Insignien der (Ohn)Macht

Viktor Orbán spielt erneut mit seinem Veto auf EU-Ebene gegen die Zeit. Daniela Apaydin hält die EU-Taktik aus Zuckerbrot und Peitsche allerdings für kein nachhaltiges Mittel, um die verfahrene Situation mit Ungarns Ministerpräsidenten zu lösen. Das Problem dahinter ist wie immer viel komplizierter. Was das mit uns selbst und dem Nikolaus zu tun hat, erklärt sie in ihrem Kommentar.

Hin und wieder passiert es dann doch. Die große Politik und das Leben der kleinen Leute prallen so stark aufeinander, dass sie miteinander verschmelzen. Und das mitten im Wohnzimmer. Dann gelingt es, dass die großen Themen auf den gedeckten Festtagstischen landen und dort hin und her gewälzt werden, trotz all der Frustrationen mit der Politik oder auch gerade weil unverschämte und korrupte Politiker*innen an diesem kalten Dezembernachmittag das Blut schnell aufkochen lassen. Gestern war so ein Moment.

Zwischen zerquetschten Mandarinen, halbnackten Schokonikoläusen und verschmierten Kinderfingern saß der ungarische Ministerpräsident und wurde von den umhersitzenden Familienmitgliedern herumgereicht, analysiert und kommentiert. Ich saß unter ihnen und hatte noch das Ö1-Interview meiner ehemaligen Professorin Ellen Bos (Andrássy Universität) im Ohr. Sie wurde bei der Anrufsendung von einem Zuhörer gefragt, ob die EU noch Handschlagqualität habe, wenn laufend neue Kritikpunkte an Orbáns Politik dazukommen würden und dadurch Ungarns Bemühungen, diese zu erfüllen, nicht anerkannt werden.

Hintergrund der Debatte war das gestrige Treffen der EU-Finanzminister*innen, bei dem sie darüber entscheiden sollten, der Empfehlung der Kommission zu folgen und Fördermittel für Ungarn in Höhe von 7,5 Milliarden Euro einzufrieren. Diese hatte zuvor festgestellt, dass die Regierung in Budapest die bisher identifizierten Schwachpunkte im Rechtstaat nur unzureichend durch notwendige Reformen ausgebessert habe. Dabei ging es unter anderem um die Forderung nach der Schaffung einer Kontrollbehörde, der Ungarn zwar nachkam, die aber derzeit nach Ansicht vieler Expert*innen politisch abhängig sei. Zu den 17 Punkten zur Verbesserung der Rechtsstaatlichkeit kommen noch Maßnahmen, die garantieren sollen, dass die umfassenden EU-Förderungen aus dem Wiederaufbaufonds unter kontrollierten und fairen Bedingungen verteilt werden und nicht in den Taschen korrupter Politiker*innen und regierungsnaher Unternehmer*innen landen.

„Mit Zuckerbrot und Peitsche gegen Ungarn“, titelte daraufhin das Ö1-Magazin – eine Formulierung, die uns von der EU-Politik dort in Brüssel schnell zurück ins Wohnzimmer transportiert. Hier wird nun bei Kaffee und frisch gebackenen Keksen diskutiert, warum einer von 27 Regierungschef*innen die ganze Union in Geiselhaft halten könne. Ob und welche Bestrafung angemessen sei. Denn Viktor Orbán blockiert mit seinem Veto dringende Entscheidungen, u.a. jene über weitere Hilfen für die Ukraine im Umfang von 13,3 Milliarden Euro. Andere argumentieren, dass es doch Orbáns Recht sei, eine Entscheidung nicht mitzutragen und die Vorwürfe der mangelnden Rechtsstaatlichkeit übertrieben seien. So hätten doch auch viele andere EU-Mitgliedsstaaten Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz.

Es dauert auch nicht lange, bis die jüngsten Korruptionsvorwürfe in Österreich genannt werden und ein allgemeines Kopfschütteln einsetzt. Es ginge hierzulande mittlerweile so weit, dass Werbeagenturen ihre Inspirationen aus der österreichischen Innenpolitik schöpfen könnten.

Nachdem alle den Werbespot des Möbelhauses gesichtet hatten, kommt das Gespräch doch wieder auf Ungarn und die Rolle der EU zurück. Zwischen den verschwindenden Vanillekipferln taucht ein Widerspruch nach dem anderen auf. Warum ist die EU nur so unfähig und greift nicht ein, wenn ein Regierungschef im Nachbarland versucht, Putins Politik nachzuahmen? Kann die EU nicht eingreifen, wenn kritische Lehrer*innen gekündigt und Geschichtsbücher umgeschrieben werden? Zugleich wird festgestellt, dass die EU doch ohnehin nicht dazu da sei, über die Köpfe nationaler Parlamente und Regierungen hinweg Regeln aufzustellen.

War es nicht blauäugig zu denken, die unterschiedlichen Länder dieses Kontinents könnten sich nach 1989 so weit angleichen, dass gleiche Chancen in Europa vorherrschen? Dass sie alle demokratisch werden und die Korruption verschwindet? Sind nicht sowieso alle Politiker*innen korrupt, wenn sie die Gelegenheit dazu bekommen? Und wurden die Grenzen nicht viel zu früh geöffnet?  Wie immer bei solchen Diskussionen an Küchen- oder Wohnzimmertischen, wo unterschiedliche Meinungen, Wissensstände und Erfahrungen aufeinanderprallen, gerät das eigentliche Thema schnell aus den Augen. Zu komplex erscheinen die Probleme, zu verfahren „das System“, zu hilflos und unbedeutend fühlen sich die Diskutant*innen, die versuchen, die Sache irgendwie zu ordnen.

Gut, dass es Rituale und Traditionen gibt, die seit jeher unseren Alltag ordnen und unser Zeitempfinden prägen. Auch an diesem Nachmittag betritt wieder der weißbärtige Mann und seine grimmigen Begleiter das Wohnzimmer, begleitet vom obligatorischen Schauer über die Rücken der Kinder. Für viele ist es auch heute noch ein wichtiges Ritual, das die Generationen miteinander verbindet: Ein beeindruckend großer, scheinbar allwissender Mann liest aus seinem roten Buch die guten und schlechten Taten vor. Schuldbewusste, doch auch neugierige Augen blitzen zwischen den Armen und Beinen der Erwachsenen hervor. Was, wenn die schlechten Taten letztlich überwiegen? Was, wenn in dem großen Korb dieses Jahr kein Geschenk wartet?

Als Kind hinterfragen wir nicht, woher dieser Mann seine Macht nimmt, warum er über Gutes und Schlechtes, Belohnung und Bestrafung entscheiden kann. Er macht es einfach und alle Erwachsenen rundherum scheinen damit einverstanden zu sein. Im Gegenteil, die eigenen Eltern nutzen die Macht des Nikolaus oft schon Tage davor, um Streitigkeiten zwischen den Geschwistern rascher zu beenden und aufgeräumte Kinderzimmer einzufordern.

Es ist eine dieser prägenden Erfahrungen, wonach es in dieser Welt Kräfte gibt, die einen für gute Taten belohnen und schlechte bestrafen. Am Ende wird aber doch immer ein Auge zugedrückt. Im Scherz nennen wir das dann eine typisch österreichische Tradition. Die Gestalt einer gnädigen Autorität prägt unser Weltbild in vielen Bereichen und wird durch die religiöse Erziehung oft noch verstärkt. Dieses Weltbild beeinflusst unser Denken, selbst wenn wir längst keinen Kirchenbeitrag mehr bezahlen.

Betrachten wir den aktuellen Konflikt zwischen der EU und Viktor Orbán aus einem traditionellen Gesichtspunkt, dann wäre die Lösung vielleicht ganz einfach: Wir übergeben die Macht der Entscheidung über Belohnung und Bestrafung eines europäischen enfant terrible der Autorität der Europäischen Kommission. Wir erwarten, dass sie alles überblickt, fair entscheidet, letztlich aber auch ein Auge zudrückt, bevor es wirklich hart auf hart kommt.

Doch in der Realität ist weder der Nikolaus noch die EU allmächtig, allwissend und unfehlbar. Sie ist voller Schwächen und Widersprüche, die sich nicht einfach von selbst auflösen werden. Viktor Orbán nimmt mit seinem Spiel auf Zeit hohe Kosten auf sich. Nicht getroffene Entscheidungen kosten in der Ukraine Menschenleben. Doch auch in Ungarn werden die Fördergelder dringend gebraucht. Orbáns vermeintlicher Gegenspieler ist sein eigenes Spiegelbild, denn Ungarn sitzt bei diesen Entscheidungen mit am Tisch.

Die Macht wird in Europa geteilt, weshalb sich auch kein Regierungschef für immer der Verantwortung entziehen kann. Es geht bei dieser Frage nicht um Belohnung oder Bestrafung. Wir hier am Wohnzimmertisch müssen uns von der Vorstellung trennen, dass Europas Zukunft von einer Politik aus Zuckerbrot und Peitschen gestaltet wird. Wir gemeinsam, nicht die Kommission oder die Verträge, bestimmen letztlich die Grenze zwischen Gut und Böse. Wir müssen die Regeln im großen roten Buch selbst schreiben und ein System gestalten, dass die Pflichten und Verantwortung fair verteilt. Dafür müssen wir uns von einem Politik-Verständnis lösen, das alte Bilder fortschreibt.

Ich war stolz als meine Nichte den Nikolaus-Stab tapfer in die Hand nahm und sich von den düsteren Gestalten neben ihr nicht einschüchtern ließ. Hin und wieder sollten wir uns auch als Erwachsene ein Beispiel nehmen und die „große Politik“ selbst in die Hand nehmen – etwa indem wir uns mehr für Europa und seine Menschen (und Politiker*innen) interessieren und uns trotz der Komplexität darüber informieren. Denn auch wenn wir uns für aufgeklärt halten mögen, unsere Demokratie hat noch viele Schritte der Entzauberung vor sich. Die Entzauberung des Krampus in Budapest ist einer davon.

 

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