Kraftwerke verwandelte den Fluss Luma in eine trockene Wüste. Das große Problem bei der Luma ist ihre Fragmentierung. »Durch sie hat das Ökosystem die natürliche Ordnung verloren, da keine Längsverbindung mehr besteht«, sagt Nika. Die Luma sei kein Fluss mehr, sondern eine regulierte Wasserkraftkaskade. Die Konzessionsgesellschaften würden sich nicht an die Verträge halten, die eine Aufrechterhaltung des ökologischen Durchflusses vorschreiben. Die biologischen Korridore in den Dämmen, die Fischen und anderen Lebewesen ein sicheres Passieren erlauben sollten, würden nicht genug Wasser führen.

Die Nationale Agentur für Schutzgebiete und Umweltverträglichkeitsprüfungen hatte sich gegen den Bau des Wasserkraftwerks in Borje ausgesprochen. Sie teilt die Auffassung, dass dieses Gebiet »wertvolle Lebensräume und Arten« beheimate und ein Kraftwerk »negative Auswirkungen auf die Umwelt hätte«. In der Umweltverträglichkeitsprüfung heißt es, dass es in dem Naturpark verboten ist, den natürlichen Zustand von Wasserreserven, Quellen, Seen und Feuchtgebieten zu verändern. Nichtsdestotrotz wurde das Wasserkraftwerk gebaut.

Schwindender Protest

Die Bewohner*innen der Gebiete, durch die sich Nebenarme der Luma winden, wehrten sich jahrelang gegen den Bau von Wasserkraftwerken. Doch in den Dörfern Topojan und Borje scheinen manche nun kapituliert zu haben. »Die Zeit über Wasserkraftwerke zu sprechen ist vorbei. Wir haben 2018 in Tirana gegen ihren Bau protestiert. Jetzt können wir nichts mehr tun. Wir können nicht mit den Mächtigen verhandeln«, sagt ein Einwohner von Topojan, der anonym bleiben möchte, da er negative Konsequenzen wegen seiner Meinungsäußerung fürchtet.

Die Agentur für Territoriale Entwicklung genehmigte 2018 fünf neue Luma-Kraftwerke. Damals leisteten die Anrainer*innen Widerstand. Während des Wahlkampfes 2021 versprach der ehemalige Bürgermeister der nächstgelegenen Stadt Kukës, Safet Gjici, dass diese Kraftwerke nicht gebaut werden – bis jetzt hält er sein Wort. Es ist ein kleiner Erfolg, auch wenn es keine endgültige Entscheidung ist. Der Bewohner Topojans meint skeptisch: »Niemand wurde zu den bereits gebauten Wasserkraftwerken befragt. Selbst wenn der Staat beschließt, zwanzig weitere Kraftwerke zu bauen, werden wir erst davon erfahren, wenn die ersten Bagger anrollen.« Denn das letzte Wort wird auf nationaler Ebene gesprochen, lokale Regierungen hätten wenig bis gar kein Mitspracherecht.

Warnung von oben

Am 19. Juli 2022 startete die EU die Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien. Eines der 35 Verhandlungskapitel hat den Schwerpunkt Umwelt. Der aquis communautaire in diesem Bereich umfasst rund 300 Rechtsakte. Im Länderbericht aus 2022 schreibt die Europäische Kommission: »Die Auswirkungen strategischer Investitionen auf die biologische Vielfalt und den Naturschutz erfordern Aufmerksamkeit.« In den Bereichen Wasserwirtschaft, Chemikalien und Umweltkriminalität sieht sie nur begrenzte Fortschritte. Bereits 2016 hat das Europäische Parlament die albanische Regierung für die Planung von Wasserkraftprojekten kritisiert und sie aufgefordert, mehr Rücksicht auf Schutzgebiete und andere sensible Naturräume zu nehmen. Damals ging es vor allem um den Fluss Vjosa. Dieser letzte große Wildfluss Europas wurde im März 2023 zum Nationalpark erklärt.

Toter Fluss

Auch die Luma war einst ein Naturparadies. Sie beheimatete 26 Fischarten, darunter Forellen, Karpfen und Welse. Der Biologe Arben Palushi hat wiederholt Expeditionen zum Fluss unternommen. Sein Fazit: »Jetzt, wo das Wasser von Rohr zu Rohr fließt, gibt es diese Artenvielfalt nicht mehr. Der Fluss wurde steril.« Trotz der Bemühungen, Überlebensgruben zu bauen, sei es Palushi und anderen Expert*innen nicht gelungen, die endemischen Lebewesen des Flusses zu retten. Palushi zufolge fügen die Konzessionsunternehmen der Luma Chlor zu, um die Rohre von Algen zu reinigen. Diese würden nämlich die Energieerzeugung durch Reibung verringern. »Sie haben damit die Fische getötet. Und sie versuchen nicht einmal mehr, die toten Fische aus dem Flussbett zu entfernen«, ist Palushi empört.

Die Nationale Inspektion für Territoriale Verteidigung (Inspektorati Kombëtar i Mbrojtjes së Territorit, IKMT) ist zuständig für Überprüfungen in diesen Wasserkraftwerken. Erst nach mehreren Anfragen zum Zustand dieser Anlagen und den Auswirkungen auf das Ökosystem führte sie die notwendigen Inspektionen durch. Ihren Angaben nach betrieben die Konzessionsunternehmen zwei Kraftwerke, obwohl sie die Anforderungen der Umweltgenehmigung nicht erfüllten. Nach zwei Jahren und erneutem Auskunftsersuchen in 2023 erhielt ich noch immer keine Antwort darauf, ob die Behörde diese zwei Unternehmen bestrafte.

IKMT Kukës erklärte, dass einige Luma-Kraftwerke 100% des Flusswassers nutzen, wodurch das Flussbett in diesem Abschnitt austrocknet. Trotz dieser Erklärung gab IKMT nicht bekannt, was mit den Konzessionären geschieht, die das Ökosystem irreparabel schädigten. Und trotz der Behauptung, dass ein Teil der Investitionen in die vertraglichen Prognosen und Umweltverpflichtungen fließt, zeigt ein Besuch der Mündung des Flusses in die Weiße Drin ein völlig anderes Bild: ein karges Flussbett mit Steinen, über die seit Jahren kein Wasser mehr floss, nicht mal im Winter. Das Wasser, das früher in der Luma rauschte, einem der größten Flüsse der Region, wird heute durch Pipelines geleitet, um Strom zu erzeugen. Währenddessen leiden die Anrainer*innen noch immer unter Stromausfällen. Das Leben der Bewohner*innen entlang dieses Flusses hat sich durch die Wasserkraftwerke nicht verbessert und die Lebewesen dieses Ökosystems gehören der Vergangenheit an.

 

Gëzim Hilaj ist Journalist und arbeitet für den albanischen öffentlich-rechtlichen Fernsehsender RTSH. In Albanien gewann er einen Fact-Checking Award und für seine Recherche über Wasserkraftwerke wurde er von der Thomson Foundation als einer der besten Nachwuchsjournalist*innen ausgezeichnet.