Marietta Le – Ein Gesicht der neuen Stadtpolitik in Budapest
Seit 2019 wird die ungarische Hauptstadt von einem grün-liberalen Bürgermeister regiert. Wie sich der politische Wechsel in der Stadtverwaltung widerspiegelt, veranschaulicht der Politikwissenschaftler Tobias SPÖRI anhand der Veränderungskraft von QuereinsteigerInnen wie Marietta Le.
Seit den Lokalwahlen im Herbst 2019 hat sich einiges in der ungarischen Hauptstadt Budapest gewandelt. Der bis dahin regierende István Tarlós (Fidesz) wurde nach zwei Amtsperioden in einer knappen Wahl von Gergely Karácsony abgelöst. Karácsony trat als Spitzenkandidat einer »Anti-Fidesz«-Koalition an, die neben seiner grünen Partei »Dialog für Ungarn« auch eine Reihe an liberalen, grünen und sozialdemokratischen Parteien umfasst. Um einen erneuten Sieg von Fidesz zu verhindern, verzichtete sogar die extrem rechte Jobbik-Partei auf die Nominierung einer eigenen Person und trug somit zum Erfolg von Karácsony bei. Karácsony erzielte bei der Wahl 50,9 % der Stimmen. Amtsinhaber Tarlós landete mit 44,1 % auf dem zweiten Platz.
»Ein besseres, offeneres Budapest«
Parteiübergreifende Koalitionen gegen die auf nationaler Ebene regierende Fidesz sind im immer autoritärer werdenden Ungarn keine Seltenheit mehr. Vielmehr ist es bemerkenswert, was sich seit der Wahl 2019 in Budapest demokratiepolitisch getan hat. Die Stadt setzt nun vermehrt auf die Beteiligung der Bevölkerung und implementiert eine Reihe neuer demokratiepolitischer Projekte, wie etwa einen Klimarat oder einen BürgerInnenhaushalt. Mitangestoßen hat das Marietta Le. Sie ist seit Jänner 2020 die Beraterin des Bürgermeisters zum Thema politische Partizipation und leitet seit November 2020 auch die entsprechende Abteilung.
Ein Gesicht des Wandels
Marietta Le steht für eine neue Generation von Menschen, die seit der Wahl 2019 in der städtischen Verwaltung von Budapest arbeiten. Sie studierte Kommunikationswissenschaft an der Budapester ELTE-Universität sowie Soziologie und Sozialanthropologie an der Central European University, die mittlerweile von Ungarn nach Wien zwangsübersiedelt ist. Marietta Le hat keine klassische Karriere in der Verwaltung hinter sich, sondern ist als Quereinsteigerin in die Stadtverwaltung gekommen. Nach einer kürzeren Periode als Journalistin gründete sie 2012 das Online-Tool Járókelő (zu deutsch: FußgängerIn). Dieses ermöglicht der Bevölkerung Straßenschäden zu fotografieren und den Behörden umgehend zu melden. Durch diese Art der digitalen Beteiligung, auch Crowdsourcing genannt, können die BürgerInnen selbst dazu beitragen, Mängel in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft zu beheben. Zudem arbeitete Le auch in Großbritannien für Unternehmen, die auf ähnliche Aspekte sogenannter Schwarmintelligenz, digitaler Kommunikation und auf die direkte Zusammenarbeit von Bevölkerung und Behörden setzen.
Demokratische Innovationen in Budapest
Ihre Erfahrungen und Kompetenzen aus dem digitalen Aktivismus und der urbanen Stadtplanung setzt Le nun für die Stadt Budapest ein. Diese hat sich nach der Wahl 2019 das Ziel gesetzt, sich mehr um die Bedürfnisse der Bevölkerung zu kümmern, deren Anliegen aktiv anzuhören und die Stadt generell »klimafit« zu machen. So ist es wenig überraschend, dass eines der ersten politischen Projekte des grünen Bürgermeisters die Errichtung von neuen Radwegen in der Stadt war. Dies war jedoch erst der Auftakt, um die Stadt für viele lebenswerter zu machen. Wenn Marietta Le über ihre Arbeit spricht, fällt oft der Begriff »partizipative Wende«, die sie stark selbst miteingeleitet hat. Um über die lokalen Auswirkungen des Klimawandels zu debattieren und auch Lösungsvorschläge zu finden, wurde ein Klimarat bestehend aus BewohnerInnen Budapests eingerichtet. Dafür versendete die Stadt 10.000 Einladungen an repräsentativ ausgewählte BewohnerInnen der Stadt. Von diesen meldeten 350 ihr Interesse an der Mitarbeit am Klimarat an. 50 Personen wurden schließlich von der Stadt ausgewählt. Gemeinsam debattierten sie dann Probleme und arbeiteten an Lösungen, so dass sich die Bevölkerung direkt an der Klimapolitik der Stadt beteiligen konnte. Ein zweites städtisches Projekt zur Förderung politischer Beteiligung bildet die Einrichtung eines Haushaltes für BürgerInnen. Dieser umfasst für die Jahre 2020 und 2021 eine Billion Forint, was etwa 2,76 Millionen Euro entspricht. Über diesen Haushalt können die BürgerInnen in gewisser Weise selbst verfügen: In einer Einreichungsphase gingen fast 700 Vorschläge von Seiten der Bevölkerung ein. Im Mai 2021 wurde dann über knapp 300 Vorschläge, die die Kriterien erfüllten, online abgestimmt. Viele Vorschläge betrafen städtische Infrastrukturprojekte wie öffentliche WCs, Zebrastreifen, Radwege und die Begrünung der Stadt.
Motivation für den Wandel
Marietta Le ist mit den bisherigen Erfolgen noch nicht zufrieden, viele weitere Projekte mit direkter Beteiligung der Bevölkerung sollen folgen. Die Unzufriedenheit liegt einerseits an der CoronaPandemie, die den Plänen einen Strich durch die Rechnung gemacht hat, da sich die BürgerInnenräte physisch treffen sollten, um besser debattieren zu können. Anderseits ist Marietta Le unzufrieden, da sie noch viele Baustellen in der Stadtverwaltung sieht, wie beispielsweise die NutzerInnen-Freundlichkeit der Homepage der Stadt. Gemeinsam mit Bürgermeister Karácsony und der Stadtverwaltung verfolgt sie das Ziel, die Stadt weiter umzugestalten, neue Formate auszuprobieren und somit auch das Vertrauen der Bevölkerung wiederherzustellen. Dieses ist in vielen zentralund osteuropäischen Staaten geringer ausgeprägt als etwa in Österreich. Über die konkreten Auswirkungen der neuen Beteiligungsformate auf das Vertrauen der Bevölkerung kann das zuständige Team noch keine Auskunft geben, da die wissenschaftlichen Evaluationen noch laufen. Sie berichtet aber über viele positiven Rückmeldungen aus der Bevölkerung, die freudig überrascht sind, sich an der Stadtpolitik beteiligen zu können und auch von der Stadt gehört zu werden. An Motivation und Ideen mangelt es Marietta Le nicht. Sie arbeite für die Menschen Budapests, betonte sie in einem Gastvortrag an der Universität Wien im April. Wer ihr zuhört, merkt, dass es sich in ihrem Fall um keine leere Floskel handelt.
Video-Aufzeichnung der IPW-Lecture »Budapest’s Vision of Citizen Engagement«. M. Le zu Gast am Institut für Politikwissenschaften der Universität Wien.
Dr. Tobias Spöri ist Mitglied der Forschungsgruppe Osteuropastudien der Universität Wien und lehrt am dortigen Institut für Politikwissenschaft zu Demokratisierung, politischer Partizipation sowie Zentralund Osteuropa. Er forscht zudem als Research Fellow am Berliner Think Tank d|part und ist in verschiedenen Projekten zu Demokratie und politischer Bildung aktiv.